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1.1 Mythologische Angstbewältigung durch Personifikation von Naturgewalten
ОглавлениеAm Beginn jeglicher Mythologie stehen komplexe Schöpfungsmythen, welche die Entstehung der Welt aus ihren unterschiedlichen Elementen (Erde, Luft, Wasser und Feuer) erklären, aber auch die Existenz der Naturgewalten, denen der Mensch zeit seines Lebens ausgeliefert ist, als Aktionen ebendieser, als Urgottheiten personifizierter Elementarkräfte, deuten. Die vielleicht älteste Quelle abendländischer Mythologie, die um 700 v. Chr. entstandene Theogonie des griechischen Dichters Hesiod, zentriert die Entstehung des Kosmos und der darin befindlichen Wesenheiten um insgesamt sechs Urgottheiten: Chaos (die Unordnung), Gaia (die Erde), Tartaros (die Unterwelt), Eros (die sinnliche Liebe und Fruchtbarkeit), Erebos (die Finsternis) und Nyx (die Nacht), aus welchen wiederum sämtliche andere Gottheiten hervorgehen. Bemerkenswert ist bereits in Hesiods Urgötterkreis eine Dominanz der Personifikationen von Nacht, Finsternis, Chaos und Totenreich – den archetypischen Angstfaktoren, welchen durch ihre Personifikation als Gottheiten und die damit verbundene (transzendente) Körperlichkeit eine Art von materieller Manifestation verliehen wurden, die den Menschen wiederum den Umgang, aber auch eine konstruktive Auseinandersetzung mit ihnen ermöglichen sollte.
Die Überzeugung, dass es sich bei sämtlichen angsteinflößenden Naturphänomenen, wie beispielsweise Erdbeben, Gewitter und Sturm, Tsunamis, Flut- (‚Sintflut‘) und Brandkatastrophen (Vulkanausbrüche, ‚Weltenbrand‘ und letztendlich ‚Götterdämmerung‘), um göttliche oder dämonische Manifestationen handele, führte zu einer sukzessive differenzierter werdenden Personifikationsebene existenzgefährdender Angstauslöser und damit zur Konstitution eines umfassenden und hierarchisch gegliederten Pantheons als zweiter entscheidender Entwicklungsstufe der Mythologie. Protagonisten sind nun nicht mehr allein die personifizierten Naturgewalten, sondern sämtliche als negativ und bedrohlich empfundene „Widerfahrnisse“ (Georg Picht), auch diejenigen, die sich aus dem menschlichen Zusammenleben und den dadurch entstehenden Aggressionen ergeben, so z.B. Krieg und Gewalt, Hass und Streit, Krankheit, Verlust und Tod.
Im Rahmen einer derart fortschreitenden und auf Angstbewältigung hin ausgerichteten kulturellen Entwicklung fungierte die Mythologie als Medium der Angstverlagerung auf eine transzendente Ebene, mit der man sich durch Religion, Ritus und diverse Kultformen (Begräbnis-, Toten- und Ahnenkulte) zu verständigen vermochte, was wiederum zur Konsolidierung gesellschaftsinterner Sozialstrukturen und Moralvorstellungen bis hin zu einem als verbindlich betrachteten Werte- und Rechtssystem führte. Die genaue Zuweisung von strikt definierten Zuständigkeitsbereichen an einzelne Gottheiten (Kriegsgott, Wettergott, Liebesgöttin, Krankheitsdämonen etc.) verhalf den Menschen wiederum, ihren jeweiligen Ängsten einen konkreten Ansprechpartner zuzuordnen, mit dem sie in einen Dialog (Opferhandlung, Gebet) treten und somit zielgerichtet agieren konnten.