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1 Angst in der antiken Mythologie
ОглавлениеIsabel Grimm-Stadelmann
„Mein Herz schlug heftig, meine Arme fielen herab, ein Zittern überkam alle meine Glieder […].“ (Hornung 1979, 24)
Mit oben stehenden Worten beschrieb der Ägypter Sinuhe im zweiten vorchristlichen Jahrtausend (um 1900 v. Chr.) die gewaltige Angst, die ihn angesichts der Nachricht vom Tode Pharao Amenemhets I. (reg. ca. 1994–1975 v. Chr.) überfallen hatte und die seine überstürzte Flucht ins Ausland nach sich zog: „Ich entfernte mich in großen Sprüngen, um mir ein Versteck zu suchen“ (Hornung 1979, 24). Aus der Erzählung erfahren wir nur den Angstauslöser, nämlich die Todesnachricht sowie, damit verbunden, die Mitteilung über die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Thronfolgers, Sesostris I. (reg. ca. 1956–1910 v. Chr.), nicht jedoch die konkrete Ursache von Sinuhes Angst und ob diese überhaupt begründet war (war er als Palastbeamter etwa in eine Verschwörung verstrickt gewesen?). Sinuhes impulsive und zunächst völlig unkontrollierte Flucht führte ihn schließlich nach Palästina, wo er zu hohen Ehren gelangte. Von Heimweh geplagt, konnte er gegen Ende seines Lebens eine Begnadigung durch Sesostris I. erwirken, verbunden mit der Erlaubnis zur Rückkehr in die Heimat, wo er, zu den näheren Umständen seiner Flucht befragt, diese als unkontrollierte und völlig grundlose Panikreaktion erklärte:
„Diese Flucht, die meine Wenigkeit unternommen hat – sie war nicht überlegt, sie entsprang nicht meinem Willen, ich hatte nie daran gedacht und merkte nicht, daß ich mich vom Ort getrennt hatte. Es war wie eine Traumerscheinung […]. Ich war nicht in Furcht geraten, niemand lief hinter mir her, ich vernahm keine Schmährede, meinen Namen hörte man nicht im Mund des (öffentlichen) Ausrufers. Vielmehr: mein Körper schauderte, meine Beine liefen davon, mein Herz lenkte mich, der Gott, der diese Flucht bestimmte, zog mich fort.“ (Hornung 1979, 34)
Die Geschichte von Sinuhe zeigt demnach die charakteristische Interaktion von gravierender Angstsymptomatik und impulsiver Panikreaktion, welche sich in einem unreflektierten Fluchtreflex manifestiert, wobei dem primären Angstgefühl die Funktion eines biologischen Gefahren-Frühwarnsystems zukommt, das als elementar-animalische Funktion irrational und vom betroffenen Individuum unreflektiert abläuft (vgl. Böhme 2008, 169).
Das Phänomen der Angst in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen (Furcht, Schrecken, Panik, Terror) sowie als Auslöser vielfältiger physischer und psychischer Reaktionen war als elementarer Bestandteil der menschlichen Existenz bereits in den frühesten Kulturen omnipräsent und wurde literarisch thematisiert. Komplexe mythologische Systeme überliefern bereits die altorientalischen Quellen, lange vor der Entstehung der klassisch-antiken Mythologie, doch zeigen die weitgehend übereinstimmenden Grundmotive, dass es hier um essenzielle Fragestellungen einer transkulturellen Menschheit schlechthin ging, nämlich um den Umgang mit impliziten und tief verwurzelten (Existenz-)Ängsten.
In seiner ausführlichen tiefenpsychologischen Analyse der altorientalischen Mythenkreise führt Franz Renggli den Ursprung sämtlicher Ängste auf tief verwurzelte Geburts- und frühkindliche Trennungstraumata zurück, die allen Hochkulturen immanent seien und letztendlich ihre Visualisierung in einer schreckenserregenden und von Gewalt regierten Mythologie fänden: „Wenn wir uns auf einer tiefen Ebene auf diese Mythen einlassen, finden wir in ihnen einen Schlüssel zum Verständnis der eigenen Ängste und Hoffnungen, der eigenen Verletzungen und Traumata […]“ (Renggli 2001, 19). Auf dieser Ebene finden die mythologischen Erzählungen ihre Entsprechung in der Märchenwelt.