Читать книгу Angst und Gesellschaft - Группа авторов - Страница 21
2.1.3 Angst ums Ganze der Gesellschaft
ОглавлениеDas geschieht vor dem Hintergrund von zwei fühl- und sichtbaren sozialstrukturellen Veränderungen. In den letzten zwanzig Jahren ist auch in Deutschaland wie überall in der OECD-Welt ein neues Proletariat entstanden, das nicht mehr ein Proletariat der Industrie, sondern eins der Dienstleistung ist (dazu Bahl 2014; Staab 2014). „Einfache Dienstleistungen“ in den Bereichen der Zustellung, in der Transportbranche, in der Gebäudereinigung, im Einzelhandel, in der Gastronomie und in der Pflege machen 12 bis 15 Prozent der Beschäftigten aus. Das sind „Dead-end jobs“ ohne Aufstiegsperspektiven, in denen man für körperlich belastende und mental fordernde Tätigkeit ohne staatliche Aufstockung bei einer vollzeitigen und unbefristeten Beschäftigung nicht genug verdient, um in Städten wie Reutlingen, Bielefeld oder Regensburg über die Runden zu kommen. Wir haben hier eine kollektive Lebenslage vor Augen, die deshalb Klassencharakter hat, weil der Bus, in dem die Beschäftigen der „einfachen Dienstleistung“ sitzen, wegen offener Grenzen immer voll ist.
Aber auch in der Mitte der Gesellschaft führen die Mikroturbulenzen in den Lebensläufen dazu, dass sich eine Spaltungslinie zwischen einem oberen und einem unteren Teil der gesellschaftlichen Mitte durchsetzt. Es stellt sich für die einzelnen oft erst mit Mitte vierzig heraus, dass sie trotz eines höheren Bildungsabschlusses und trotz eines starken beruflichen Engagements insofern auf das falsche Pferd gesetzt haben, als sie es mit Freunden und Bekannten zu tun haben, die sich mit zwei guten Einkommen in „lovely jobs“ für ihre Kinder ganz andere Bildungsinvestitionen und für eine eigene Immobilie höhere Belastungen leisten können. So ergibt sich das Bild einer nach Maßgabe von Risiken und Ressourcen der Haushalte gespaltenen gesellschaftlichen Mitte. Die einen fühlen sich obenauf, die anderen sind von der „Angst vor Minderschätzung“, wie Theodor Geiger das in einem legendären Aufsatz aus dem Jahre 1930 genannt hat (Geiger 1930), geschlagen.
Das dritte Reizthema findet hier Anklang. Das ist die Angst, die aus dem Verfall der „diffusen Legitimität“ der kapitalistischen Grundverfassung unserer Gesellschaft resultiert. Ein „heimatloser Antikapitalismus“ verwirrt in der gesellschaftlichen Mitte offenbar die politischen Geister, was sich überall in den Ländern der OECD-Welt in einer Dekonstruktion des politischen Feldes, so wie man mit der Parteienlandschaft der Nachkriegszeit kannte, niedergeschlagen hat. Es entstehen prokapitalistische Parteien mit antikapitalistischer Systemkritik, es vermischen sich Fremdenfeindlichkeit, Systemopposition und Fundamentalrestauration und es ergeben sich bisweilen unheimliche „Querallianzen“.
Im Hintergrund rieselt die Angst, dass die Zukunft nichts Gutes verheißt und niemand sich auf nichts verlassen kann.