Читать книгу Christlich-soziale Signaturen - Группа авторов - Страница 26
Einführung
ОглавлениеGeorges Vanier war ein christlicher Politiker; ein Soldat und Diplomat, der am Ende seines Lebens bis zu seinem Tod im Jahr 1967 als Generalgouverneur von Kanada diente. Als er 1959 den Eid als Generalgouverneur ablegte, sagte er: „My first words are a prayer. May almighty God in His infinite wisdom and mercy bless the sacred mission which has been entrusted to me by Her Majesty the Queen and help me to fulfill it in all humility. In exchange for His strength, I offer Him my weakness. May He give peace to this beloved land of ours and … the grace of mutual understanding, respect and love.“
Hier kündigt sich die bedeutsame Einsicht an, dass die Stärke des Christen und der Christin nicht im Eigenen liegt, sondern darin, eingedenk der eigenen Schwäche auf die Gnade Gottes zu vertrauen – denn die Gnade wirkt in der Schwachheit (2 Korinther 12,9). Georges Vanier hat aus dem Wissen um Verwundbarkeit und Endlichkeit Politik betrieben. Wenige Monate nach seinem Tod sprach sein Sohn Jean Vanier zu kanadischen Parlamentariern und erinnerte sie an einige Eckpunkte im Leben seines Vaters1.
Zwei Punkte scheinen erwähnenswert:
Erstens wies Jean Vanier darauf hin, dass sein Vater klar der Überzeugung war, dass christliche Werte nicht genügen würden, es gehe um Nachfolge, um Christsein. Dazu einige Bemerkungen: Es ist ja durchaus möglich, die in der jüdisch-christlichen Tradition verankerten Werte wie Gastfreundschaft, besondere Aufmerksamkeit für die Benachteiligten, Versöhnungsbereitschaft, Achtung vor dem Leben, Anerkennung der Würde des Menschen, Sinn für Verantwortung für die Schöpfung zu respektieren, zu teilen, ja, sie sich auch als lebensformanleitend zu eigen zu machen. Aber nach Georges Vanier greift dies zu kurz. Denken wir an den Wert der Gastfreundschaft: Es ist ein Unterschied, ob Gastfreundschaft als kultureller Wert oder zivile Tugend gelebt wird oder als Ausdruck der Nachfolge Jesu, der uns im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums mit den Aussagen konfrontiert: „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen.“ Und: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Verse 35 und 40). Wir könnten uns fragen, welchen „Mehrwert“ Gastfreundschaft als Ausdruck der Nachfolge gegenüber Gastfreundschaft als Ausdruck einer humanistischen oder humanitären Gesinnung habe. Mir scheint, dass die Art der Verankerung des Wertes eine andere ist, Gastfreundschaft aus Nachfolge ist identitätsstiftend und schöpft aus Quellen, die mit Vernunft allein nicht gefasst werden können.
Zweitens zeigte Jean Vanier auf, dass sein Vater seine Beziehung zu seinem geliebten Gott gepflegt hat, Tag für Tag. Jeder Mensch muss essen und nimmt sich Zeit zu essen, der Mensch muss aber auch seine Seele nähren und sollte sich mit einer ähnlichen Selbstverständlichkeit dafür Zeit nehmen, so die Einstellung von Georges Vanier. Jeden Tag verbrachte Georges Vanier eine halbe Stunde in Gebet und Reflexion – egal, wie beschäftigt oder wie erschöpft er war. Ja, der Christ in der Politik ist ein homo orans, ein betender Mensch. Ein betender Mensch wird durch das Beten unmerklich geformt. Beten wird in der Tradition manchmal mit dem Atmen der Seele verglichen. Christliche Politik ist geformt durch das Gebet. Es kann nicht anders sein.
Ich möchte das Verhältnis von Christsein und Politik durch zwei einfache Gedanken charakterisieren: (1) Eine Christin erwartet von der Politik kein erstes Wort und keine letzten Antworten. (2) Eine Christin stellt ernsthafte politische Fragen und ernsthafte Anfragen an die Politik.