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Eigenverantwortung steht in gewisser Korrelation zur Demokratie
ОглавлениеWenn man, im Sinne der Eigenverantwortung, dem Menschen etwas zutraut, dann soll er auch in die Entscheidung über gesellschaftliche Prozesse einbezogen werden, und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (genau genommen erst seit dem Zweiten Vatikanum) hat sich diese Einsicht (zumindest für das politische Geschehen, nicht für die eigene Organisation) auch in der katholischen Kirche verbreitet. Im einfachsten Fall heißt das: Partizipation beziehungsweise Demokratie. Seit geraumer Zeit darf das Bekenntnis zur Demokratie europäischer Prägung als Selbstverständlichkeit gelten: Institutionenrespekt, Liberalität, Rechtsstaatlichkeit.
Das Selbstverständliche ist nicht immer selbstverständlich. Erstens bedarf es für die Teilnahme an einer demokratischen Ordnung nicht nur der Alltagskompetenz, sondern auch einer gewissen gesellschaftlichen Kompetenz. Auf diese Weise sind Wissens- und Bildungsvoraussetzungen immer begründet worden: Demokratie braucht kluge Bürgerinnen und Bürger. Das darf auch als Anspruch an die Wählerschaft formuliert werden: Verantwortliches Wählen oder Abstimmen kommt nicht aus dem Bauch. „Dumm wählen“ ist kein Ausdruck von Eigenverantwortung, sondern eben nur ein Ausdruck von Dummheit, der man auch „zivilisierte Verachtung“ (Strenger 2015) entgegenbringen kann.
Ein zweiter Aspekt drängt sich auf; nach der Demokratisierungswelle der 1990er-Jahre gibt es weltweit Rückschläge, auch die vorderhand stabilen Demokratien sind verunsichert: Welche „Gefühlswellen“ sind aushaltbar? Ist eine „Schlechtwetterdemokratie“ überhaupt möglich? „Wutbürger“ (Hessel 2011) haben nichts zu bieten als ihr Ressentiment. Sie dokumentieren nicht Eigenverantwortung, sondern negieren sie. Diverse Links- und Rechtspopulismen, die oft, wie Wählerströme zeigen, austauschbar sind, weil sie derselben Emotions- und Mobilisierungslogik folgen, gedeihen in Situationen der Verwirrung, und sie packen die Menschen bei ihren schlechteren Impulsen (Müller 2016). Ivan Krastev hebt die Widersprüchlichkeit hervor: „Der protestierende Bürger will Veränderungen, lehnt aber jede Form politischer Vertretung ab. Er stützt seine Theorie sozialen Wandels auf Werbetexte aus Silicon Valley und schätzt die Zerstörung, verachtet aber politische Programme. Er sehnt sich nach politischer Gemeinschaft, lehnt es aber ab, sich von anderen führen zu lassen. Er riskiert Zusammenstöße mit der Polizei, traut sich aber nicht, einer Partei oder einem Politiker Vertrauen zu schenken.“ (Krastev 2017, S. 100). Das Risiko der genannten Zusammenstöße wird zudem nicht als solches gesehen, sondern eher als eine Art Abenteuer und Action lustvoll erlebt. Grundsätzlich wird in der öffentlichen Argumentation oft die Wählerschaft von ihrer Verantwortung entlastet, weil allemal böse Menschen und Mächte schuld sind, und eine vollständige Verantwortungsentlastung ist vollzogen, wenn sich politischer Akteur und Wählerschaft in der emotionalisiert-lauschigen Überzeugung finden, dass Fakten irrelevant sind (McIntyre 2018) – denn dann hat man nicht einmal mehr eine Verantwortung für eigene Irrtümer oder Lügen.
Eigenverantwortung fordert aber sehr wohl die Reflexion über die Frage: Was können wir tun? statt nur die Frage zu stellen: Was geschieht uns? Die letztere Frage drückt jene Passivität aus, die gerade nicht mit Eigenverantwortung einhergeht. Bei allen Schwierigkeiten, bei aller Unübersichtlichkeit ist die Option einer schrittweisen (nüchternen, abgewogenen) Verbesserungspolitik aufrechtzuerhalten. Denn dies sind die beiden extremen Optionen: (a) Wer sich mit der Unvollkommenheit abfindet („Es hat ohnehin alles keinen Sinn.“), der verspielt Chancen. (b) Wer die vollkommene Gesellschaft herstellen will („Wir brauchen ein ganz neues System.“), landet im Totalitarismus (Bracher 1982).