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Eigenverantwortung wird minimiert durch die Stilisierung von Opferrollen

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Es gibt zwei Haltungen, die man als Gegenstück zur Eigenverantwortung sehen kann (und die oft in Kombination auftreten). Sie gehörten nicht zuletzt bei den großen Staatsideologien Faschismus und Bolschewismus zum Kernbestand. Die erste Haltung ist die Abweisung von Eigenverantwortung in dem Sinne, dass für alle Unzulänglichkeiten Schuldige zu suchen sind: Feinde, Agenten oder Sündenböcke. Die anderen sind schuld: die Abzocker, die Kapitalisten, die Faulpelze, die Migranten, die Manager, die Sozialhilfeempfänger, die Steuerhinterzieher, die Konzerne, die gierige Oberklasse, die leistungsschwache Unterklasse, die ängstlich-sklerotische Mittelklasse, die verwöhnte und lethargische Jugend, die Fleischfresser und die SUV-Fahrer, die Pop-Abkömmlinge und beliebige andere. Alles könnte schön sein, wenn es nur die Gruppe X nicht gäbe.

Die zweite Haltung ist die Stilisierung der eigenen Opferrolle. Man hat keine Eigenverantwortung, wenn man bloß das Opfer übermächtiger Mächte ist. Eine solche Opferrolle kann besonders dann attraktiv sein, wenn die institutionellen Verhältnisse aus einem beliebigen Opfer-Titel zu kollektiven Leistungen berechtigen. Aber sie hat auch ihren psychosozial-narzisstischen Eigenwert, weil sie an jene Sensibilitäten appelliert, die in einer luxuriösen spätmodernen Gesellschaft gewachsen sind. Radfahrer sind Opfer der Autofahrer, und umgekehrt. Nichtraucher sind Opfer der Raucher, und umgekehrt. Stromkunden sind Opfer der teuren Alternativenergieerzeuger. Frauen und Alleinerziehende sind ohnehin Opfer, Eltern erst recht. Die Jüngeren sind Opfer, weil sie in diese Welt geboren werden, die Älteren, weil sie alt sind. Muslime sind Opfer der Diskriminierung, Einheimische sind Opfer radikaler und krimineller Muslime. Wer kein Opfer ist, der ist deswegen ein Opfer, weil alle anderen Opfer sind, die er bezahlen muss (Prisching 2009). Es ergibt sich ein riesiges Opfer-Panoptikum. Durch die allseitige Sichtbarkeit in der Kommunikationsgesellschaft lassen sich immer Vergleichsgruppen finden, gegenüber denen man ein eigenes Opfer-Design aufbauen kann.

Beide Haltungen weisen Eigenverantwortung von sich: Es sind hinterlistige Mächte, denen man ausgesetzt ist und die den Einzelnen passivieren, bedrängen, beeinträchtigen. Der Einzelne muss dann gar nicht mehr anfangen, die Ärmel aufzukrempeln.

Christlich-soziale Signaturen

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