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Eigenverantwortung setzt wohlverstandene Freiheit voraus
ОглавлениеEigenverantwortung setzt Handeln (im eigentlichen Sinn des Wortes) voraus, also Ausübung des Willens im Tun, Fällen einer Entscheidung, Choice. Wenn es nichts zu entscheiden gibt, ist der Begriff nicht anwendbar. Mit christlich-sozialer Ironie formuliert: Die Eigenverantwortung beginnt im Paradies, mit der Unbotmäßigkeit von Adam und Eva, die sich im Verstoß gegen das Verbot ihres Schöpfers die Fähigkeit aneigneten, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden (Palmer 2014). Was in diesem Falle ganz individualistisch formuliert wird, verweist in einem gesellschaftlichen Ambiente auf kollektive Rahmenbedingungen: Es bedarf einer gesellschaftlichen Ordnung, die den individuellen Akteuren jene Freiheitsräume eröffnet, in denen Eigenverantwortung sinnvoll ausgeübt werden kann. (Wer nichts entscheiden kann, dem wird man sein Handeln nicht zurechnen können; man wird die Menschen Nordkoreas nicht unter dem Aspekt der von ihnen nicht geübten Eigenverantwortung kritisieren, ihnen also individuelles Versagen vorwerfen wollen.) Eigenverantwortung setzt, kurz gesagt, Freiheit voraus. In Fremdbestimmtheit gibt es nichts zu verantworten. Es sind somit von Anfang an die beiden Elemente im Spiel. Einerseits das Menschenbild, das heißt, der individuelle Akteur, der fähig und bereit sein soll, Verantwortung zu übernehmen und zu tragen; andererseits das Gesellschaftsbild, das heißt, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die ihm diese Entscheidungsfreiheit ermöglichen.
(1): Auf der Seite des individuellen Akteurs sind es bestimmte Voraussetzungen von Kompetenz, Disposition, Habitus. Die angemessene Nutzung von Freiheit braucht Freiheitsfähigkeit. Im Zuge der Reflexionen über das Menschliche ist immer auch von der Schwäche dieses Wesens die Rede, zwischen Hinfälligkeit und Bequemlichkeit, Disziplinlosigkeit und Dummheit. Es ist nun einmal, mit Immanuel Kant gesprochen, aus krummem Holze gemacht. Menschen müssen durch Institutionen und Kontrollen daran gehindert werden, die anderen zu schädigen, zu berauben, zu vergewaltigen, zu töten, zu demütigen – anthropologisch kann man dem ständigen Kampf gegen das Böse nicht entrinnen. Es ist eine Frage, wie und wie weit das (durch rechtliche Vorgaben oder durch soziale Kontrollen) geschehen kann. Von Thomas Hobbes bis Arnold Gehlen (Gehlen 2004) sind sich Sozialwissenschaftler über den historisch-anthropologisch gut belegten Befund einig, vielleicht mit der Ausnahme Rousseaus: Der böse Anteil kann durch Optimierung der Lebensverhältnisse zurückgedrängt werden.
Heikler ist die Frage, in welchem Maße Menschen durch Institutionen oder Sanktionen daran gehindert werden sollen, sich selbst zu schädigen – dort ist man rasch beim Problem der Bevormundung beziehungsweise der Verweigerung von Selbstverantwortung. Geht es den Staat etwas an, wenn ein reflektierender Akteur Selbsttötung begehen will? 4 Muss man das Rauchen verbieten – unter welchen Umständen? Wie „locker“ geht man mit Drogen und Alkohol um? Gurtanlegepflicht? In solchen Fällen, gerade wenn es nur um den Schutz des Akteurs vor sich selbst geht, pflegen die Gegner entsprechender Maßnahmen auf die Eigenverantwortung in einer freien Gesellschaft zu verweisen; und die Befürworter von Eingriffen weisen auf den Befund hin, dass die Menschen sich halt einfach nicht vernünftig verhalten. Allenfalls wird auch noch auf die für andere entstehenden Kosten der Sozialversicherung verwiesen, sodass man sich um die Bevormundungsentscheidung herumdrücken kann.
(2): Auf der institutionellen Seite kann man die historischen Leistungen Europas im Institution-Building hervorheben. Europa rühmt sich – nicht zu Unrecht – seiner Freiheiten, die Ergebnis eines langwierigen (und oft gewalttätigen) historischen Prozesses sind. In seiner gegenwärtigen Verfasstheit und im Rückblick auf die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist dieser Halbkontinent eine historische Anomalie: ein Wunder von Freiheit, Wohlstand und Frieden. Der Blick in die europäische Geschichte würde uns lehren, dass mehrfacher Kriegszustand eher der Normalfall wäre.
Die Idee der Freiheit ist freilich insoweit ein wenig heruntergekommen, als sie oft auf die Segnungen einer reichen Marktwirtschaft beschränkt wird: Freiheit beim Einkaufen? Mehr Auswahl bei den Joghurts? Aber auch bei bestimmten neuen Freiheiten sind wir unsicher: Freiheit beim Beschimpfen, im Internet – jeden schmähen und verleumden können? Oder gar Freiheit bei Steuerhinterziehung? In der Gentechnik? Die Gesellschaft der wohlverstandenen Freiheit, die Gesellschaft der kultivierten Freiheit ist nicht identisch mit vulgärem Liberalismus (weniger Staat ist immer besser), mit vulgärem Spontanismus (jeder darf tun, was er will) oder mit vulgärer Niedertracht (Politik als Forum ausschließlichen Schienbeintretens). Sie setzt vielmehr feste Regeln, verlässliche Institutionen und Rahmenbedingungen sowie eine gewisse zivilisierte Grundhaltung voraus, ein Ambiente, in dem „Freiheiten“ zur „Freiheit“ zusammenfließen können.
Diese Freiheitsordnung, in der allein die Rede von der Eigenverantwortung Sinn hat, ist ständig gegen Angriff, Diskreditierung und Unterhöhlung zu verteidigen, denn es gibt alle möglichen alten und neuen Freiheitsbedrohungen: Dogmatismus, Planungsexzesse, Korruption, bürokratische Pingeligkeit, Kontrollgesellschaft, politische Korrektheitsideologie, sich aufschaukelnder Hass. Solche Phänomene gelten nicht nur für Länder an der europäischen Peripherie, zu deren entscheidenden Entwicklungshemmnissen das hohe Maß an Korruption zählt, sondern auch für Länder im Herzen Europas. Der immerwährenden Drift zu Malversationen muss stets Widerstand geleistet werden – institutioneller (Justiz) und individueller Widerstand (persönlicher Anstand). Institutionelle Degeneration droht immer. Der institutionelle Rahmen einer wohlverstandenen Eigenverantwortung kann somit niemals als gewährleistet betrachtet werden.5 Betrachtet man ihn als gesichert, setzt der Niedergang ein.