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(1) Eine Christin, ein Christ erwartet von der Politik kein erstes Wort und keine letzten Antworten

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Das erste und das letzte Wort sind Dem vorbehalten, der Anfang, Grund und Ende unseres Lebens ist. Christinnen und Christen verstehen sich als Geschöpfe. Christliche Politik ist Politik von Kreaturen, Politik von Geschöpfen. Rowan Williams hat in einem Aufsatz über die Frage nachgedacht, was es denn heiße, Geschöpf zu sein.2 Eine Einsicht in diese Reflexionen „On Being Creatures“ ist eine These zur Identität: Wenn ich mich als Geschöpf weiß, dann verstehe ich meine Identität nicht als konstruiert oder „erleistet“ oder ausgehandelt, sondern als geschenkhaft gegeben. Damit ist ein Moment des Unaufhebbaren gegeben wie auch die Aufgabe, sich die Gabe der Identität zu eigen zu machen.

Das Politische kann nur aus Bestehendem schaffen, es ist stets „zweites Wort“ oder „drittes Wort“, nicht aber ursprüngliches Wort, das aus sich selbst schöpfen würde. Politik als Gestaltung von Macht schafft und ermächtigt – aber stets aus Vorhandenem. Politik ist stets auch Umbau, nie allein Aufbau. Politik schafft „Welt“ aus bestehenden Welten. Damit ist auch gesagt, dass eine „Ethik der Erinnerung“ ebenso bedeutsam sein wird wie eine „Ethik der Hoffnung“.

Das Politische hat nach christlichem Verständnis nicht das letzte Wort. Auf die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Geheimnis der Person und der Lösung von aller Unfreiheit erwartet die Christin nicht politische Antworten. Es ist nicht Aufgabe der Politik, mit menschlichen Mitteln „den Himmel auf die Erde“ zu bringen. Die christliche Politikerin weist auf Vorletztes. Das entlastet auch, denn – wie es Karl Popper einmal formuliert hat – jeder Versuch, den Himmel auf die Erde zu bringen, hat die Hölle gebracht. Politik hat eine Vorläufigkeit, die demütig macht und auch befreit.

Es ist eine besondere Freiheit mit der Einstellung verbunden, keine letzten Antworten von der Politik zu erwarten. Ich möchte dies als vierfache Freiheit sehen: als (negative) Freiheit von Angst und Ego, als (positive) Freiheit zu Würde und zu Gemeinwohl.

„Freiheit von Angst“ ergibt sich aus dem Wissen darum, dass das Letzte, was trägt, von keiner politischen Macht genommen werden kann. Hier eröffnet sich ein Raum für Furchtlosigkeit – auch die persönliche Ehre und der persönliche Ruf sind angesichts der vom Schöpfer gegebenen Identität nicht höchste Güter, die durch Verleumdung oder Rufmord oder mit anderen Mitteln genommen werden könnten. Das, was im Letzten zählt, entzieht sich dem politischen Zugriff. Politische Gegner können die Fundamente des Lebens nicht zerstören. Aus der rechten Furchtlosigkeit ergibt sich eine Freiheit, die Vernunft zu gebrauchen, denn Angst ist allemal die Mutter allen Aberglaubens, wie es Bertrand Russell formuliert hat.

Mit der „Freiheit von Ego“ ist gemeint, dass Christsein eine Lebensform darstellt, bei der das eigene Ego nicht die höchste Norm und die Frage nach dem eigenen Wollen und Wünschen nicht die Leitfrage ist. Christliches Leben ist Leben als Nachfolge Jesu, das sich an der Frage orientiert: Was ist der Wille Gottes? Das ist eine, wie sich alle vorstellen können, schwierige Frage; aber wenn das die Frage ist, die das Leben bestimmt, dann ändert sich die Lebensrichtung. Diese Frage ermöglicht eine Perspektive, die nicht das eigene Ego in den Mittelpunkt rückt. Wer aus anderen Quellen als aus dem Irdischen schöpft, kann mit Fragen von eigenem Stolz und eigener Macht anders umgehen. Christsein in der Politik zeigt sich auch in einem gelebten Wissen darum, dass es um anderes geht als um das eigene Ego.

Was damit gemeint ist, soll eine Geschichte illustrieren, die David Brooks über Abraham Lincoln, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, erzählt hat. Im November 1861 suchte Lincoln in Begleitung des Secretary of State (William Seward) und eines jungen Sekretärs (John Hay) General McClellan auf, um mit ihm eine wichtige Unterredung über den Krieg zu führen. Es ging tatsächlich um die Zukunft des Landes. Als sie im Haus des Generals ankamen, war dieser nicht zugegen und die dreiköpfige Delegation des Weißen Hauses wartete auf Einladung des Butlers im entsprechenden Warteraum. Eine Stunde später kam General McClellan, sah die Wartenden, ging an ihnen vorüber und schickte nach einer weiteren halben Stunde den Butler, um ausrichten zu lassen, dass sich der General zurückgezogen habe und die Besucher ein andermal kommen sollten. Offensichtlich spielte der General Machtspiele. „Hay was incensed. Who has the gall to treat the president of the United States with such disrespect? Lincoln, however, was unruffled. ‚Better at this time‘, he told Seward and Hay, ‚not to be making points of etiquette and personal dignity‘. This wasn’t about him. His pride was not at stake.“3

Der christliche Politiker weiß, dass es nicht um ihn selbst geht. Natürlich besteht eine der großen Lebensaufgaben darin, uns und unser Leben ernst zu nehmen, ein ernsthaftes Leben zu führen. Aber gleichzeitig und andererseits ist eine große Lebensaufgabe die Herausforderung, uns und unser Leben nicht zu ernst zu nehmen.

„Freiheit zu Würde“ wird von der Überzeugung genährt, dass alle Menschen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurden; christlicher Politik sollte es keine Mühe machen, von dem Bekenntnis zur Würde des Menschen und dem damit verbundenen Sinn für das Mysterium des Menschen, der nie abschließend analysiert werden kann, auszugehen. Die Anerkennung der Würde ist auch Anerkennung der Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen. Paradoxerweise sind wir Menschen nach christlichem Verständnis gleich in unserer Einzigartigkeit. Der Rechtsphilosoph Jeremy Waldron erinnert daran, dass die Geschichte von der Erschaffung des Menschen nach Gottes Ebenbild zu bedeutsam und bedeutungsgebend sei, um sie einer säkularen Gesellschaft zu entziehen.4 Der Gedanke der Gott-Ebenbildlichkeit bringt etwas Einzigartiges, die Botschaft nämlich, dass jeder einzelne Mensch einen besonderen „Rang“ hat: Damit ist eine besondere Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen („welfare rights“) und eine Tradition der Achtung vor dem Leben verbunden. Der jüdische Schöpfungsmythos verdeutlicht die Tiefe und das Gewicht des Menschseins und des Würdebegriffs. Es ist wichtig, diesen Mythos auch in einer säkularen Gesellschaft lebendig zu halten, um das Gespür für das, was auf dem Spiel steht, nicht zu verlieren. Die „Freiheit zur Würde“ drückt aus, dass es für Christinnen und Christen keine Anstrengung sein sollte, alle anderen Menschen als beseelte Wesen mit Würde zu sehen. Das ergibt sich nicht aus Argumenten, sondern aus der Wahrnehmung, aus einer bestimmten Weise, Mensch und Welt zu sehen. Menschenwürde ist eine Lebensform, eine Weise zu leben, eine Weise, die Welt und den Menschen zu sehen.5 Das ist nicht bloß eine romantische Idee – wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über Fälle zu entscheiden hat, kann man gerade bei nicht einstimmigen Urteilen Fragen der Wahrnehmung und Nuancen des „Sehens“ erkennen. Ich will nur als Beispiel den Fall Vinter vs. UK anführen. Vinter wurde nach Kapitalverbrechen und einer unleugbaren kriminellen Geschichte zu einer lebenslänglichen Haftstrafe ohne die Möglichkeit einer Revision verurteilt. Er hatte also nicht die Hoffnung, je aus dem Gefängnis entlassen zu werden. Die Grand Chamber des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wurde mit dem Fall befasst und urteilte mehrheitlich am 9. Juli 2013, dass es eine Verletzung von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Verbot von Folter und entwürdigender Behandlung) darstellte, einen Menschen ohne Hoffnung auf Freiheit lebenslang hinter Gitter zu bringen. Richterin Ann Power-Forde kommentierte in einer „concurring opinion“ in einer Sprache, die eine philosophische und nahezu theologische Anthropologie ausdrückte: „The judgment recognises, implicitly, that hope is an important and constitutive aspect of the human person. Those who commit the most abhorrent and egregious of acts and who inflict untold suffering upon others, nevertheless retain their fundamental humanity and carry within themselves the capacity to change. Long and deserved though their prison sentences may be, they retain the right to hope that, someday, they may have atoned for the wrongs which they have committed. They ought not to be deprived entirely of such hope. To deny them the experience of hope would be to deny a fundamental aspect of their humanity and, to do that, would be degrading.“

Das ist eine Frage des Menschenbildes. Das ist auch eine Frage der Wahrnehmung. Die Wahrnehmungen von Menschen in Bezug auf Menschenwürde werden genährt und geprägt. Man soll den christlichen Beitrag zu den Intuitionen, die ein Verständnis von Menschenwürde tragen und formen, nicht unterschätzen. Auch der einflussreiche Philosoph Jürgen Habermas hat zugestanden, die Intuitionen, die seine „Theorie kommunikativen Handelns“ anleiten, der jüdisch-christlichen Tradition entnommen zu haben.

Die Christin erwartet von der Politik keine letzten Antworten, kann aber einen Sinn für das Letzte in die Politik einbringen, gerade mit Blick auf die Würde. Als nach dem 11. September 2001 mehr und mehr Vorschläge eingebracht wurden, Formen von Folter zuzulassen und das absolute Folterverbot aufzuweichen, meldete sich Jeremy Waldron mit einem Aufsatz in einer theologischen (!) Zeitschrift zu Wort. Er erinnert daran, dass gerade Christinnen und Christen darauf vorbereitet sind, absolute Verbote zu verstehen. Sie haben einen Sinn für das Absolute und sie haben einen Sinn für die Achtung vor der Heiligkeit des Lebens. Gerade christlich gesinnte Menschen sollten verstehen, was „absolutes Folterverbot“ bedeutet und sich dafür einsetzen.6 Christen und Christinnen haben ein Verständnis der Unantastbarkeit der Person, der Heiligkeit von Normen und auch der spirituellen Gefahr, die Seele eines Menschen durch Folter zu brechen.7 Waldron – und das ist ein wichtiger Punkt, der uns bereits zum nächsten Aspekt bringt – zitiert auch F. S. Cocks, einen Delegierten des Vereinigten Königreichs bei den Verhandlungen zur Europäischen Menschenrechtskonvention von 1949, der in Bezug auf das absolute Folterverbot den Textierungsvorschlag gemacht hat: „The Consultative Assembly […] believes that it would be better for a society to perish than for it to permit this relic of barbarism to remain.“8

Damit ist bereits „Freiheit zu Gemeinwohl“ angesprochen, die Freiheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Das Gemeinwohl ist dabei nicht das Wohl einer Mehrheit oder der meisten, sondern das Wohl einer Gemeinschaft als ganzer. Politik ist aus christlicher Sicht Mittel zum Zweck und nicht Zweck. Nach einem christlichen Verständnis ist auch das gute Gemeinschaftsleben nicht ein Wert in sich, sondern dient dem Zweck, jeden einzelnen Menschen auf das letzte Ziel vorzubereiten. Das bedeutet dann auch, dass nationale Souveränität nicht die oberste Norm ist, wie es das von Waldron zitierte Wort von Cocks anspricht.9 Dazu braucht es eine klare Verwurzelung, die nicht allein in „Werten“ gefasst werden kann, wie es Georges Vanier angesprochen hat. Das Ringen um das Gemeinwohl ist nicht das Ringen darum, dass es „den meisten einigermaßen gut gehe“; es ist kein utilitaristischer Ansatz, der das größte Glück der größten Zahl sucht, sondern die Tiefe der Gemeinschaft und die Lebenstiefe jeder einzelnen Person. Hier ist ein Stachel im Fleisch, der die Freiheit und Verantwortung gibt, nicht die augenscheinlich pragmatischen Antworten als letzte zu sehen. Im Matthäusevangelium finden wir im 14. Kapitel die Erzählung von der Brotvermehrung. Ich zitiere Verse 15 und 16: „Als es Abend wurde, kamen die Jünger zu ihm und sagten: Der Ort ist abgelegen und es ist schon spät geworden. Schick doch die Menschen weg, damit sie in die Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen können. Jesus antwortete: Sie brauchen nicht wegzugehen. Gebt ihr ihnen zu essen!“

Das ist bemerkenswert, haben die Jünger doch vernünftig gesprochen und einen vernünftigen Vorschlag gemacht. Die Replik „Gebt ihr ihnen zu essen“ ist eine klare Überforderung – und doch „Stachel im Fleisch“.

Ich will daraus schließen, dass der Christ und die Christin weder erste und letzte Antworten von der Politik erwarten, noch nächstliegende Antworten akzeptieren können. Sie fragen tiefer.

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