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Eigenverantwortung steht in Spannungsfeldern und Balancen

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Der Begriff der Eigenverantwortung steht in Balance zu zahlreichen anderen sozial und politisch relevanten Begriffen. Es geht immer um das rechte Maß, und was das ist, lässt sich nur im konkreten Fall diskutieren oder beurteilen. (a) Eigenverantwortung korrespondiert etwa mit Freiheit; aber zu viel Freiheit bedeutet Überlastung, Anarchie, Indifferenz und macht Eigenverantwortung unmöglich. (b) Eigenverantwortung steht in Spannung zur Gleichheit, denn es müssen aufgrund der Verantwortungszuschreibung unterschiedliche Ergebnisse möglich sein; aber extreme Ungleichheit macht es manchen Menschen unmöglich, überhaupt Eigenverantwortung auszuüben. (c) Eigenverantwortung steht in Spannung zur Solidarität, denn zu viel Solidarität reduziert oder beseitigt das Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit, während wohlverstandene Eigenverantwortung auch den Blick auf Gemeinwohl und Gemeinschaft, also Solidarität, einschließt. So könnte man fortfahren.

Zu einem christlich-sozialen Weltbild10 gehört das Leben in Widersprüchen, in der Ausbalancierung – einfach deshalb, weil ein nüchterner Blick auf die Welt verrät, dass es anders gar nicht geht. Einerseits kommt unser Wohlstand aus Kreativität und Dynamik; andererseits kann Geld die Sitten verderben. Einerseits ist der Staat gut, wir brauchen ihn; andererseits kann er repressiv, korrupt und bevormundend werden. Der Markt und seine Zähmung. Die Technik und die Skepsis ihr gegenüber. Die Demokratie und ihre Beschränkung. Die Individualität und ihre Wiedereinbettung. ‚Checks and balances“. Die christlich-soziale Perspektive konzipiert das Leben in der stets verbesserbaren Unvollkommenheit. Es geht um das Leben im richtigen Maßstab. Eigenverantwortung heißt also auch: das richtige Maß anstreben. Nicht die Mittelmäßigkeit, Durchschnittlichkeit oder Normalität zum Prinzip erheben, sondern in freier Beurteilung jenes richtige Maß finden, welches Extremismen (und ihre zuverlässig schädlichen Folgen) vermeidet.

Literatur

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Strasser, Johano: Grenzen des Sozialstaats? Soziale Sicherung in der Wachstumskrise, 2. Aufl. Köln 1983.

Strenger, Carlo: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, 2. Aufl. Berlin 2015.

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1Das bedeutet nicht, dass die Reflexion über alle derartigen Begriffe von vornherein sinnlos ist, man muss sich nur im Klaren sein, dass die Begriffe selbst keinen „anwendbaren“ Inhalt besitzen, sondern dieser Inhalt in einer konkreten Situation erst hinzugefügt werden muss. Es handelt sich ja auch um kein Spezifikum der christlichen Soziallehre, gerade der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ kommt häufig in sozialistischen Argumentationen vor. Man kann auch dieselben Inhalte auf unterschiedliche Weise begründen; in der christlichen Soziallehre ist der Bezug zur Transzendenz gegeben.

2In die Gestaltung der europäischen Strukturen ist die Subsidiarität beispielsweise explizit eingebracht worden. Im EG-Vertrag heißt es: „Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“ In verschiedenen Dokumenten ist diese Grundhaltung auch für die Europäische Union gültig. Vgl. zum Kontext Europa: Lübbe 2005.

3Auch Eigenverantwortung wird für viele Sachverhalte und Argumentationen verwendet, die hier nicht verfolgt werden können. Nur eine kleine Presseschau: „Auch Almwanderer müssen, mit Kühen konfrontiert, Eigenverantwortung zeigen.“ „Innenminister ruft in Anbetracht möglicher ‚Blackouts‘ nach Eigenverantwortung.“ „Hinsichtlich des Bräunungsgrades von Pommes frites wäre auch die Eigenverantwortung der Kunden gefragt.“ „E-Bikes brauchen Eigenverantwortung.“ „Im Umgang mit Datensicherheit ist die Eigenverantwortung der Nutzer gefragt.“ „Ein Bischof appelliert in Sachen Missbrauch an die Eigenverantwortung des Kirchenpersonals.“ „Bergsteiger lassen Eigenverantwortung vermissen.“ „Vorsorge durch Versicherung ist ein Element der Eigenverantwortung“. Auch für die Integration von Migranten haben diese ihre Eigenverantwortung einzubringen.“ „Hausbauen im Überschwemmungsgebiet – eine Sache der Eigenverantwortung.“ Und so weiter.

4Es gibt wohl insoweit etwas wie ein Grundrecht auf Selbsttötung, als ein missglückter Suizid nicht bestraft wird. Aber die Hilfe zur Selbsttötung ist umstritten, gewerbsmäßig weithin verboten. Gleichwohl wissen wir über die Grauzonen am Ende eines Lebens.

5Zur aktuellen Lage, insbesondere mit dem Blick auf die Ostländer, vgl. auch: Renöckl 2007.

6https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/archiv/analysen/80794_Gusenbauers-Traum-von-einer-solidarischen-Hochleistungsgesellschaftist-gescheitert.html (abgerufen am 8. Juni 2019).

7Das ist nicht bloße Theorie, ein Beispiel bietet die Schulpolitik: Es macht sich die Attitüde breit, dass mangelnde Leistungserbringung des Schülers ausschließlich auf mangelnde Didaktik des Lehrers zurückgeführt wird. Daraus leitet sich die didaktische Forderung ab, dass Prüfungen bestanden werden müssen, denn auch an einer mangelnden Vorbereitung ist das Begeisterungsfähigkeitsdefizit des Lehrers schuld. Zudem ist jeder zu allem fähig und berechtigt. Somit muss jedem ein Weg bis zum Doktorat zugestanden werden; den Weg muss man ebnen, Drop-outs vermeiden, schließlich kann keiner etwas für intellektuelle Schwächen, ob diese nun ererbt oder sozialisiert sind.

8Das heißt wiederum nicht, dass man das Problem mit bedauerndem Schulterzucken beiseitelegen kann – schon aus Selbsterhaltungsinteresse. Wenn man etwa die zuweilen geäußerten Forderungen nach einer Angleichung von Emigrationsländern an die entwickelten Staaten oder nach einem Marshall-Plan für Afrika betrachtet, stößt man zwangsläufig auf ein Abwägungsproblem: Könnte oder sollte man die österreichischen Einkommensverhältnisse um drei oder um zehn oder 20 Prozent kürzen, um die Ressourcen sinnvoll und kontrollierbar in Afrika zu investieren? Da wäre gerade bei jenen, die solche Vorschläge ventilieren, praktisch anwendbare Solidarität auf den Prüfstand gestellt, wenn man quantitativ argumentieren müsste, statt sich auf abstrakte Moralität zu berufen, die üblicherweise mit der Vorstellung verbunden ist, dass der eigene Beitrag minimal ausfällt.

9https://www.foreignaffairs.com/articles/south-america/2018-10-15/ venezuelas-suicide (abgerufen am 26. Mai 2019).

10Man muss eine realistische Einschätzung der aktuellen Wirksamkeit christlich-sozialer Lehren vornehmen. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller aus Princeton vermerkt: „The Europe of today is a creation of Christian Democrats. They were the architects of European integration and of postwar Atlanticism. And they were crucial in shaping the form of constitutional democracy that prevailed in the Western half of the continent after 1945 and has steadily been extended east since the fall of the Berlin Wall in 1989. […] Yet both as a set of ideas and as a political movement, Christian democracy has become less influential and less coherent in recent years. This decline is due not only to the continent’s secular turn. At least as important are the facts that nationalism – one of Christian Democrats’ prime ideological enemies – is on the rise and that the movement’s core electoral constituency, a coalition of middle-class and rural voters, is shrinking. As the larger project of European integration faces new risks, then, its most important backer may soon prove incapable of defending it.“ https://www.foreignaffairs.com/articles/western-europe/2014-07-15/end-christiandemocracy (abgerufen am 26. Mai 2019). D. h.: Die selbstverständlichen Bindungen und Zugehörigkeiten lösen sich auf, wie so viele sozialstrukturelle Gegebenheiten in der Postmoderne. Das hat zur Folge, dass die europäische Leitkultur, die europäischen Werte, die christlich-sozial geprägte Weltsicht unter den neuen Umständen zu artikulieren und zu adaptieren sind – aber das ist keine Neuigkeit, so ist die Geschichte nun einmal.

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