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Eigenverantwortung in christlich-sozialer Perspektive

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Manfred Prisching

Eigenverantwortung ist ein Orientierungsbegriff: Man möge die Initiative, die Autonomie, die Leistungsfähigkeit und die Verantwortlichkeit der Menschen nicht unterschätzen. Es geht um das richtige Maß zwischen den beiden Polen: einerseits der mündige, starke, reflexions- und handlungsfähige Mensch, andererseits der überlastete, schwache, hilfsbedürftige, manchmal auch dumme Mensch. Eigenverantwortung setzt Freiheit voraus, dabei respektiert sie den Menschen und seine Leistungen. Eigenverantwortung bedeutet weder radikalen Etatismus oder Paternalismus noch radikalen Neoliberalismus, sie forciert nicht Egoismus, prämiert aber auch nicht die billige (und manchmal gar nicht naive) Opferrolle. Sie anerkennt die Notwendigkeit solidarischer und staatlicher Unterstützung. Wie bei den meisten Beschreibungen eines guten und gelingenden Lebens geht es um das richtige Maß.

Wenn über moralisch-politische Sachverhalte gesprochen wird, pflegt es vor Leerformeln (Salamun 1975, 32 ff.) zu wimmeln. „Soziale Gerechtigkeit“ (Kirchschläger 2013) ist beispielsweise eine großartige, moralisch und politisch vielfach brauchbare Forderung, wenn sich jeder darunter etwas anderes vorstellen kann. De facto ist damit meist mehr (materielle) „Gleichheit“ (Kersting 2002) gemeint, politikpraktisch mündet die Forderung darin, dass „ich“ oder meine Klienten von „anderen“ im Dienste der Gerechtigkeitsverwirklichung Geld bekommen sollen. Auch Abwandlungen bieten wenig Hilfe: „Bedürfnisgerechtigkeit“ und „Befähigungsgerechtigkeit“ (Hecker 2013) versuchen, Maßstäbe einzuführen, aber die unterschiedliche Perspektive verlagert sich bloß. Man kann beliebige Bedürfnisse als legitim deklarieren oder sich unter „angemessenen Befähigungen“ Beliebiges vorstellen.1 „Soziale Gerechtigkeit“ kann deshalb heißen: Mindestsicherung senken (im Vergleich mit arbeitenden Menschen) oder erhöhen (mit Blick auf deren Bedürfnisse); Pensionen garantieren (man muss die Lebensleistung honorieren) oder einbremsen (man muss auch den nächsten Generationen etwas übrig lassen); Zölle einführen (um durch Schließung heimische Arbeitsplätze zu sichern) oder abschaffen (um durch Effizienzsteigerung und Wachstum heimische Arbeitsplätze zu sichern).

Grundsätzlich ist ähnliche Unbestimmtheit auch beim Begriffscluster Eigenverantwortung, Verantwortung, Selbstverantwortung, Verantwortlichkeit festzustellen; zumal im Kontext einer christlichen Soziallehre auch noch Begriffe wie Personalität, Subsidiarität und Solidarität für das Begriffsfeld eine Rolle spielen,2 die gleichfalls ein Problem benennen, aber allein als Vokabel wenig Hilfe für die Lösung dieses Problems bieten. Immerhin kann man Eigenverantwortung in der christlichen Sozialethik (Wilhelms 2010) als eine Art Orientierungsbegriff verstehen, in dem Sinne, dass persönliche Verantwortung zumindest als Desiderat benannt wird; oder umgekehrt: dass man auf Distanz geht zu einer Situation, in der den Individuen jede Verantwortung für ihr eigenes Handeln und Leben oder für das gemeinschaftliche Schicksal abgenommen wird. Es ist die Perspektivierung eines Problemfeldes, der Begriff schlägt eine Art von Prüfverfahren vor: Man möge, worum immer es sich im Konkreten handelt, die persönliche Initiative und Leistungsfähigkeit von Menschen nicht unterschätzen. Es ist ein semantischer Hinweis zur Aufmerksamkeitslenkung: Im Bedarfsfall sei zu prüfen, was man von Individuen erwarten darf, was ihnen zur freien Entscheidung überlassen oder zugestanden wird – oder wo man regulierend oder helfend eingreifen muss. Eigenverantwortung heißt nicht: die Menschen allein lassen, gottvertrauend oder sozialdarwinistisch. Aber Eigenverantwortung gibt den Hinweis: Man möge nicht von vornherein beim Auftreten eines beliebigen Problems vorschreiben, entlasten, Menschen entmündigen, Paternalismus üben. In dieser Spannung steht der Begriff: einerseits der autonome, mündige, starke, reflexions- und handlungsfähige Mensch, andererseits der überlastete, bedrängte, verunsicherte, schwache, auf andere angewiesene, manchmal auch dumme Mensch.3

Die Wirklichkeit spielt sich normalerweise dazwischen ab. Manchmal sind die Individuen stark und erfolgreich; aber dann haben sie Schicksalsschläge zu erleiden und sind in konkreten Situationen auf Beistand angewiesen. (Wir vertrauen auf Leistungsstärke, aber bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit braucht man Hilfe.) In Abstufungen ist jeder betroffen; selbst wenn man auf dem Lebensweg gut unterwegs ist, schätzt man die Krankenversicherung, die Straßenbahn und die polizeilich erzeugte Sicherheit. Jedenfalls ist dies in Europa der Fall, nicht unbedingt in den USA – es gibt Differenzierungen in der „westlichen Wertegemeinschaft“. Im Falle der genannten Beispiele: In den (in vieler Hinsicht im Vergleich zu Europa „christlicheren“) USA hält man nicht viel von einer gemeinsamen Krankenversicherung, ebenso wenig schätzt man ein öffentliches Verkehrssystem, und schließlich beruht auch die öffentliche Sicherheit vermeintlich darauf, dass man hinreichendes Schießwerkzeug im Hause hat. „Amerikanische Eigenverantwortung“ bedeutet deshalb: private und deshalb für viele unbezahlbare Krankenversicherung, das eigene Auto anstelle eines öffentlichen Verkehrssystems und den Colt bei der Hand haben. Die „europäische Eigenverantwortung“ würde man anders verstehen.

Grundsätzlich setzt Eigenverantwortung ein bestimmtes Modell des Menschen voraus: Sie verweist auf die Fähigkeit, die Bereitschaft und die Pflicht der einzelnen Menschen, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu übernehmen; sich also Aktivitäten und Ergebnisse zuschreiben zu lassen und für sie einzustehen; die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen. Es ist ein aktives Menschenbild: der Mensch als Tätiger, nicht nur als Erleidender; als Gestalter der Welt, nicht nur als Hineingeworfener; als aktives Mitglied einer Gesellschaft, auch im Sinne demokratisch-liberaler Teilnahme, nicht nur als Mitläufer, Unterworfener, Untertan, „Patient“, „Stimmvieh“.

Christlich-soziale Signaturen

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