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Eigenverantwortung wird reduziert durch staatliche Inpflichtnahme

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Menschen haben unterschiedliche Kompetenzen, sie können sich auf unterschiedliche Ressourcen stützen, sie kommen aus unterschiedlichen Milieus, sie haben unterschiedliche Lebensgeschichten, sie sind unterschiedlichen Risiken ausgesetzt, sie geraten in unterschiedliche Situationen. Eigenverantwortung ist begrenzt durch das, was den Menschen jeweils zumutbar und durch sie in der Lebenspraxis leistbar ist. Das Komplement zur Eigenverantwortung ist die (notwendige) Verantwortung der Gemeinschaft. Damit liegt der Bezug zur Solidarität auf der Hand.

Eine christlich-soziale Haltung ist mit einer Anerkennung der dynamischen Errungenschaften einer europäisch-marktwirtschaftlichen Ordnung verbunden, aber sie geht auf Distanz zu den Auswüchsen exzessiver Wirtschaftsfreiheit. Die Menschheitsgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Gewalt, sondern auch eine Geschichte der Ausbeutung, und die schlecht gestalteten globalisiert-finanzialisierten Märkte der späten Moderne (Wiemeyer 2010) neigen gleichfalls zur maximalen „Abschöpfung“. Das zeigen die Statistiken über Polarisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte. Seit dem Entstehen der Industriegesellschaft geht es um das stete Ringen, wie unter jeweils aktuellen Umständen der Kapitalismus domestiziert werden kann, um seine kreativen und wohlstandstreibenden Kräfte zu nutzen, ohne entwürdigende Folgen, Unverschämtheiten und Lähmungen ausufern zu lassen. Seit langer Zeit nennt man das Modell „Soziale Marktwirtschaft“ – eine Rahmenordnung, die einerseits die dynamischen Kräfte eines Marktes nutzt, ermöglicht, fördert, und andererseits ein Leben in Sicherheit und Würde für alle Teilnehmer gewährleistet (Issing 1981; Müller-Armack 1976; Rüstow 1960).

Man kann die Eigenverantwortung untertreiben und übertreiben. (a) Man untertreibt sie, wenn man die vollständige Daseinsvorsorge als Aufgabe des Staates festlegt – Etatismus, Paternalismus, wohlfahrtsstaatlicher Autoritarismus; Betreuungsmentalität; Unmündigmachung. (b) Man übertreibt sie, wenn man unter Bezugnahme auf pauschale Freiheitspostulate oder vermeintliche Leistungsträgerschaften Marktergebnisse nicht korrigieren will – dann befinden wir uns beim Brutalkapitalismus, nicht beim schlanken, sondern beim magersüchtigen Staat, bei der Privatisierung von gemeinschaftsnotwendiger Fürsorge. Manche nennen es „Neoliberalismus“. Im Streit der Weltsichten werden Notlagen dann als bloße Ergebnisse von Faulheit oder Disziplinmangel angesehen – Dispositionen, die im Einzelfall natürlich tatsächlich vorkommen können und deren Leugnung wiederum unrealistisch-ideologisch wäre.

Das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft besteht darin, dass man die Kräfte der Menschen, vor allem ihre kreativen Fähigkeiten, nach Tunlichkeit wirken lässt, dass man aber die Risiken, die sich mit der Natur des Menschen und mit den Gefährdungen durch das System verbinden, abfedert und Notlagen beseitigt (Kaufmann 2004, 2019). Soziale Marktwirtschaft bedeutet also nicht nur die Beschreibung eines Regelsystems, sondern verweist auf normative Vorstellungen. Die europäische Ausprägung des Sozialstaates (oder Wohlfahrtsstaates) ist eine genuine Innovation (Becker 1994; Herder-Dorneich 1982; Kaelble/Schmid 2004; Strasser 1983). Wenn Vergleiche mit den USA angestellt werden, dann wird etwa das großartige System einer europäischen Krankenversicherung (mit all den Unterschieden in verschiedenen Ländern) immer wieder herausgestellt. Es ist kein Beispiel für gelingende Eigenverantwortung, wenn man, um die erforderliche Magenoperation zu finanzieren, sein Haus verkaufen muss.

Zwangsläufig ist immer umstritten, in welchem Ausmaß kollektive Vorkehrungen getroffen werden oder Problemlösungen dem Einzelnen überlassen werden sollten; aber das kann gerade in einer ebenso komplexen wie turbulenten spätmodernen Gesellschaft nicht anders sein. Doch das „Subsidiaritätsprinzip beruht auf der anthropologischen Prämisse, dass das Gelingen des menschlichen Lebens nicht in erster Linie vom Sozialleistungssystem abhängt, sondern von der Bereitschaft und der Fähigkeit des einzelnen Menschen, Initiativen zu ergreifen, Anstrengungen auf sich zu nehmen und Leistungen zu erbringen.“ (Spieker 2000, S. 319). Eine solche Maxime verpflichtet ein sozialstaatliches System, das Notwendige zu tun, aber sie entlastet es auch davon, alle wahrnehmbaren Probleme lösen zu müssen. Sie hat zudem eine Forderung an die Wählerschaft: „Sie gebietet auch dem Bürger, sein Verlangen nach sozialstaatlichen Leistungen zu zügeln, ständig zu überprüfen und auf Leistungen zu verzichten, die er gar nicht nötig hat oder die ihren Zweck – Hilfe zur Selbsthilfe – erreicht haben.“ (Spieker 2000, S. 321). Das richtet sich gegen die Maxime: „Herausholen, was herauszuholen ist, solange es die anderen zahlen.“

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