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2. Verwundbarkeit und die Grenzen der Gemeinschaft

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Ein zweiter Aspekt der Gerechtigkeitsdiskussion: Jede Gemeinschaft hat Mitglieder, die in besonderer Weise benachteiligt oder verwundbar sind. Es sind Mitglieder, die sich vor dem Handeln anderer und vor widrigen Ereignissen weniger gut schützen können. Paul Formosa hat Verwundbarkeit charakterisiert mit den Worten „to be susceptible to harm, injury, failure, or misuse“.6 Verwundbarkeit impliziert, dass X einem Einfluss Y, der durch Z herbeigeführt wird, unterworfen werden kann. In den Worten Robert Goodins: „vulnerability amounts to one person being able to cause consequences that matter to the other“.7 Wieder anders gesagt durch Joel Anderson: „A person is vulnerable to the extent to which she is not in a position to prevent occurrences that would undermine what she takes to be important to her“.8 Wir tragen in unserem Leben Risiken, die wir nicht auf Null reduzieren können. Verwundbarkeit ist mehr als ein Wissen, „dass etwas passieren“ könnte“. Verwundbarkeit als „capacity to be wounded“9 meint „existentielles Wissen um Anfälligkeit für Wunden“; anders gesagt: ein tief greifendes Wissen um die Möglichkeit, dass eigene Integrität beschädigt wird. Verwundbarkeit ist Wissen um die Vorläufigkeit unsere Identität.10 Verwundbarkeit ist die Einsicht, dass das, was unsere Identität ausmacht, beschädigt oder zerstört werden kann. Wir können uns gegen Risiken zwar zu schützen suchen – doch diese Strategien der Risikominimierung sind ungleich verteilt und Ausdruck sozialer Positionen und damit eine Frage der Gerechtigkeit. Damit sind wir wieder beim ersten Punkt, dem Aspekt einer Gemeinschaft: Wir sind auf eine Gemeinschaft angewiesen, auf eine Gemeinschaft, in der sich verwundbare Menschen gegenseitig fordern und schützen. Die eigene Verwundbarkeit anzuerkennen, bedeutet ein relationales Verständnis von Autonomie zu akzeptieren.11 Die Verletzbarkeit anderer Menschen anzuerkennen heißt, einen Sinn für „Care“ zu entwickeln. Daraus entsteht ein besonderer Nährboden für einen moralischen Sinn: „It is dependency and vulnerability rather than voluntary acts of will which give rise … to our most fundamental moral duties“12 Das „Gerechtigkeitsempfinden“, so die Aussage, hat mit der Erfahrung von Vulnerabilität zu tun.

Der europäische Wert der Gerechtigkeit wird nachhaltig in seiner Glaubwürdigkeit durch den Umgang mit besonders verwundbaren Menschen erschüttert – einerseits „ad intra“: Der Umgang mit sozialer Ausgrenzung und Mechanismen der Marginalisierung innerhalb Europas (etwa Roma und Sinti); andererseits „ad extra“: Der Umgang mit besonders verwundbaren Menschen, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind. Flüchtlingsdramen erinnern uns an den pragmatischen Widerspruch zwischen Gerechtigkeitsrede und Ungerechtigkeitstun. Das Drama um ertrinkende Flüchtlinge steht für einen Stachel im Wohlstandsbauch Europas. Ich will nur ein Beispiel anführen, bewusst fast zehn Jahre alt, weil gleichzeitig zeigt, wie wenig sich in enier Dekade in dieser Frage verändert hat, da dieses Drama sich seit 2005 dutzende Male wiederholt hat, auch im Jahr 2014, dem Jahr des Erscheinens dieses Buches: Ende September 2005 versuchten hunderte afrikanische Flüchtlinge in den europäischen (spanischen) Enklaven auf nordafrikanischem Boden, Ceuta und Melilla, in einer beispiellosen Aktion über den vier Meter hohen Doppel-Grenzzaun nach Europa vorzudringen. „Dutzende schnitten sich an den scharfen Klingen des Z-Drahtes die Hände und Arme auf, brachen sich die Knochen beim Fallen oder wurden von marokkanischen und spanischen Sicherheitskräften verletzt. “13 Es war eine lange geplante Aktion, die auch mit dem systematischen Ausbau des Zaunes auf sechs Meter Höhe seit dem Sommer 2005 zusammenhing. „Einige von uns haben schon zwei, drei Jahre im Wald von Ben Younech gelebt, und wir alle waren am Limit, wir konnten nicht mehr. Wir haben uns auf einen Massenansturm geeinigt. Wir wussten zwar genau, dass dabei einige sterben und viele nicht durchkommen würden, aber zumindest ein paar konnten es so schaffen“, erzählt der 19-jährige Faly aus Guinea-Bissau.“14 In ihrem Ausmaß und dem kurzen Strohfeuer des medialen Scheinwerferlichts war das Geschehen einzigartig. Die Tatsachen von Flüchtlingsstrom und Mauerbau jedoch sind freilich sowohl in Bezug auf Europas Gegenwart, als auch in Bezug auf Europas Geschichte vertraut – und gleichzeitig unheimlich und die Idee einer glaubwürdigen Rede von Gerechtigkeit torpedierend.

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