Читать книгу Gerechtigkeit - Группа авторов - Страница 18

2. Freiheit oder Gleichheit

Оглавление

Wenn der Mensch wirklich das Maß der Dinge und mithin auch der Gerechtigkeit ist, wie Protagoras nahelegt, welches Attribut des Menschen könnte maßstabsbildend sein? Die bereits erwähnten Sophisten stritten darüber, ob Gerechtigkeit das Recht des Stärkeren und damit ein Schutz von Freiheit sei oder Gleichheit bedeutete. Kallikles fragte schon, ob es nicht natürlich sei, dass der Stärkere und talentiertere Mensch mehr Rechte haben solle als ein Schwacher28. Dem stand etwa Antiphon entgegen, der die Auffassung vertrat, alle Menschen seien von Natur gleich – auch die Barbaren29. Der Grund dafür liege in der gleichen Bedürfnisstruktur. Spätere Sophisten wie Sextus Empiricus hingegen waren skeptisch gegenüber derartig extremen Annahmen und trauten eher Kompromissen, die von Rhetoren ausgehandelt wurden. Mithin vertraten sie einen prozeduralen und institutionellen Ansatz der Gerechtigkeit. Damit trat wieder das Handeln des Menschen selbst ins Zentrum der Begründung der Gerechtigkeit.

Die Geschichte der Gerechtigkeitsdebatte seither kann und soll hier nicht nachgezeichnet werden. Es sollte daran erinnert werden, dass die gegenwärtige Debatte zwischen Liberalisten und Egalitaristen antike Vorläufer gleich zu Beginn der Entwicklung der Gerechtigkeitstheorien besaß. Für den Vorrang der Freiheit vor der Gleichheit in der Gerechtigkeitsdebatte streiten heute liberale Denker wie Robert Nozick oder Friedrich August von Hayek. Ihnen ist Freiheit das zentrale Kriterium der Gerechtigkeit30. Auf dem Markt der sich frei einigenden Privatrechts Subjekte wird die gerechteste Güterallokation erreicht. Verteilungsgerechtigkeit geht bei Nozick folglich auch nicht von einem den Individuen übergeordneten Staat als Akteur aus, sondern von den Individuen selbst, die in freiwillige Austauschbeziehungen eintreten. Der Staat beschränkt sich auf die Garantie der formal verstandenen Rechtsgleichheit. Nur ein Minimalstaat, der für Sicherheit und Frieden sorgt, ist danach gerechtfertigt. Eine Umverteilung findet nicht statt.

Wenn andere Theorien Anti-Diskriminierung und Umverteilung in den Vordergrund stellen, wird Gleichheit zum zentralen Kriterium der Gerechtigkeit31. Dabei entfaltet sich das Spektrum der Egalitaristen zwischen Positionen, die eine strikte Ergebnisgleichheit fordern und solchen, die zwar eine Gleichheit der Ressourcen verlangen, auf dieser Basis jedoch eine durch unterschiedliche Freiheitsbetätigung hervorgerufene Ungleichheit der tatsächlichen Lebensverhältnisse zulassen32. Ronald Dworkin lässt eines seiner Werke über Gerechtigkeit mit den Worten beginnen: „Equality is the endangered species of political ideals“33 und fährt fort34: „Equal concern and respect“ seien die beiden Elemente der Gerechtigkeit. Seine Theorie zielt auf eine Gleichheit der Ressourcen, die dem Hauptziel der Gerechtigkeit, der Entfaltung der Individualität dienen soll. Auch die Freiheit soll ihren Grund in der Gleichheit haben35. Darin unter anderem unterscheidet sich seine Theorie der Gleichheit und Gerechtigkeit von sozialistischen Konzeptionen. Auch hebt er die Verantwortung des Einzelnen für die Realisierung seiner Fähigkeiten hervor. Nur diejenigen Risiken, für die der Einzelne nicht verantwortlich ist und die er nicht vermeiden kann, können Gegenstand von Umverteilung sein. Dworkin berücksichtigt also Freiheit; im Konfliktfall mit der Gleichheit verliert sie jedoch: „Any genuine conflict between liberty and equality – any conflict between liberty and the requirements of the best conception of the abstract egalitarian principle – is a contest that liberty must lose. “36

Liberalisten und Egalitaristen erkennen zwar zentrale Aspekte der Gerechtigkeit, gewichten jedoch den jeweiligen Gesichtspunkt zu stark und verkennen den gemeinsamen Bezugspunkt beider Prinzipien. Wenn rechtliche Gerechtigkeit Freiheit bedeutete, könnten Liberalisten rechtfertigen, dass der Stärkere, Talentiertere mehr und der Schwächere, weniger Befähigte weniger Rechte hätte. Das Problem der sozialen und auch der rechtlichen Exklusion könnte so nicht bewältigt werden. Insbesondere könnten diese Theorien nicht verhindern, dass der Schwächere rechtlich unfähig ist, von seinen Rechten Gebrauch zu machen, so dass seine private und politische Autonomie gefährdet wären. Langzeitarbeitslose und behinderte Personen mögen in eine Situation geraten, in der sie bereit sind, jeden Vertrag abzuschließen und nicht nur einen, den sie aus Freiheit abschließen würden. Im Extremfall hätten sie für Verträge zu wenig zu bieten, um den Abschluss für Arbeitgeber attraktiv zu machen. Ohne eine gewisse Umverteilung, die ihre Freiheitsdefizite kompensieren würde, hätten sie mithin keine wirkliche rechtliche Freiheit.

Auf der anderen Seite würde ein radikales Abstellen auf Gleichheit nicht nur der Lebenschancen, sondern auch der Lebenslagen die individuelle Selbstbestimmung und die Entfaltung der menschlichen Potentiale gefährden. Kontrahierungszwänge, Schutzrechte können die Abschlussfreiheit des Schwächeren bei der Eingehung von Verträgen stärken; diejenige des sozial Stärkeren jedoch schwächen. Beide Theorien der Gerechtigkeit – Gerechtigkeit als unbeschränkte Freiheit und Gerechtigkeit als unbeschränkte Gleichheit – bringen die Gefahr, den Einzelnen zum Objekt der Gerechtigkeit zu machen. Die Theorie von Gerechtigkeit als Freiheit unterwirft Behinderte und Schwache der Wohlstandsoptimierung der Stärkeren; das Modell der Gerechtigkeit als Gleichheit behandelt die Schuldner der Umverteilung und noch mehr der Antidiskriminierung als Mittel für objektivistische Ziele. Nur: Alles was der Einzelne zu verantworten hat, rechtfertigt eine Ungleichheit, sofern ihm die Beseitigung möglich ist. Maßnahmen zur Beseitigung von Diskriminierungen, die sich auf ererbte oder nicht änderbare Nachteile beziehen, sind danach gerechtfertigt. Auch derjenige, der sich etwa durch einen Unfall bei einer gefährlichen Sportart erwerbsunfähig gemacht hat und dafür nicht vorsorgen konnte, hat einen Anspruch auf Leistungen, die ihn befähigen, wieder am Rechtsverkehr teilzunehmen. Macht man Menschen jedoch gleich, obwohl sie durch den Gebrauch ihrer Freiheit mehr erreicht haben als andere, greift man in ihre Freiheit ein. Gesichtspunkte der Gerechtigkeit können diesen Eingriff zur Herstellung von Chancengleichheit rechtfertigen. Doch wie weit reicht diese Rechtfertigung? Ist es auch gerechtfertigt, benachteiligte Menschen gleichzustellen, obwohl sie sich dank ihrer Freiheit selbst helfen können? Egalitaristische Theorien können zu einer Entmündigung der Bürger führen, weil sie die Freiheit vernachlässigen, die Grundlage der Mündigkeit ist37.

John Rawls hatte versucht, diese Einseitigkeiten zu vermeiden und zudem Freiheit und Gleichheit in ein Konzept der Verfahrensgerechtigkeit einzubinden. Würden bei der Gestaltung der Ausgangsbedingungen des Verfahrens zur Bestimmung der grundlegenden Gerechtigkeit die Kenntnisse über persönliche Ungleichheiten ausgeblendet, würden sich rationale Egoisten auf zwei Grundsätze der Gerechtigkeit einigen38. Der erste sichert ein System gleicher Freiheiten. Der zweite soll garantieren, dass die daraus entstehenden Ungleichheiten zu jedermanns Vorteil gereichen und jedermann gleichen Zugang zur Konkretisierung zu diesen Gerechtigkeitsgrundsätzen erhält39. Bereits die lexikalische Ordnung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze bei Rawls stellt einen Versuch dar, die Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit auszugleichen und zudem noch den prozeduralen Aspekt der Gerechtigkeit zu berücksichtigen. Wenn jedoch Gerechtigkeit weder Freiheit noch Gleichheit ist, bleibt die Frage, wie viel Gleichheit und wieviel Freiheit gerecht sind.

Immanuel Kant hatte schon früher einen Ansatz für die Vermittlung dieser beiden Aspekte vorgelegt. Danach sind der Schutz der gleichen Freiheit und des prozeduralen Aspekts der distributiven Gerechtigkeit in der gleichen Freiheitsfähigkeit des Menschen begründet. Zu Beginn seiner Rechtstheorie vereint er Freiheits- und Gleichheitsaspekt der Gerechtigkeit und bezieht sie auf die Würde des Menschen. Dem römischen Kaiser und Juristen Ulpian40 folgend, unterscheidet er drei grundlegende rechtliche Pflichten:

1) Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive). Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica) bestehet darin: im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ‚mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck‘.

In der Selbstzwecklichkeit aber liegt die Würde des Menschen begründet.

2) Tue niemanden Unrecht (neminem laede). 3) Tritt (wenn du das letztere nicht vermeiden kannst) in eine Gesellschaft mit andern, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue) … Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann« (lex iustitiae).41

Kant bringt damit die Menschenwürde mit der Forderung zusammen, mit anderen in Rechtsverhältnisse zwischen freien Subjekten zu treten. Das Privatrechtsverhältnis ist sodann durch die ausgleichende Gerechtigkeit, das öffentlich-rechtliche Verhältnis durch die austeilende Gerechtigkeit gekennzeichnet. Die Würde des Menschen ist danach die Grundlage sowohl der Rechtsform und der Stellung des Menschen in dieser als auch der Gerechtigkeit ihrer Regelungen. Auf dieser Grundlage bestimmt Kant das angeborene, also aller positiven Gesetzgebung – und auch völkerrechtlicher Anerkennung – vorausliegende ursprüngliche Recht als „ein einziges“:

Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen Kraft seiner Menschheit zustehende Recht.42

Freiheit ist nach Kant das Recht, das seinen Grund in der Menschheit in der Person des Menschen besitzt. Hieraus folgt dann die „angeborne Gleichheit“. Sie besteht darin, gleiche Freiheitsrechte zu haben, insbesondere sein eigener Herr zu sein. Dazu gehört auch das Recht, nicht Verpflichtungen unterworfen zu sein, denen der dadurch Berechtigte nicht grundsätzlich auch unterworfen werden könnte. Liegt auch der Schwerpunkt dieser gleichen Freiheitsrechte auf der Unabhängigkeit, also der negativen Freiheit, so bringt das letztgenannte Recht doch zugleich einen Aspekt der Partizipation zum Ausdruck. Ausdrücklich sagt Kant, dass für die Geltung des ursprünglichen Rechts der Freiheit kein Akt der Anerkennung erforderlich ist. Es handelt sich mithin um ein natürliches Recht. Wenn aber Erkenntnis und Anerkenntnis der Menschheit in jedem Menschen zweifelhaft geworden sind – in der Theorie wie in der sozialen Praxis – dann bedarf die Sicherung dieses ursprünglichen Rechts einer ausdrücklichen Anerkennung und Bekräftigung. Die Anerkennung der Menschheit in der Person des Einzelnen wird dann selbst zum subjektiven Recht. Die naturrechtliche Forderung der Anerkennung des aus der Würde des Menschen entspringenden Rechts erhält dann eine positivrechtliche Form43.

Die Würde des Menschen ist also nach Kant die Grundlage der Gerechtigkeit von Personen, die sich als Freie und Gleiche anerkennen, sich auf dieser Basis gegenseitig nicht verletzen und in einen Staat der austeilenden Gerechtigkeit eintreten44.

Gerechtigkeit

Подняться наверх