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IV. Der Fähigkeitenansatz

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An Rawls anknüpfend ist in der Gegenwart besonders der Fähigkeitsansatz der Gerechitgkeit von Amartya Sen45 und Martha Nussbaum darum bemüht, auf die Frage des Ausgleichs von Freiheit und Gleichheit innerhalb der Gerechtigkeit eine Antwort auf der Basis der Menschenwürde zu finden.

In ihrem Buch Die Grenzen der Gerechtigkeit kritisiert Martha Nussbaum die Vertragstheorien der Gerechtigkeit, weil sie behinderte Menschen und arme Angehörige eines Staates der Dritten Welt sowie Tiere aus dem Reich der Gerechtigkeit ausschließen46. Dieser Ausschluss ist nicht eine reine Nachlässigkeit – Rawls berücksichtigt diese Gruppen sogar –, sondern folgt aus den Prämissen der Vertragsgerechtigkeit. Ihrer Auffassung nach verbindet der Rawlsianische Kontraktualismus die Hume’sche Theorie der gerechten Ausgangsbedingungen mit der Locke’schen Theorie des Sozialvertrages als Fundament einer institutionellen Gerechtigkeit und einem Kantischen Konzept der menschlichen Person in einer unheiligen Allianz. Insbesondere nimmt Rawls an, dass der ursprüngliche Gesellschaftsvertrag als Basis der sozialen Gerechtigkeit wechselseitige Vorteile bringen solle, ohne die niemand die entsprechenden Verpflichtungen eingehen und sie in einer dauerhaften Kooperation befolgen würde47. Diese Annahme mache jedoch Verträge mit Schwerbehinderten, armen Angehörigen von Dritte-Welt-Ländern, die in einem Vertrag nichts anzubieten haben, unmöglich48. Behinderte, Angehörige armer Staaten und Tiere werden von Rawls nicht völlig ausgeklammert, auch für sie soll es Kriterien des Wohlverhaltens geben. Sie sind aber nicht an der primären Vertragskonstruktion beteiligt, da sie nicht zur Gruppe derjenigen Menschen gehören, „für die und in wechselseitiger Beziehung mit der diese Institutionen aufgebaut werden“49. Es gibt allenfalls (materiale) Gerechtigkeit für sie, nicht jedoch (prozedurale) mit ihnen. Die Kantische Konzeption der Würde beruhe auf einer Theorie der Rationalität des Menschen, die einerseits notwendig sei, um überhaupt Verträge schließen zu können, die jedoch jedenfalls geistig Behinderte und „nicht-menschliche Tiere“ ausschließe50.

Nussbaum nimmt an, dass das zugrundeliegende Konzept der Gerechtigkeit die Würde des menschlichen Lebens sein müsse51. Sie legt einen Begriff der Person zugrunde, demzufolge „Menschen verletzliche und zeitgebundene Wesen [sind, SK], die Fähigkeiten und Bedürfnisse haben, durch vielfältige Behinderungen ‚einer Totalität der menschlichen Lebensführung bedürftig‘ sind“ (Rawls)52. Nussbaum geht also nicht vom Kantischen Begriff der Würde des Menschen, sondern vom marxistischen und aristotelischen Begriff der würdigen Existenz bzw. der menschenwürdigen Lebensbedingungen aus53. Dennoch will sie an der Selbstzwecklichkeit des Menschen festhalten54, verrät aber nicht, wie sie begründet werden soll, wenn dazu Vernunft- und Freiheitsfähigkeit ausfallen. Die Bedürftigkeit des Menschen führt Nussbaum nicht zur Annahme seiner Unfreiheit. Da sie ihn jedoch als „menschliches Tier“ versteht, ist auch die Eigenschaft der Freiheit nicht auf ihn beschränkt: „Der Fähigkeitenansatz betont die tierischen und materiellen Grundlagen der menschlichen Freiheit und nimmt außerdem von einer größeren Anzahl von Lebewesen an, daß sie zur Freiheit fähig sind“55.

Das menschenwürdige Leben setzt die Erfüllung einiger Bedürfnisse und die Gewährleistung bestimmter Fähigkeiten voraus. Fähigkeiten seien „elementare Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger … als notwendige Bedingungen für ein achtbares und menschenwürdiges Leben“56. Auf der Basis dieser Annahme erarbeitet sie eine Liste von elementaren Fähigkeiten, die Gerechtigkeit schützen soll57: Leben, Gesundheit, körperliche Integrität, die Fähigkeit Vorstellungen und Gedanken zu haben, Emotionen zu entwickeln, praktische Vernunft, Zugehörigkeit, die Fähigkeit zu spielen und seine Umwelt zu kontrollieren. Sie nimmt an, dass die Liste dieser Fähigkeiten als Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens ist nicht abgeschlossen.

Fraglich ist jedoch, wie bestimmt werden kann, welche Fähigkeiten so elementar sind, dass sie für ein menschenwürdiges Leben notwendig sind und auf die Liste gehören. Es fehlt ein Kriterium, aufgrund dessen die entsprechende Fähigkeit ein notwendiger Aspekt des menschenwürdigen Lebens ist. Was ist die Fähigkeit, die allen von Nussbaum aufgelisteten Fähigkeiten, sofern sie Eigenschaften des Menschen sind, zugrunde liegt? Beim Leben kommt es auch Nussbaum nicht auf das bloße Funktionieren eines beliebigen Körpers an; vielmehr geht es ihr um den individuellen menschlichen Körper. Individuell ist dieser Körper jedoch nicht deshalb, weil er nicht dieselbe Stelle im Raum einnimmt wie andere, sondern dadurch, dass der einzelne Mensch über ihn verfügen kann. So ist es die autonome Verfügung über diesen Körper, die zu schützen und zu fördern ist. Das schließt die Achtung der Entscheidung gegen das Leben als negative Freiheit ein. – Was der Mensch für sich als gesund ansieht, steht nicht objektiv fest. Anhänger von Naturheilverfahren, anthroposophischer oder chinesischer Medizin werden einen anderen Begriff von Gesundheit haben als stärker naturwissenschaftlich orientierte Menschen. Es kommt somit auch bei der Gesundheit auf die Autonomie in Bezug auf die Bestimmung der Gesundheit an. – Die Fähigkeit, sich Vorstellungen von der Welt zu bilden, setzt die Fähigkeit voraus, sich überhaupt selbständig Vorstellungen machen zu können, das heißt insbesondere von Indoktrination frei zu sein. Auch hier steht die Freiheit im Zentrum der Fähigkeit. – Gefühle sollen nicht aufgrund von fremdgesteuerten Ängsten, sondern durch die sympathische Beziehung einer Person auf ihre Vorstellungen von der Welt entstehen können. Wiederum geht es um ein Moment der Freiheit. – Da die Vorstellung vom Guten ein Spezialfall der Vorstellungsbildung ist und diese auf der freien Konkretisierung von Begriffen anhand von Wahrnehmungen besteht, liegt auch hier die Freiheit zugrunde. – Anteilnahme, Zugehörigkeit, Kontrolle der Umwelt, insbesondere auch der Gemeinschaften, in denen man lebt, sind Ausdruck der aktiven Freiheit bzw. der privaten und politischen Autonomie des Menschen. – Dass das Spiel der genuin menschliche Ausdruck von Freiheit ist, hat Schiller in seinen Ästhetischen Briefen gezeigt58. Nussbaum spricht auch vom „elementaren Gut der Selbstachtung“59. Das Selbst ist aber nicht es selbst, wenn es von einem anderen – fremdbestimmt – hervorgebracht wird. Auch die Achtung vor sich selbst ist die primäre Selbstachtung, die dann die Grundlage für die Achtung des Selbsts durch andere ist. Mithin setzt also auch diese Fähigkeit der Freiheit voraus.

Allen Fähigkeiten liegt die Fähigkeit zur Freiheit zugrunde. Freiheit meint als negative Freiheit Unabhängigkeit der Ausbildung und Realisierung der genannten Fähigkeiten von Beeinträchtigungen. Aufgrund der positiven Freiheit erkennt und bestimmt der Mensch sich selbst und bildet und entwickelt seine Fähigkeiten. Diese positive Dimension der Freiheit gliedert sich in die private und die politische Autonomie. Da nun aber die Realisierung dieser Fähigkeiten durch äußere biologische und soziale Faktoren behindert und beschränkt sein kann, richtet sich die Forderung von Achtung und Schutz dieser Fähigkeiten auf die Entfaltung der Freiheitspotentiale des Menschen60. Bei behinderten Menschen wird die Realisierung dieses Potentials durch ihre körperliche oder psychische Konstitution verhindert. Ebenso haben etwa die Bewohner Brasilianischer Favelas oder andere sehr arme Menschen in Dritte-Welt-Ländern dieses Potential, können es jedoch nicht realisieren, da ihr einziges Interesse ist, überhaupt zu überleben und sich gegenüber permanenter Bedrohung durch Gewalt oder Unterversorgung zu schützen. Mit anderen Worten gibt es körperliche und geistige Hürden und gesellschaftliche Situationen, die die Entfaltung der Freiheitspotentiale verhindern.

Auf der Suche nach einem vermittelnden Prinzip von Freiheit und Gleichheit haben mithin Kant, Rawls und Nussbaum mit freilich unterschiedlichen Bedeutungsgehalten das Prinzip der Würde des Menschen angeführt. Bei Nussbaum konnte gezeigt werden, dass das gemeinsame Prinzip derjenigen Fähigkeiten, deren Schutz und Förderung für ein menschenwürdiges Leben erforderlich sind, die Freiheitsfähigkeit des Menschen ist. Mithin liegt sowohl bei Kant als auch bei Nussbaum die Fähigkeit des Menschen zur Freiheit – mit unterschiedlichem Verständnis – der Würde des Menschen zugrunde.

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