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„Der Mensch ist das Maß der Dinge… “ – Dimensionen rechtlicher Gerechtigkeit I. Der Homo-Mensura-Satz des Protagoras

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Platon zitiert im Dialog Theaetet den Sophisten Protagoras mit dem Gedanken, „der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind“1. Die Bedeutung des Satzes ist bis heute umstritten. Einerseits könnte ein erkenntnistheoretischer Subjektivismus gemeint sein: Die Dinge sind zunächst so, wie der einzelne Mensch sie empfindet2. Andererseits könnte der Satz normativ bedeuten, dass die Bedürfnisse des Menschen Maßstab für das Handeln sein sollen. Wenn die Erkenntnis des Menschen aufgrund seiner perspektivischen Wahrnehmung subjektiv ist, wäre die weitere Frage, ob dies auch für die Ethik gilt: Haben mithin notwendig alle Menschen unterschiedliche Empfindungen von Gerechtigkeit?

In der sogenannten Apologie des Protagoras erhält der Satz nämlich eine überraschende Wendung: Die Aufgabe des Weisen sei es nicht, denjenigen, der Falsches vorstelle, von der Wahrheit zu überzeugen, vielmehr werde er darauf hinwirken, dass dieser Mensch gesund ist und das hat, was er für ein gesundes Urteil benötigt, denn dann wird er „durch gute Seelenverfassung auch gute Vorstellungen“ bilden3. Dem könnte Sokrates sogar zustimmen4, weil der Sophist wie er selbst, den Einzelnen trotz seiner subjektiven Empfindungen, durch Fragen, Reflexionen und auch Rhetorik dahin bringen kann, selbst zu erkennen, was gerecht für ihn und den Staat ist. Wie der Arzt einem Kranken, der an Wahnvorstellungen leide, nicht sage, dass seine Vorstellungen Unsinn seien, sondern ihn heile, damit er selbst erkennen könne, was richtig sei, so würde auch der Philosoph und Staatsmann die Gerechtigkeitsvorstellungen des Menschen nicht korrigieren, sondern ihn in die Lage versetzen, selbst zu beurteilen, was gerecht ist. Als praktisch Handelnder wird dann der Mensch seinerseits den Dingen sein Maß aufgeben.

Während aber Protagoras jedem Menschen kraft seines Menschseins das Urteil auch über die Gerechtigkeit der Gesetze zutraut, ist das Ergebnis des sokratischen Disputs, dass wirkliche Erkenntnis des Gerechten nur die Weisen haben5. Im Erkennen der Gerechtigkeit hat somit der Weise nach Sokrates die bessere Expertise als jedermann; das bedeutet aber nicht, dass er sich damit auch durchsetzen wird; denn aufgrund entsprechender Fähigkeiten und Ausbildung obsiegt der Rhetor vor Gericht und in der Volksversammlung über den Philosophen6. Diese Erkenntnis erlaubt neben der erkenntnistheoretischen und der normativen noch eine dritte Interpretation des Homo-Mensura-Satzes: Im Theaetet ist Sokrates anders als Protagoras nicht der Auffassung, der Mensch als solcher sei entscheidend für die Gerechtigkeit; vielmehr komme es auf den jeweiligen Kontext der Gerechtigkeit an: Der Arzt sei der Fachmann für die Gesundheit, der Philosoph für die Erkenntnis der Gerechtigkeit und der Rhetor für ihre Realisierung. In der Tat entspricht dies auch dem platonischen Gerechtigkeitsbegriff: Die Ordnung des Körpers des Menschen ist dann gerecht, wenn jeder Seelenteil das Seine tut und nicht in die Funktionen eines anderen eingreift; die staatliche Ordnung ist dann gerecht, wenn jeder Stand – die Gewerbetreibenden, die die politische Ordnung Schützenden, die Philosophenkönige – dasjenige tut, wozu er am besten geeignet ist7.

Sokrates lehnt also nicht einfach die Ansicht des Protagoras, wonach der Mensch das Maß der Dinge sei, als falsch ab, sondern differenziert sie: Derjenige, der kraft seiner Seelenverfassung und deren Ausbildung für den entsprechenden Bereich Experte ist, ist das Maß für den in diesem Bereich zu realisierenden Aspekt der Gerechtigkeit. Gesellschaftliche Differenzierung ermöglicht somit durchaus die Erkenntnis und Realisierung verschiedener Aspekte von Gerechtigkeit, die insgesamt die Gerechtigkeit besser realisieren, als wenn der Anspruch erhoben würde, sie meine überall dasselbe.

Weil Platon jedoch den Menschen noch insgesamt als Teil eines Standes ansieht und ihn nicht wie in modernen funktional differenzierten Systemen kraft Kommunikation an allen Systemen partizipieren lässt, zerfällt das Maß in die standesmäßig geschiedenen Menschen, deren Gleichheit nur darin besteht, überhaupt einem Stand anzugehören und deren Freiheit sich darauf beschränkt, das Standesgemäße zu realisieren. Die eigentümliche Vermittlung von Relativismus des Subjekts des Maßes und Objektivität in der Aussage selbst in Protagoras‘ Satz vom Menschen als Maß der Dinge wird von Platon also gesamtgesellschaftlich vermittelt: Indem jeder das Seine tut, erkennt und schafft er Gerechtigkeit für die Gesellschaft. So wenig wie der Systemtheorie8 gelingt es ihm aber, dem Menschen als eines Wesens, das sich zu dem machen kann und muss, das es sein will, trotz der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der Gerechtigkeit, gerecht zu werden. Darüber hinaus fehlt beiden Ansätzen aber der Zugang zu einem zentralen Aspekt des Rechts. Recht ist auf Freiheit gegründet und soll Freiheit schützen9. Es umfasst daher den Menschen weder in seiner ganzen sozialen Existenz wie bei Platon noch schließt es ihn gänzlich aus und akzeptiert von ihm lediglich das losgelöste Abstraktum der kommunikativen Operationen10.

Es könnte sich mithin herausstellen, dass zur Erkenntnis der Gerechtigkeit im demokratischen Rechtsstaat weder die erkenntnistheoretische Interpretation des Homo-Mensura-Satzes von der Subjektivität der praktischen Erkenntnis noch die ethische Interpretation des Menschen als Maßstabs ausreichend sind, sondern beide verbunden werden müssen: Wegen der Subjektivität der Erfahrung müssen diskursive Wege gefunden werden, damit begründete Entscheidungen darüber möglich sind, was Gerechtigkeit für den Menschen bedeutet. Immerhin legt es die platonische Auffassung der Gerechtigkeit nahe, einen institutionalisierten Aspekt von Gerechtigkeit von ihr als Tugend zu unterscheiden. Gerechtigkeit mag in unterschiedlichen sozialen Systemen Unterschiedliches bedeuten. Daher werden sich die folgenden Ausführungen auf den Aspekt der rechtlichen Gerechtigkeit konzentrieren. Ich werde also zunächst die rechtliche Form der Gerechtigkeit analysieren. Sodann werde ich Aspekte der Gerechtigkeit diskutieren und dabei die von den Sophisten angestoßene Diskussion von Freiheit und Gleichheit beleuchten. Ihre nicht befriedigenden Resultate mag der Fähigkeiten-Ansatz von Martha Nussbaum zu vermeiden, dem ich mich im dritten Teil zuwende. Die Grenzen ihres Ansatzes liegen in seiner Begründung. Hier setze ich mit der Kritik ihres Begriffes von Menschenwürde an und werde dabei im letzten Abschnitt auf Protagoras zurückkommen. Die Einführung der Würde des Menschen als sowohl materiales Prinzip als auch als Grundlage von Verfahrensgerechtigkeit soll zudem ausschließen, dass unterschiedliche Bedeutungen von Gerechtigkeit in unterschiedlichen sozialen Systemen auch zu einer unterschiedlichen rechtlichen Behandlung des Menschen führen.

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