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3. Die Innenseite der Gerechtigkeit: Gerechtigkeitssinn

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Die zitierte „Opinion 27“ der EGE hat von einem „Sinn für Solidarität“ gesprochen. Hier befinden wir uns in einem Bereich, den man die „Innenseite der Gerechtigkeit“ nennen könnte. John Rawls hat die Idee einer wohlgeordneten Gesellschaft auf einen geteilten Gerechtigkeitssinn, eine gemeinsame Vorstellung von Gerechtigkeit basieren lassen. Eine wohlgeordnete Gesellschaft liegt nach Rawls dann vor, „wenn sie nicht nur auf das Wohl ihrer Mitglieder zugeschnitten ist, sondern auch von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung wirksam gesteuert wird. “15 Eine wohlgeordnete Gesellschaft beruht auf einem hinreichend großen gemeinsamen Boden, der Institutionen und Einzelne derart miteinander verbindet, dass er die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen auf Grundsätze der Gerechtigkeit verpflichtet und eine Person X Grundsätze der Gerechtigkeit anerkennen und X darauf vertrauen lässt, dass die anderen diese Grundsätze auch anerkennen. Hier sind „Sinn“ und „Vertrauen“ Aspekte einer „intangiblen Infrastruktur“. Rawls bezeichnet einen gemeinsamen „Gerechtigkeitssinn“ als das Fundament, das eine Gesellschaft in ihrer Wohlordnung konstituiert. Diese Wohlordnung ist gegenüber Feinden dieser Wohlordnung (etwa in Gestalt von gefährlicher Intoleranz) zu verteidigen16: „Eine Gerechtigkeitsvorstellung ist stabiler als eine andere, wenn der von ihr erzeugte Gerechtigkeitssinn stärker ist und sich eher gegen schädliche Neigungen durchsetzt, und wenn die ihr entsprechenden Institutionen zu schwächeren Antrieben und Versuchungen führen, ungerecht zu handeln. “17 Stabilität zeigt sich darin, dass die Umsetzung einer Gerechtigkeitsvorstellung auch unter sich wandelnden oder gar widrigen Umständen aufrecht erhalten werden kann. Die tragende Mehrheit der Gesellschaft muss den Wunsch haben, gemäß den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu handeln. Mit der Rede von „Wünschen“ sind wir in einem „inneren Bereich“ von Haltungen und Grundeinstellungen. Hier ist die Moralphilosophie auf einen Dialog mit der Moralpsychologie angewiesen, was sich bei Rawls auch daran zeigt, dass er sich in Auseinandersetzung mit Theorienansätzen Freuds und Piagets Gedanken darüber macht, wie dieser Wunsch nach der Verwirklichung von Gerechtigkeit zustande kommt und stabil gehalten werden kann.18

Gemeinsame Vorstellungen, Überzeugungen und Wahrnehmungen spielen auch, um eine europäische Gerechtigkeitstheorie heranzuziehen, in der Gerechtigkeitskonzeption von David Miller eine entscheidende Rolle.19 Miller führt, ähnlich wie Rawls, die Rede vom „Gerechtigkeitssinn“ ein: „Alle moralisch kompetenten Erwachsenen haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der sie befähigt, die praktischen Fragen zu bewältigen, mit denen sie Tag für Tag zu tun haben. “20 Menschen, die nach Gerechtigkeit streben, müssen sich auf ein das Alltagshandeln anleitende Ideal geeinigt haben.21 Erst auf dieser gemeinsamen Grundlage kann Gerechtigkeit realisiert, ja diskutiert werden. „Soziale Gerechtigkeit setzt die Idee einer Gesellschaft voraus, die aus wechselseitig voneinander abhängigen Teilen besteht, die eine das Geschick jedes einzelnen Mitglieds beeinflussende institutionelle Struktur hat und in der eine Instanz wie der Staat zu planvollen Reformen im Namen der Fairness imstande ist. “22 In Millers Konzeption steht fest, dass „alle politischen Konzepte … von Hintergrundannahmen darüber geprägt [sind], was menschliches Leben lebenswert macht. “23 Hier sind also Überzeugungen und Wahrnehmungsmuster den expliziten und systematischen Diskussionen vorgelagert. Gerechtigkeit verlangt bestimmte Haltungen und Einstellungen: „Die Menschen brauchen sich in ihrem Handeln zwar nicht bewusst der sozialen Gerechtigkeit zu verschreiben, aber sie müssen einsehen, dass soziale Gerechtigkeit ihr Verhaltensrepertoire einschränkt … Es muss … eine Kultur der sozialen Gerechtigkeit geben, die nicht nur die wichtigsten Institutionen durchdringt, sondern auch das Verhalten der Menschen außerhalb ihrer Rollen in formalen Institutionen einschränkt. “24 Diese Haltungen müssen also internalisiert worden sein, um als gute Gewohnheiten wirksam werden zu können. Hier befinden wir uns in jenem Bereich, der in der Sprache von Innerlichkeit zu beschreiben ist. Überzeugungen sind die Motoren von Gerechtigkeitspraktiken: „Wenn wir sagen, dass alle Menschen gleiche politische Rechte genießen sollten, sagen wir dies nicht, weil es keine Unterschied zwischen ihnen gibt, die eine ungleiche Zuteilung rechtfertigen würden oder weil wir unserem Unterscheidungsvermögen in der Praxis nicht trauen, sondern weil es für uns ein positiver Wert ist, dass in diesem Bereich Gleichheit herrscht. “25 Die „Anziehungskraft von Gleichheit“26 ist wohl auf der Ebene geteilter Wahrnehmung anzusiedeln, auf der Ebene moralischen Empfindens. Hier zeigt sich bei Miller ein Punkt, der für den europäischen Wertediskurs von entscheidender Bedeutung ist – welche Bezugsgemeinschaft soll ins Auge gefasst werden? Miller appelliert an die Idee eines Nationalstaates als eines Gebildes, das so zugeschnitten ist, „dass seine Bürger ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl empfinden“; ein „nationales Zusammengehörigkeitsgefühl“ erzeugt „für alle, die es teilen, Solidaritätsbande, die stark genug sind, religiöse, ethnische und andere individuelle Unterschiede zu überspielen“.27 Auch hier befinden wir auf der Ebene moralischen Empfindens, allerdings mit einer klar bestimmten Identifikationsfläche. Dies sind präzise Diskussionspunkte, die die Europäische Union als Wertegemeinschaft tangieren – wie kann dieses „innere Moment“ für Europa oder gar über die Grenzen Europas hinweg erzeugt und damit jener Aspekt von Gerechtigkeit geschaffen werden, den die EGE Opinion 27 als „Sinn für Solidarität“ beschrieben hat.

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