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Littératures à rayonnement limité – weniger verbreitete Literaturen
ОглавлениеPaul van TieghemTieghem, Paul van, der erste Historiker der französischen Komparatistik, spricht bereits in seinem 1931 erstmals veröffentlichten Band La littérature comparée von littératures à rayonnement limité, also von weniger verbreiteten Literaturen. Bezeichnend für die erste Phase der Schule der französischen Komparatistik war der Fokus auf internationale und vergleichende Literaturgeschichtsschreibung. In seinem Buch plädiert van Tieghem für die gleichwertige Anerkennung weniger verbreiteter Literaturen, wenn er fordert, dass die vergleichende Literaturhistoriographie ihnen ihren gleichmäßigen Platz einräumen soll. Anstatt sie in Kurznotizen oder in Addenda-Kapiteln auszulagern, sollte der Beitrag kleiner Literaturen in der allgemeinen Entwicklung der Literatur hervorgehoben werden, indem man sie und ihre wichtigsten Vertreter konkret mit den großen modernen Literaturen in Zusammenhang bringt (Van Tieghem [1931] 1946: 205–206). Ein ähnlich inklusiver Ansatz wurde schon von Hugó von MeltzlMeltzl, Hugo von verfolgt, der zwischen 1877 und 1888 das erste komparatistische Journal Acta Comparationis Litterarum Universarum (kurz ACTA) in Cluj herausgegeben hat. Meltzls Grundidee war darauf ausgerichtet, das komparatistische Prinzip für Goethes kosmopolitische Konzeption von Weltliteratur fruchtbar zu machen und es so von den reduzierenden und nationalistischen Auffassungen, denen es in diesem Zeitalter nationaler Literaturgeschichtsschreibung unterworfen war, zu emanzipieren (DamroschDamrosch, David 2008: 48). Meltzl war sich der Konsequenzen, die der Machtkampf zwischen Europas führenden Literaturen für die Sichtbarkeit kleiner Literaturen hatte, bewusst und sah in der Vergleichenden Literaturwissenschaft ein geeignetes Mittel, diese auf der internationalen Ebene zu fördern. So schreibt er in der ersten Ausgabe der ACTA:
Our secret motto is: nationality as individuality of a people should be regarded as sacred and inviolable. Therefore, a people, be it ever so insignificant politically, is and will remain, from the standpoint of comparative literature, as important as the largest nation. The most unsophisticated language may offer us most precious and informative subjects for comparative philology. (Meltzl [1877] 2009: 45)
Die Gleichstellung der Literaturen der Welt, wie sie hier gefordert wird, spiegelt sich in der ACTA in der Nebeneinanderstellung von Essays und Volksliedern auf Armenisch, Gälisch und Aztekisch mit Texten aus den damals dominierenden Literatursprachen wider.
Wie in Meltzls Ausführungen dargestellt wird, ist der Topos der Unbekanntheit kleiner Literaturen, welcher sozioliterarisch betrachtet ein literatursystemisches und weltliterarisches Problem ist, nicht zuletzt dem Bekanntheitsgrad der jeweiligen Literatursprachen geschuldet, wie es die Formulierung ,literatures in lesser known languages‘ festhält. Letztere verdeutlicht die Korrelation zwischen dem Status und dem Bekanntheitsgrad der Sprachen und folglich der limitierten Sichtbarkeit von Literaturen in diesen Sprachen. Um zu veranschaulichen, wie die Verbreitung von Sprache und Literatur zusammenhängt, kann auf Abram de SwaansSwaan, Abram de Words of the World. The global language system (2001), eine linguistische Untersuchung zum ökonomischen Wert der Sprachen, hingewiesen werden. De SwaanSwaan, Abram de unterteilt die Sprachen der Welt in eine vierstufige Hierarchie und ordnet sie in den Kategorien ‚hyperzentrale‘, ‚superzentrale‘, ‚zentrale‘ und ‚periphere‘ Sprachen an. Als hyperzentrale Sprache identifiziert er das Englische, zu den superzentralen Sprachen zählen Arabisch, Chinesisch, Französisch, Deutsch, Hindi, Japanisch, Malaiisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Swahili und Türkisch. Über die etwa 100 zentralen Sprachen schreibt de Swaan, dass sie von 95 % der Weltbevölkerung gesprochen werden und allgemein in Bildungseinrichtungen, den Medien und der Verwaltung verwendet werden. Zudem handele es sich um die ‚nationalen‘ Sprachen unabhängiger Staaten. Als periphere Sprachen gelten 98 % aller Sprachen der Welt, die von weniger als 10 % der Weltbevölkerung gesprochen werden. Im Gegensatz zu den zentralen Sprachen sind periphere Sprachen als Sprech- und Erzählsprachen, nicht aber als Lese- und Schriftsprachen, als Gedächtnis- und Erinnerungssprachen, nicht aber als Aufzeichnungssprachen zu verstehen (De Swaan 2001: 4–6). Das von de Swaan angewandte Zentrum-Peripherie-Paradigma und die in ihm implizierten Dominanzstrukturen spielt, wie wir noch sehen werden, für die Untersuchungen zu der Verortung kleiner Literaturen in der Weltliteratur eine führende Rolle.