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Ein- und Mehrsprachigkeit literarischer Systeme

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Marko Juvan (Ljubljana)

Abstract: Drawing on YildizYildiz, Yasemin’s recent book on multilingualism and BeecroftBeecroft, Alexander’s work on the ecology of world literature, the present study focuses on the tendency of the social system of literature to reduce multilingualism in favour of either a single mother tongue (‘national’ literary language within national literary systems) or a single world language (within the world literary system). Whereas world literature initially evolves as a multilingual and autonomous system that is believed to transcend national literatures because of its universal values, particular national literatures fashion their individuality in the international space and having regard to the aesthetic transcendence of world literature. In late modern Europe, national literary systems normally show the transition from vernaculars functioning in a multilingual context (usually dominated by a cosmopolitan language) to monolingualism dominated by the ‘national’ literary language, whose standardisation underpins the public sphere of a particular national community. On the other hand, the world literary system is originally multilingual. Foregrounding multidirectional translation, world literature requires cosmopolitanism and polyglottism from its mediators. However, due to the asymmetric distribution of cultural capital, the world literary system tends towards monolingualism; that is, the global hegemony of world languages. Contrary to the cores of literary systems, national and global alike, which lean toward monolingualism, the systemic margins reproduce and even stimulate multilingualism (e.g. minority, regional or mobile literary practices).

Keywords: literary systems, world literature, national literature, multilingualism, monolingualism

Globalisierung ist ein allgemein verbreiteter Euphemismus für die Hegemonie der multinationalen Konzerne in den Händen der transnationalen Plutokratie, den schnellen Transfer von Finanzkapital, für Migration und die ungezügelte Ausbeutung von peripheren Arbeitskräften und Arbeitsmitteln, die neoliberale Unterminierung der Nationalstaaten und die militärische Vernichtung ungehorsamer Peripherien. In der Ideologie ihrer Metropolen erzeugte die sogenannte Globalisierung neben der Theorie und Praxis der Multikulturalität ein weiteres Phänomen: Auch in der Literaturwissenschaft verbreitet sich in letzter Zeit die These, das literarische Schaffen werde zunehmend mehrsprachig, oft auch sprachlich hybrid, sodass es sich in ein transnationales Phänomen im Spannungsfeld zwischen der Vorherrschaft des Englischen im literarischen Welt-System einerseits und der Polyzentralität und Mobilität der Schriftstellerinnen und Schriftsteller andererseits verwandle (vgl. Yildiz 2012: 1–29; Dembeck/Parr 2017: 10–17; Gilmour/Steinitz 2018: 1–15). Doch genau so verhält es sich mit dem Schrifttum in Europa bereits von der archaischen Zeit über die Antike und das Mittelalter bis hin zur frühen Neuzeit, nicht nur in der Literatur des Westens, sondern auch in anderen Zivilisationen (vgl. Forster 1970).

Blickt man zurück in die Vergangenheit des heutigen Slowenien und seiner näheren Umgebung, so stößt man zwangsläufig auf viele Spuren von Mehrsprachigkeit. Neben den Freisinger Denkmälern (Brižinski spomeniki), der Sitticher Handschrift (Stiški rokopis) und den anderen Dokumenten des Schrifttums der Sprache, die im 19. Jahrhundert unter dem Namen Slowenisch standardisiert wurde, können die lateinischen und deutschen Handschriften für den kirchlichen und weltlichen Gebrauch nicht übersehen werden. Primož TrubarTrubar, Primož, der als Wegbereiter der slowenischen Literatur gilt, schrieb seine Briefe und die Vorworte zu seinen reformatorischen Schriften auf Deutsch, der Kaisersprache des Heiligen Römischen Reiches. Als solche war das Deutsche neben dem Lateinischen und Italienischen auch bei anderen Schreibern in Krain in Verwendung, angefangen von der Gegenreformation und dem Barock, über die Aufklärung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel bei dem Universalgelehrten Johann Weichard ValvasorWeichard Valvasor, Johann, dem slowenischen Komödienschreiber Anton Tomaž LinhartLinhart, Anton Tomaž und sogar dem sog. Nationaldichter France PrešerenPrešeren, France. Diese Kultursprachen ermöglichten den Gelehrten die Arbeit in der europäischen ‚literarischen Republik‘. Davon zeugen die handschriftlichen Nachlässe Valvasors, Johann Ludwig Schönlebens, Siegmund Herbersteins, der Mitglieder der Academia operosorum in Ljubljana (Vidmar 2013), vor allem aber jene des Aufklärers Žiga ZoisZois, Žiga und des „Patriarchen der Slawistik“ Jernej KopitarKopitar, Jernej (Vidmar 2010).

Und heute? Die Dezentralisierung der slowenischen Standardsprache kann bereits seit den umstürzlerischen Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts verfolgt werden, welche im Umfeld der Studentenbewegung den ökonomisch-wirtschaftlichen Status quo zum Bröckeln brachten, und zwar auch mithilfe der theoretischen und literarisch-künstlerischen Dekonstruktion von allem, was bis dahin eine zentrale Position innehatte, von der herrschenden Partei und der bipolaren Weltordnung bis hin zur Literatursprache und Nationalliteratur, zum Kunstwerk und zur kohärenten Struktur des Textes. Der Dichter Tomaž ŠalamunŠalamun, Tomaž gehörte zu den ersten, die in literarische Texte umgangssprachliche, englische, italienische und serbokroatische Elemente einflochten, der Dichter und Dramatiker Milan JesihJesih, Milan sowie der Schriftsteller Marko ŠvabićŠvabić, Marko fügten alldem noch slowenische literarische Archaismen hinzu. Mit ihrem Spiel der Signifikanten, ihrem Ludismus, öffneten sich die Türen der Literatur für die Pluralisierung und Hybridisierung der slowenischen Literatursprache mit Fragmenten aus Dialekten, Soziolekten, benachbarten Sprachen und Weltsprachen sowie der ‚Kreolsprache‘ der Zuwanderer. Dennoch blieb die Autorenfunktion innerhalb des slowenischen literarischen Systems sowohl damals als auch in den folgenden Jahrzehnten noch jenen verwehrt, die für ihre Arbeit und ihre Publikationen nicht die slowenische Standardsprache verwendeten und nicht die slowenische Staatsbürgerschaft besaßen. Sogar Literaturschaffende der slowenischen Volksgruppen in Italien, Österreich oder Ungarn wurden im literarischen Feld des sog. Mutterlandes – ungeachtet der ihnen von Zeit zu Zeit verliehenen Literaturpreise – mehrheitlich eher an den Rand gedrängt. Bis zum kürzlich erfolgten internationalen Durchbruch der Triester literarischen Autorität Boris PahorPahor, Boris traten sie nicht als exponierte Protagonisten auf, welche die slowenische künstlerische Entwicklung und politische Geschichte mitbestimmen. Auch die slowenische Dialektliteratur konnte keine wirklich bemerkbare Strömung erzeugen, sondern wurde als kurzfristige Nische innerhalb des postmodernen Ethno-Angebots angenommen.

Seit der Erlangung der Unabhängigkeit des Staates Slowenien machen sich im literarischen Feld auch Autorinnen und Autoren bemerkbar, die (teilweise) einen Migrationshintergrund haben und zweisprachig sind. Josip OstiOsti, Josip, Lidija DimkovskaDimkovska, Lidija, Goran VojnovićVojnović, Goran und andere haben sich mit Publikationen in slowenischer Sprache in die Medien, Institutionen und Verbände des slowenischen literarischen Systems integriert; als slowenische Autoren setzen sie sich auch international durch. Jene Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund, die nicht auf Slowenisch schreiben und publizieren, sind jedoch immer noch ghettoisiert. Dies liegt einerseits an der Trägheit des „monolingualen Paradigmas“ (der Begriff stammt von YildizYildiz, Yasemin (2012)), das derartige Phänomene als Emigrations- bzw. Migrationsliteratur bezeichnet, d.h. als dislozierte Einheit aus anderssprachigen literarischen Systemen (vgl. Žitnik Serafin 2008).Žitnik Serafin, Janja1 Ihren Teil zur Exklusion haben in Slowenien auch die Fremdenfeindlichkeit und die Überlegenheitskomplexe gegenüber dem sog. Balkan beigetragen, die als Phänomen des nesting orientalism (Bakić-Hayden 1995) ebenso in anderen aus den Trümmern des Ostblocks und des blockfreien Jugoslawien entstandenen Staaten bekannt sind.

Wenn also bereits ein oberflächlicher Blick offenbart, dass die Literatur in Slowenien nie lediglich einsprachig slowenisch war, wie kann man sich dann erklären, dass wir uns trotz der noch bis vor Kurzem den Diskurs der Political Correctness beherrschenden Idee der Multikulturalität2 so hartnäckig an die Vorstellung klammern, dass sich jede Schriftstellerin und jeder Schriftsteller nur in der sog. Muttersprache authentisch ausdrücken könne, und dass jedem einzelnen Volk nur eine einzige Literatursprache und Literatur gehörten? Warum betrachten wir auch die Weltliteratur als Verbindung nationaler Literaturen in voneinander unterscheidbaren Sprachen, die ebenso räumlich getrennt und abgezählt werden können? Bei der Beantwortung dieser Fragen stütze ich mich auf zwei aktuelle Konzeptionen – auf YildizYildiz, Yasemin’ (2012) Kritik des „monolingualen Paradigmas“ und BeecroftsBeecroft, Alexander (2015) „Ökologie der Weltliteratur“ – und stelle die Problematik in einen breiteren historisch-theoretischen Kontext zwischen BachtinsBachtin, Michail (1979: 154–300) Idee der Heteroglossie und systemischen Zugängen (Even-Zohar 1990).

Michail Bachtin betont die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der Redevielfalt als diskursive Situation im Gegensatz zur einheitlichen Rede und Monologizität, d.h. der Vorherrschaft einer Rede über alle anderen. Die Redevielfalt bringt im Gegensatz zur Monologizität die Dialogizität hervor. Durch die Konfrontation, Verflechtung, Interaktion und Kreuzung unterschiedlicher Sprachen öffnet sich die Gesellschaft, die Durchsetzung unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen und konfliktträchtiger ideologischer Perspektiven wird ermöglicht. Somit nähert sich die (dialogisierte) Bedeutungsstruktur des gesellschaftlichen Diskurses an die unvollendete Komplexität der Wirklichkeit an, weshalb sie im wahrsten Sinne des Wortes modern, gleichzeitig zum Geschehen der Wirklichkeit selbst wird. Auch Itamar Even-ZoharEven-Zohar, Itamar betont in seiner Polysystemtheorie – darin interpretiert er das Kommunikationsschema bedeutungsvoll in Kategorien des Marktes – die evolutionäre Rolle der Heteroglossie, der Heterogenität und der Interferenzen, d.h. der Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Sprachen und Systemen. Mit Interferenzen könne nach Even-Zohar die Stagnation in den Systemen, die sich ansonsten an ihr eigenes Repertoire klammern und zu erstarren drohen, überwunden werden. Vor dem Hintergrund von Bachtins und Even-Zohars Auffassungen, welche die Mehrsprachigkeit als Triebfeder der literarischen Entwicklung sowie als Kriterium für Modernität betrachten, stellt sich noch viel dringlicher die Frage, warum gerade die schon seit etwa 200 Jahren vorherrschenden modernen literarischen Systeme (die nationalen literarischen Systeme und das literarische Welt-System) in ihrer Entwicklung von der Mehrsprachigkeit zur Einsprachigkeit strebten.

Sowohl Yasemin YildizYildiz, Yasemin als auch Alexander BeecroftBeecroft, Alexander weisen die feste Formel ‚Eine Sprache – ein Volk – eine Literatur‘ zurück. Selbst eine Sprache, die über eine eindeutige ethnische Denomination und sprachwissenschaftliche Standardisierung verfügt, ist tatsächlich nur eine von mehreren dialektal, funktional und soziolektal varianten Praktiken, welche durch einige phonologische, morphologische, lexikalische und syntaktische Merkmale zu einer Einheit verbunden werden. Die Standardvariante nimmt im sprachlichen Diasystem aufgrund ihrer durch die Verschriftlichung und die Medien unterstützten Normierung, Stabilität und allgemeinen Verbreitung, noch mehr aber aufgrund ihrer Repräsentativität bei der Gestaltung und Verbreitung von für den Bestand des Staates, der Religion, der Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit bedeutenden Inhalten eine zentrale Stellung ein. Die innere Schichtung und Varianz, in der die einzelne Sprache lebt, wird durch die Durchlässigkeit zwischen ihren Dialekten und den Dialekten der Nachbarsprachen noch zusätzlich verkompliziert. Die Abgrenzungen zwischen ihnen sind nicht linguistischer Art, sondern das historische Produkt von Ideologien sowie geopolitischen und religiösen Faktoren. Nicht zuletzt haben auch langfristigere Kontakte zwischen den Sprachen unterschiedlicher Völker, zu welchen es aufgrund von Migrationen, Eroberungen oder der Herrschaft des einen Volkes über andere kam, in jede Sprache auch fremdsprachige Beimengungen gebracht; demzufolge ist keine Sprache rein und autonom.

Ähnlich wie mit den Sprachen verhält es sich mit den Literaturen der Welt. Obwohl der Begriff Literatur zweifellos moderner und europäischer Herkunft ist, möchte uns BeecroftBeecroft, Alexander (2015: 8–14) davon überzeugen, dass eine nicht-eurozentrische Erörterung dieses Phänomens nichtsdestotrotz möglich sei, existierten doch auch in anderen Zivilisationen Konzeptionen, welche – ähnlich der europäischen Ästhetik ab dem 18. Jahrhundert – einen Diskurs hervorbringen, der anspruchsvoller gestaltet und schwerer begreifbar für ein gebildetes Publikum bestimmt und imaginativ sei. Literatur ist also etwas Universelles. Und was ist mit den Literaturen, könnte man mit Beecroft (2015: 14–17) fragen. Gehört jede Literatur einer räumlich und ethnisch festgelegten Gemeinschaft?

Johann Wolfgang von GoetheGoethe, Johann Wolfgang von, der nach August Ludwig von SchlözerSchlözer, August Ludwig von, Historiker der Aufklärung und Begründer des Begriffs Weltliteratur, ebendiesen in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts unter den europäischen Weltbürgern verbreitete, stellte sich im Aufsatz Epochen geselliger Bildung im Jahr 1831 die weltweite Entwicklung des literarischen Schaffens als Abfolge von der „idyllischen“ Epoche der engen, sprachlich selbstgenügsamen Gemeinschaften bis zur kommenden „universellen“ Epoche der weltweiten kulturellen Interaktion vor (Goethe 1999: 554–555). Nach ähnlichen Überlegungen über verschiedenartige soziale Gemeinschaften, innerhalb welcher in unterschiedlichen Zeitabschnitten und Zivilisationen die Wortkunst lebte, integrierten im 20. Jahrhundert die vergleichenden Literaturwissenschaftler Dionýz ĎurišinĎurišin, Dionýz (1984: 273–308; 1992: 109–138) und Irina NeupokoevaNeupokoeva, Irina (2012) das Konzept der Nationalliteraturen in ein System von Begriffen für sozialgeschichtliche Einheiten der literarischen Kommunikation; solche Begriffe sind zum Beispiel der Stamm, der antike und mittelalterliche Stadtstaat, die mittelalterliche Ethnie, die moderne Minderheit, die regionale Zone oder die interliterarische Gemeinschaft, welche durch Sprache, Religion, geographische Lage oder einen staatlich-politischen Rahmen verbunden ist. In der heutigen Zeit, die erstaunlicherweise auch in der Geisteswissenschaft zwischen dem transnationalen Trieb der (neo)liberalen Globalisierung und einem neu erweckten Nationalismus und Rassismus des rechtspopulistischen Widerstands gegen die Globalisierung pendelt, versucht mit ähnlichen Kategorien wie Neupokoeva und Ďurišin auch Alexander BeecroftBeecroft, Alexander die tief verwurzelte Annahme in Frage zu stellen, dass die Nationalliteratur das Elementarteilchen der Weltliteratur sei. In der Geschichte des Nordens und Südens, des Ostens und Westens der Welt schält er nämlich neben dem nationalen noch viele andere „Ökosysteme“ des Literaturkreislaufs heraus, welche die Weltliteratur geprägt haben. Er nennt sie die epichorische, panchorische, kosmopolitische, vernakuläre, nationale und globale Literatur (Beecroft 2015).

Archaische isolierte Gemeinschaften, zum Beispiel die griechische Polis oder die altchinesischen Stadtstaaten, gehen laut BeecroftBeecroft, Alexander von der sog. epichorischen zur panchorischen Ökologie über, sobald sich ihr selbstgenügsames Schrifttum und ihre Sprache über die gemeinsame Schrift und mythologisch-historische Vorstellungswelt oder über andere Gemeinsamkeiten mit ähnlichen Gemeinschaften in der näheren oder weiteren Nachbarschaft verbinden. Der zwischen ihnen stattfindende Austausch von Artefakten und Erzählungen, in welchen die Attribute der einzelnen Poleis und Gegenden zusammengefasst sind, schafft das Bewusstsein einer gemeinsamen sprachlich-kulturellen Zugehörigkeit, in welcher die lokalen epichorischen Kulturen eine Rolle erhalten, die über ihren Raum hinausgeht, so zum Beispiel im antiken Panhellenismus und dessen System von regional-dialektal markierten Stilen und Genres. Die sog. kosmopolitischen Ökologien, charakteristisch auch für das römische Imperium oder das islamische Kalifat, entstanden in Gebieten, wo jahrhundertelang eine prestigeträchtige Religions- oder Herrschaftssprache vorherrschte und verschiedene Völker, die ansonsten unterschiedliche lokale Sprachen verwendeten, miteinander verband. Aus den kosmopolitischen Ökologien entstanden später (in Europa ab dem späten Mittelalter) zahlreiche vernakuläre Ökologien, denen BeecroftBeecroft, Alexander besondere Aufmerksamkeit widmet. In diesen statteten die Gelehrten nach dem Vorbild der kosmopolitischen Sprachen die heimischen Sprachen mit einer passenden Schrift aus, normierten sie grammatikalisch und verwendeten sie bewusst als Ausdruck einer höheren Kultur, vor allem der Literatur. Wie die Beispiele Martin Luthers und Primož Trubars zeigen, entstanden die Vernakulare oftmals aus den Bedürfnissen religiöser Bewegungen wie der Reformation, aufgrund derer es zur Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen kam, die damit auf die literatursprachliche Ebene gehoben wurden. An den Ausgangspunkten der vernakulären Manifeste, wie BeecroftBeecroft, Alexander DantesAlighieri, Dante Aufsatz De vulgari eloquentia oder Du BellaysBellay, Joachim Du Apologie La Défense et illustration de la langue française nennt, begannen sich die dem Lateinischen als Sprache der kosmopolitischen literarischen Republik untergeordneten Volkssprachen in ihrem Bestreben, die ungleichen Schichten der engeren ethnisch-sprachlichen bzw. religiösen Gemeinschaften gleichermaßen anzusprechen und zu verbinden, literarisch zu verselbstständigen. BeecroftBeecroft, Alexander erklärt in weiterer Folge, wie sich, basierend auf der vernakulären Ökologie und unter dem Einfluss der bürgerlich-revolutionären Idee von der Souveränität der Nation und des deutschen Kulturnationalismus, in Europa die nationalen Ökologien verbreiteten. Die Nationalismen brachten im langen 19. Jahrhundert retrospektive Interpretationen hervor, welche die ältere literarische Produktion (vor allem die vernakuläre) als Beweis für die kontinuierliche hundertjährige Geschichte einer erdachten Nation heranzogen. Gerade innerhalb dieser ideologischen Konstellation, die sich aus Johann Gottfried von HerderHerder, Johann Gottfried von und Wilhelm von Humboldt speiste, erhärtete sich auch das „monolinguale Paradigma“, von dem YildizYildiz, Yasemin (2012: 1–4) spricht. Die nationale literarische Ökologie zeichnet sich nämlich durch ihre Vorstellung aus, die „Muttersprache“ sei die natürliche Ausdrucksform des Sprachkünstlers und Identitätsmarker des Volkes, welchem eben jener von Geburt angehört; einzig und allein in der Muttersprache ist der Geist eines Volkes, seine unverwechselbare Eigenart, verkörpert (ebd.: 6–14).

Meinen Feststellungen zufolge begann sich die globale Ökologie, die nach BeecroftBeecroft, Alexander erst für den heutigen Kreislauf der Literatur in den Weltsprachen auf dem internationalen Buchmarkt typisch ist,Beecroft, Alexander3 bereits parallel zur nationalen Ökologie herauszubilden, wenngleich ich BeecroftsBeecroft, Alexander These zustimme, dass die heutige globale Ökologie das System der modernen Nationalliteraturen als Elemente der Weltliteratur noch übertrifft. BeecroftBeecroft, Alexander vergisst, dass gerade das Konzept der Weltliteratur, das im 19. Jahrhundert gemeinsam mit den Nationalliteraturen eingeführt wurde (JuvanJuvan, Marko 2012: 153–160), bereits Ansätze der Marktglobalisierung enthielt, welche damals den literarischen Kreislauf und Austausch zu bestimmen begann. Das exklusive Paar „national – weltweit“, durch das die Vorstellung von der Weltliteratur als internationaler Literatur geschaffen wurde, geht auf Goethes meistbeachtete Definition der Weltliteratur zurück. GoetheGoethe, Johann Wolfgang von führt nämlich die Weltliteratur im Gespräch mit EckermannEckermann, Johann Peter als neue Entwicklungsstufe der Wortkunst ein, auf welcher die Nationalliteratur ihre Bedeutung verliert.4 Er sieht sie als Ankündigung einer Epoche, in welcher die angebliche Selbstgenügsamkeit der Nationalliteratur – eines von HerderHerder, Johann Gottfried von Ende der Sechzigerjahre des 18. Jahrhunderts eingeführten Begriffs – durch den Kontakt der gebildeten bürgerlichen Eliten aus verschiedenen Teilen der Welt sowie den durch Handel und Übersetzungen bedingten Austausch von literarischen Gütern zwischen den Völkern, Sprachen und Zivilisationen überwunden wird. Eine derartige Interaktion mit dem Andersartigen sowie die Suche nach dem „allgemein Menschlichen“ sollte nach Goethe auch die einzelnen Sprachen und Literaturen schöpferisch erneuern. Andererseits erahnte er in seinen ökonomischen Metaphern bereits die Umrisse des internationalen Literaturmarktes, auf dem die nicht gleichberechtigten Nationalliteraturen sowie die Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ungleichen Sprachen nicht nur ihre geistigen Waren austauschen und sich so in wechselseitigem Verständnis und Dialog gegenseitig befruchten, sondern auch miteinander konkurrieren und um die Gleichberechtigung auf Ebene der kulturellen Ökonomie kämpfen. Mehr noch, Goethe sah als Anhänger einer kosmopolitischen kulturellen Aristokratie sogar die Gefahr voraus, dass der transnationale Buchmarkt einer trivialen Massenproduktion den Vorzug geben könnte, die sich mit ihrer ästhetisch unwürdigen Uniformität bei den Massen beliebt machen würde (Goethe 1999: 866–867; Juvan 2012: 121).

Wie ich an anderer Stelle im Detail erörtere, begründete GoetheGoethe, Johann Wolfgang von seine Idee der Weltliteratur im halbperipheren, zersplitterten Deutschland, das scheinbar hinter Frankreich und England, dem Zentrum der westlichen Welt, zurückblieb (Juvan 2012: 109–111). Als kosmopolitische Utopie, in welcher sich die Begeisterung über einen internationalen Kulturmarkt mit der Idee von der ästhetischen und interliterarischen Kultivierung einer allgemein menschlichen Ethik verflicht, brachte sie einen andauernden Metadiskurs über die Universalität der Weltliteratur hervor – jedoch, und das ist symptomatisch, aus einem partikulären, nationalistischen Blickwinkel. Goethe sah nämlich im Kreislauf der literarischen Werke über nationale und sprachliche Grenzen hinaus sowie im Aufschwung des geistigen Austausches eine Gelegenheit dafür, dass sich eine halbperiphere Nationalliteratur, was die deutsche seiner Ansicht nach war, sowohl mit ihrer Original-Produktion als auch mit ihren Übersetzungs- und Vermittlungskompetenzen international durchsetzt; immerhin war das Deutsche eine kaiserliche, zahlreichen kleineren Sprachen überlegene Sprache.

Auch die Praxis der Weltliteratur, die mit Übersetzungen, Inszenierungen, Kritiken und ähnlichen Rezeptionsformen die wirksame Präsenz literarischer Werke außerhalb ihres heimatlichen Umfeldes ermöglichte (vgl. Damrosch 2003: 4), entwickelte sich ab dem 19. Jahrhundert vor dem Horizont des Metadiskurses über die Wortkunst als ästhetisch autonomem Raum für den sprachlich-kulturellen Austausch zwischen den Völkern und Zivilisationen weiter. Wie Pascale CasanovaCasanova, Pascale (1999: 155) betont, waren die Nationalliteraturen im langen 19. Jahrhundert zwischen zwei Pole gespannt: Eine Seite sprach sich für die Verwurzelung der Heimatsprache und -literatur aus, die andere Seite hingegen orientierte sich an den vorgeblich höher entwickelten, moderneren Zentren. Aus dieser Perspektive hätten sich die Nationalliteraturen mit der Verinnerlichung universeller ästhetischer und humanistischer Werte der Weltliteratur auf eine höhere Entwicklungsstufe gehoben. Allgemein positionierten sich die Nationalliteraturen international, durch gegenseitige Nachahmung und wettbewerbsorientierte Vergleiche, auch wenn das von ihren Protagonisten geleugnet wurde. Als Maßstab für die internationale Anerkennung der Werke einer Nationalliteratur, die auf die Bestätigung durch die Eliten der Metropolen warteten, stellte man sich auf dem kosmopolitischen Pol eine generalisierte ästhetische Transzendenz aus Musterwerken vor, die sich im ewigen Kanon der Menschheit gefestigt hatten oder internationalen Ruhm genossen.

Das moderne nationale Literatursystem formierte sich – insbesondere wenn es ein peripheres war – typischerweise so, dass das multifunktionale Schrifttum, das in einer Situation wirkte, in welcher die Volkssprache im Schatten der kosmopolitischen, staatlichen beziehungsweise imperialen Sprache stand, nach und nach zu einer einsprachigen Literatur mit ästhetischer Bestimmung bereinigt wurde. Das Paradoxe daran ist, dass die Standardsprache, die in der sog. nationalen Ökologie zum Identitätsmarker der Volksgruppe wurde, als Vernakular nach dem Muster einer kosmopolitischen oder kaiserlich-imperialen Sprache – zum Beispiel des Lateinischen – grammatikalisch standardisiert wurde (vgl. Beecroft 2015: 153–178). Dabei wurde die nationale Standardsprache grammatikalisch, lexikalisch und rhetorisch auf eine Weise kultiviert, die mit dem Verhältnis zwischen dem Nationalen und dem Weltweiten in der Literatur übereinstimmt: Über den Wissenschafts- und Kunstdiskurs sowie die bildungsbürgerliche Eloquenz absorbierte sie Thematiken, Register und Imaginationen, die von internationalem Prestige, zivilisatorischer Zentralität und Universalität zeugen sollten.

Die dialektische Wechselbeziehung zwischen Nationalem und Weltweitem bei der Entstehung der ästhetischen Literatur kann durch die Geschichte vom Übergang vom multifunktionalen, mehrsprachigen Schrifttum in Slowenien zur einsprachigen slowenischen Literatur veranschaulicht werden (vgl. Juvan 2012: 235–284). Ende des 18. Jahrhunderts formuliert der Protagonist des ersten slowenischen Lyrik-Almanachs Pisanice od lepeh umetnost, der Klassizist Anton Feliks DevDev, Anton Feliks, in seinen slowenischen Gedichten das utopische Programm für die lexikalisch-grammatikalische Standardisierung einer (Krainer) Volkssprache, auf welche die Blütezeit der Krainer Literatur und die Geburt der hiesigen Klassik nach Vorbild des antiken Parnass folgen sollten. Wie BeecroftBeecroft, Alexander also für die Vernakularisierung allgemein feststellt, positioniert Dev das entstehende nationale literarische Ökosystem vor dem normativen Hintergrund des latinistischen Kosmopolitismus und der griechisch-lateinischen Klassik. Fortgesetzt wird die Geschichte mit dem romantischen Dichter PrešerenPrešeren, France, der zwar auch in der Kaisersprache Deutsch publizierte, seine Lyrik in slowenischer Sprache jedoch als Beitrag zum Kultivierungsprozess verstand, durch welchen die slowenische Standardsprache gerade auf dem Gebiet der Lyrik die Stufe einer höher entwickelten und einflussreicheren Kultursprache erreichen sollte. Im Kreise des Lyrik-Almanachs Krajnska čbelica stellte er, unterstützt durch die ästhetisch-philosophischen und komparatistischen Konzepte Matija ČopsČop, Matija, die im Entstehen begriffene nationale Ökologie vor den Hintergrund einer globalen Ökologie, d.h. in Beziehung zur Weltliteratur. Diese erhielt in Goethes Weimar gerade zu dieser Zeit ihre Begrifflichkeit. Im Geiste des ästhetischen Universalismus der Gebrüder SchlegelSchlegel, August Wilhelm versuchte Prešeren das lyrische Slowenisch auf eine international vergleichbare Ebene zu stellen, indem er die Vorstellungswelten, Versformen und Stilregister der Weltliteratur von der antiken Klassik über europaweit anerkannte mittelalterliche und neuzeitliche Meister der Dichtkunst bis hin zu neueren berühmten Autoren wie zum Beispiel Gottfried A. BürgerBürger, Gottfried A., George N. ByronByron, George N. oder Adam MickiewiczMickiewicz, Adam intertextuell verarbeitete.Prešeren, France5 Als die Nationalbewegung in ihrer politischen Phase Prešeren bis zum Ende des Jahrhunderts posthum als Nationaldichter kanonisierte, vollendete sich auch der Prozess, durch welchen die einsprachige ästhetische Literatur zur nationalen Institution wird (vgl. Močnik 2006: 219–226). Der Kulturnationalismus begreift die slowenische Literatur auf Grundlage des nationalen Ökosystems nach BeecroftBeecroft, Alexander als fundamentale gesellschaftliche Bindung, die in den öffentlichen Medien die in unterschiedliche Klassen, Territorien, verwaltungspolitische und dialektale Einheiten gespaltene Gemeinschaft der Slowenen vereinheitlicht. Die Ansätze einer nationalen Literaturgeschichte mit ihren narrativen Interpretationen ergänzen auf fachlicher Ebene die innerliterarischen und politischen Strategien, mit welchen sich eine Nation ein Vergangenheitsbild erschafft, indem sie sich – wie in BeecroftsBeecroft, Alexander allgemeinem Konzept der nationalen Literaturökologie (2015: 197–215) dargestellt – selektiv die vernakuläre Überlieferung aneignet, andererseits aber die frühere Mehrsprachigkeit marginalisiert und auf die Vorherrschaft des kosmopolitischen Lateinischen vergisst. Mehr noch, im 19. Jahrhundert entsteht die lang andauernde ideologische Vorstellung von der Nationalliteratur als Ersatz für die fehlenden politischen Institutionen.

Und die Weltliteratur? In ihrem ursprünglichen Konzept, das den transnationalen Kreislauf, den gleichberechtigten interkulturellen Austausch zwischen den Nationen und Zivilisationen, ihren wechselseitigen Dialog und ihr gegenseitiges Verständnis begrüßte, war die Weltliteratur mehrsprachig. Sie forderte kosmopolitische Offenheit und Polyglottismus, pries jedoch gleichzeitig die vermittelnde Bedeutung des Übersetzens. Die vergleichende Literaturwissenschaft als neue literaturgeschichtliche Disziplin, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte, die nationale Literaturgeschichte zu übertreffen, berücksichtigte von ihren Anfängen an den über das Nationale hinausgehenden Horizont (vgl. Schulz/Rein 1973). Auch bei der Behandlung der Weltliteratur betont sie bis heute die Mehrsprachigkeit und fordert deshalb den philologischen Vergleich von Texten im Original (vgl. Étiemble 2012; Spivak 2003; Apter 2013). Anders als die vergleichende Literaturwissenschaft halten sich die World Literature Studies, die sich aus der akademischen Auseinandersetzung mit den großen Werken der Menschheitsgeschichte entwickelt haben, lieber an die Übersetzung. Wie unter anderen auch Astradur EysteinssonEysteinsson, Astradur (2006) betont, ist die überwiegende Daseinsform der Weltliteratur gerade die Übersetzung. Jede Sprache und jede Nationalliteratur aktualisiert über die Übersetzungen auf ihre Weise die Repertoires der Weltliteratur. Die Weltliteratur ist also mehrsprachig, jedoch nicht so sehr aufgrund der Mehrsprachigkeit der Originale als vielmehr wegen der Mehrsprachigkeit der Übersetzungen.

Jedoch waren die Sprachen, deren Literaturen die Weltliteratur bilden, nie gleichberechtigt, und auch die einzelnen Literaturen hatten nicht den gleichen Zugang zu transnationaler Zirkulation. Davon sprachen bereits vor Jahren Pascale CasanovaCasanova, Pascale (1999) und Franco MorettiMoretti, Franco (2000, 2016), die beiden Theoretiker der Asymmetrie zwischen den Zentren und Peripherien im weltweiten literarischen Raum. So beherrschen die Weltliteratur bereits seit zumindest zweihundert Jahren die Nationalliteraturen der großen, staatspolitisch und militärisch einflussreichen Staaten, welche dem Zentrum des wirtschaftlichen Welt-Systems angehören. Unter den Sprachen, welche die Repertoires der Weltliteratur bildeten und distribuierten, herrschen also die sog. Weltsprachen vor (vgl. Eoyang 2003; Heilbron 2010). Wie bei der ersten unter ihnen, dem globalen Englisch, handelt es sich hierbei in der Regel um große Sprachen mit imperialem oder kolonialem Hintergrund.

Den ökonomischen Schnittpunkt zwischen den beiden asymmetrischen Systemen der Sprachen und der Literaturen bildet das transnationale Verlagswesen. Die Metropolen, in welchen sich die transnationalen Verlage befinden, sind also der bedeutendste Faktor, sie „konsekrieren“ ein einzelnes Werk und schicken es durch die Übersetzung in eine Weltsprache und mit den Empfehlungen der Autoritäten aus den Metropolen in den weltweiten Umlauf (Casanova 1999: 165–175, 180–187; Sapiro 2016). Erich Auerbach ahnte bereits im Jahr 1952 die Gefahr hinter einer derartigen Globalisierung des Literarischen. Er sah voraus, dass sich die Weltliteratur von einer humanistischen Mehrsprachigkeit und kulturellen Vielfalt zu einer einsprachigen – weltsprachlichen – und kulturell vereinheitlichten Ware wandeln wird:

Unsere Erde, die die Welt der Weltliteratur ist, wird kleiner und verliert an Mannigfaltigkeit. […] Und was geschieht heute, was bereitet sich vor? Aus tausend Gründen, die jeder kennt, vereinheitlicht sich das Leben der Menschen auf dem ganzen Planeten. Der Überlagerungsprozeß, der ursprünglich von Europa ausging, wirkt weiter und untergräbt alle Sondertraditionen. Zwar ist überall der Nationalwille stärker und lauter als je, aber überall treibt er zu den gleichen, nämlich den modernen Lebensformen […] Die europäischen oder von Europäern gegründeten Kulturen, an langen fruchtbaren Verkehr miteinander gewöhnt und überdies durch das Bewußtsein ihrer Geltung und Zeitgemäßheit gestützt, bewahren noch am besten ihre Eigenständigkeit gegeneinander, obwohl auch hier der Ausgleichsprozeß weit rascher fortschreitet als früher. Über alles andere breitet sich die Standardisierung […] Sollte es der Menschheit gelingen, sich durch die Erschütterungen hindurchzuretten, die ein so gewaltiger, so reißend schneller und innerlich so schlecht vorbereiteter Konzentrationsprozeß mit sich bringt, so wird man sich an den Gedanken gewöhnen müssen, daß auf einer einheitlich organisierten Erde nur eine einzige literarische Kultur, ja selbst in vergleichsweise kurzer Zeit nur wenige literarische Sprachen, bald vielleicht nur eine, als lebend übrigbleiben. Und damit wäre der Gedanke der Weltliteratur zugleich verwirklicht und zerstört. (Auerbach 1952: 39)

Wie wir festgestellt haben, hat der sich nach der Aufklärung entwickelnde Kulturnationalismus die Nationalliteratur und das monolinguale Paradigma als Institutionen konstituiert, die der imaginierten Nation gesellschaftliche Kohäsion nach innen sowie internationale Erkennbarkeit und Vergleichbarkeit nach außen gewährleisten. Das globale Ökosystem, in dem die Nationalliteraturen aufeinandertreffen, miteinander konkurrieren und sich miteinander verbinden, wird von der Weltliteratur durch die Universalisierung des westlichen ästhetischen Diskurses definiert. Die ausschließlich in der zur Standardsprache erhobenen Muttersprache gedruckte Nationalliteratur wurde von den Nationalbewegungen, die der imperial-kosmopolitischen Ökologie untergeordnet waren, ideologisch als Weg zur politischen Subjektivität aufgefasst. Ihr Ideal – auch wenn es nicht realisierbar war und durch Kompromisse ersetzt wurde – war der Nationalstaat. Der Nationalstaat wiederum ist eine Größe der kapitalistischen Ökonomie, die einen gemeinsamen Markt schafft, lokale Hindernisse beseitigt sowie ideologisch und juristisch Klassenunterschiede neutralisiert. Wie Immanuel WallersteinWallerstein, Immanuel (1991: 140–156; 2006) zeigt, förderte der Kapitalismus deshalb bei seiner Expansion zum Welt-System die Entstehung von Nationalstaaten, auch außerhalb Europas. Je nach Akkumulierung des global geschaffenen Mehrwerts gab die Wirtschaft den Staaten strukturell ihre Position im weltweiten Zentrum, an der Halbperipherie oder Peripherie vor. Aufgrund der Verflechtung wirtschaftlicher, sprachlicher, politischer und kultureller Faktoren, die den internationalen Buchmarkt bestimmen, entwickelte sich in den letzten zwei Jahrhunderten auch im internationalen literarischen Welt-System eine Trennung in Zentren und Peripherien (vgl. Habjan 2012; Steiner 2012; Sapiro 2016; Brouillette 2016).

Auf diesen Grundlagen erfolgt die Schlussfolgerung, in welcher nun endlich auch der im Titel des Beitrages angekündigte Systembegriff thematisiert wird. Eine zwingende Voraussetzung für die Entstehung von jeglicher Art von System ist, dass es sich von seiner komplexen Umgebung abgrenzt und sich über die Aufrechterhaltung dieser Abgrenzung in seinem Inneren strukturiert. Das System reduziert die Komplexität der Umgebung, indem es die ihm inhärenten Begrenzungen und (Aus-)Wahlmöglichkeiten einführt, welche ihm das nötige Gleichgewicht verleihen (vgl. Luhmann 2006: 45–52). Literatur als System reduziert also unausweichlich die Komplexität der bestehenden gesellschaftlichen Interaktion und Heteroglossie (vgl. auch Apter 2013: 45–56), und zwar über die Selektion ihrer Elemente aus dem in ihrer Umgebung verfügbaren Material und die Strukturierung der Verhältnisse zwischen ihnen. Das literarische System – sowohl das nationale als auch das Welt-System – weist nicht nur die erwähnte allgemeine systemische Reduktion der Komplexität auf; ein weiteres Charakteristikum ist seine gesellschaftlich-institutionelle Daseins- und Funktionsart (vgl. Schmidt 1980: VIII–IX). Die Sozialität des literarischen Systems hat im neuzeitlichen Kapitalismus, dem weltweiten Kriterium für Modernität, gleichzeitig eine marktfähige Grundlage. Even-ZoharEven-Zohar, Itamar (1990: 31) reinterpretiert in diesem Sinne Jakobsons strukturalistisches Kommunikationsschema auf materialistische Weise: Die Verbindung zwischen Produzenten und Konsumenten, welche durch das Produkt (d.h. Jakobsons Mitteilung, der literarische Text) gebildet wird, wird ermöglicht durch die Institution (in der Rolle des Kontextes), das Repertoire (in der Rolle des Codes) und den Markt, der anstelle des strukturalistischen Kanals auftritt.

Der Begriff System zielt also in Zusammenhang mit Literatur auf die Akteure ab, die über spezialisierte Institutionen und Medien mit ihrem Tun literarische Produkte auf den Markt und von dort in einen diskursiven Umlauf begleiten, in welchem den Texten auf Grundlage der Semiose gesellschaftliche Bedeutungen und Funktionen zugeschrieben werden. Gerade ein solches System neigt bei Regulierung seiner Struktur zur selektiven Reduktion der verfügbaren Elemente, sodass seiner internen Logik zufolge der literarischen Einsprachigkeit der Vorzug gegenüber der vorsystemischen Mehrsprachigkeit gegeben wird. Warum?

Der Buchdruck als neuzeitliches Medium, das durch die verhältnismäßig kostengünstige Reproduktion von Texten deren Zirkulieren unter zahlreichen Leserinnen und Lesern ermöglichte (während die Handschriften vor allem eine Domäne der Eliten waren), benötigte für seine materielle Reproduktion den Massenkonsumenten. Deshalb strebte der Kapitalismus des Buchdrucks zusammen mit dem Buch- und Zeitungsmarkt nach wirtschaftlicher Logik auch eine Vereinheitlichung der Sprache an, über welche höhere Auflagen der gedruckten Texte leichter an einen weiteren Kreis von Leserinnen und Lesern – die ansonsten unterschiedliche Dialekte und Soziolekte verwendeten – vermittelt werden konnten. Die ökonomische Logik des Kapitalismus des Buchdrucks, die wachsende Reichweite gedruckter Medien und der philologische Eifer der sog. „nationalen Erneuerer“ sowie die nationalistische Politik betonten also die Nation als moderne Form der Gemeinschaft, wie Benedict AndersonAnderson, Benedict (1998: 39–47, 77–133) in seinem berühmten Buch erläutert. Nach der gleichen Logik bildet sich auch die Nationalliteratur in der vereinheitlichten Standardsprache heraus. Sobald sich die multifunktionelle und mehrsprachige literarische Schaffenskraft innerhalb eines Systems der Nationalliteratur zu organisieren beginnt, das mit seinen gedruckten Medien in bürgerlichen Gesellschaften für die ästhetische Konsumation und nationale Identifikation bestimmt ist, reduziert sie sich in der einsprachigen ästhetischen Literatur. Diese kann eine räumlich zerstreute und heterogenisierte Öffentlichkeit ansprechen und sie über den Buchdruck und den Buchhandel, welche über den feudalen Länder-Partikularismus hinausreichen, zu einer imaginären Einheit eines nationalen Körpers vereinen. Die Reduktion der sprachlichen Komplexität der Umwelt auf die vorherrschende Einsprachigkeit des Drucks übernahm gerade durch die ästhetische Vervollkommnung der einen und einmaligen Sprache in den Texten des literarischen Systems eine repräsentative Funktion.6 Die Literatur begründete aufgrund ihrer Repräsentativität das Modell der Standardsprache, die kanonisierten Schriftsteller bildeten einen Fundus an Vorbildern für zukünftige grammatikalische Normen. Als die Literaturen der Welt – parallel zur modernen Nationalisierung und zum Ausbau der einzelnen literarischen Systeme – sich im langen 19. Jahrhundert in ein literarisches Welt-System zu organisieren beginnen, das durch eine institutionelle Asymmetrie zwischen den Kerngebieten der Konsekration und den ihnen untergeordneten Randgebieten gekennzeichnet ist, beginnt sich über die Dominanz von Übersetzungen und Verlagen auf dem transnationalen Markt auch die Vielzahl der Sprachen zu verringern; die eine globale Sprache verschlingt sie.

Die Institutionen und Medien literarischer Systeme sind demnach eine Form der Materialisierung von Kapital, schließlich benötigen sie dieses für ihren Fortbestand und ihre Reproduktion. Die nationalen literarischen Systeme haben ihre Funktion nicht nur als Marktsektor der nationalen Ökonomie, sondern auch als ideologisches Attribut und Identitätsmarker des Nationalstaates. Das internationale literarische System ist, analog dazu, nicht nur ein globaler Kulturmarkt, sondern auch ein ideologisches Attribut der globalen kulturellen Dominanz der ökonomisch und politisch zentralen Staaten.

Michail BachtinBachtin, Michail, Jurij LotmanLotman, Jurij und Itamar Even-ZoharEven-Zohar, Itamar zufolge tendieren die Zentren kultureller Systeme zu Einsprachigkeit, Stabilität und ideologischer Einförmigkeit, die Randgebiete hingegen förderten Mehrsprachigkeit und seien deshalb in ihrer Entwicklung dynamisch, ideologisch pluralistisch und konfliktträchtig (vgl. Kliger 2010). Ohne Input aus den Randgebieten würden die Kulturen stagnieren, ohne die Peripherien würden aber auch die Zentren der Weltwirtschaft stagnieren. Jedoch kann ein solches Lob der Mehrsprachigkeit (auch wenn es theoretisch durch die Affirmation von Randgebieten und der Polyzentralität noch so gut untermauert ist) nicht viel mehr sein als ein Beitrag zur Wiederbelebung der im Sterben begriffenen liberalen Idee der Multikulturalität, solange es den Schritt zur radikalen Kritik an der hegemonialen Einsprachigkeit und ihrer ökonomisch-politischen Hintergründe nicht vollzieht. Erst eine materialistische Auffassung des Begriffes System enthüllt die Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, welche die Ideologie der Multikulturalität verdeckt und deren Furcht einflößende Phänomenologie sie abzuschwächen versucht. Die echte Herausforderung liegt also darin, das bestehende internationale System trotz seiner gigantischen Vorherrschaft zu verändern. Gerade das welt-systemische Kapital übt nämlich über die Institutionen des Kulturmarktes Druck auf die Sprachen aus, drängt sie zur (literarischen) Einsprachigkeit und verunmöglicht Gedanken über Alternativen zur bestehenden Hegemonie im öffentlichen Diskurs. Abgesehen von der linksliberalen akademischen Kritik erweckt dieses System in den letzten Jahrzehnten nur in sporadischen supranationalen antikapitalistischen Bewegungen, im religiösen Fundamentalismus und Terrorismus sowie in nationalistisch-rassistischen Populismen echten Widerstand. Deshalb wird es – wenn wir wollen, dass Mehrsprachigkeit zum Ausdruck einer tatsächlichen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der Menschen wird – notwendig sein, in den fortschrittlichen gesellschaftlichen Praktiken eine andere theoretische Sprache zu entwickeln, dieser in der Öffentlichkeit Geltung zu verschaffen und in diesem Rahmen ein alternatives Ökosystem zu begründen.

(Aus dem Slowenischen von Julija Schellander-Obid)

Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext

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