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2 DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix revisited
ОглавлениеWie oben bereits angedeutet, hat das von DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix entwickelte Konzept der ‚littérature mineure‘ die Perspektiven auf kleine Literaturen nachdrücklich geprägt. Wie ebenfalls bereits hervorgehoben, ist ihr Konzept insofern spezifisch, als es der Definition zufolge vor allem auf die Literatur, die eine Minorität in einer großen Sprache produziert, verweist. Folglich sind ihre Ausführungen überwiegend der Erforschung dieses sprachlichen Typus von Minoritätenliteratur förderlich.
Die vorangehende Übersicht der Begriffe hebt die terminologische Komplexität rund um das Phänomen der kleinen Literaturen deutlich hervor. Der Begriff ist demzufolge als Überbegriff nicht unproblematisch, besonders da im internationalen wissenschaftlichen Diskurs eine verwirrende Verquickung, oder, besser gesagt, Gleichsetzung, zwischen den Adjektiven klein – wie KafkaKafka, Franz es in seinen Überlegungen zu ,kleinen Literaturen‘ (Kafka 1998: 154) benutzt – und ‚mineur‘, bzw. minor-minder-Minorität, existiert. Diese Ver(w)irrung geht auf ein gleich zweifaches Übersetzungsproblem zurück. Wie Pascale CasanovaCasanova, Pascale in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem DeleuzeDeleuze, Gilles/GuattariGuattari, Félix-Text aufzeigt, geht deren Gebrauch von ‚mineur‘ auf die „ungenaue und tendenziöse“ (Casanova 1997: 240) Übertragung der Kafka-Übersetzerin Marthe Robert zurück, die Kafkas Formulierung ‚kleine Literaturen‘ mit ‚littérature mineure‘ übersetzt. Die deutsche Fassung des Essays Kafka. Für eine kleine Literatur vertieft das Übersetzungsproblem zusätzlich. Denn obwohl hier die von KafkaKafka, Franz benutzte Benennung ‚kleine Literatur‘ wieder aufgegriffen wird, ist das Adjektiv ‚klein‘ fortan mit der von Deleuze und Guattari entwickelten Bedeutung, Konzeptualisierung und dem Ideologieprogramm des ‚mineur‘ aufgeladen. Semantisch unterschiedliche Adjektive werden hier also gleichgeschaltet oder, anders gewendet, das deutsche Adjektiv ‚klein‘, das in erster Linie auf Umfang oder Quantität verweist, wird durch die im Französischen implizierte Unterordnung und Nichtebenbürtigkeit erweitert, eine Bedeutungsebene, die dann durch die Übersetzung in der deutschen Fassung des Konzepts festgeschrieben wird. In der Weltliteraturforschung lässt sich eine ähnliche Synonymverwendung zwischen ‚small‘ (klein) und ‚minor‘ (mineur) feststellen. Fraglich ist diese beliebige Verwendung der Begriffe allemal, überlagern sich in ihnen doch unterschiedliche Bedeutungen, die durch einen undifferenzierten Gebrauch verschleiert werden, etwa dann, wenn mit ,littérature mineure‘ bzw. ‚kleiner Literatur‘ zugleich die Literatur kleiner unabhängiger Staaten, die Literatur von ethnischen Minoritäten, die Literatur in kleinen Sprachen und die einer kleinen territorialen Gemeinschaft in einer großen Literatursprache gemeint sind.
An dieser Stelle bietet es sich an, eine zumindest vorläufige Typologie ‚kleiner Literatur‘ anzubringen; vorerst soll hier aber noch auf das von DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix genannte erste Erkennungsmerkmal – die Deterritorialisierung der Sprache – der ,littérature mineure‘ eingegangen werden. Aus der Sicht der Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit wird bezweifelt, dass Sprachen nur einen Wohnsitz haben, eine Annahme, die spätestens seit der postkolonialen Literaturforschung als problematisch anzusehen ist. Folglich ist das Merkmal der Deterritorialisierung auf seine Verwendbarkeit für kleine mehrsprachige Literaturen kritisch zu hinterfragen. Im Falle der Literatur eines unabhängigen mehrsprachigen Staates wird der Gebrauch einer großen Literatursprache nicht ausschließlich und auch nicht in erster Linie als ein deterritorialisierter Gebrauch von Sprache angesehen und auch das mehrsprachige Selbstverständnis von Autoren aus kleinen Literaturen lässt eine solche Interpretation nicht als allgemeingültig zu.
Dazu kommt, dass, obwohl die Autoren sich in Bezug auf Kafkas Werk mit einem mehrsprachigen Literaturraum befassen,Deleuze, GillesGuattari, Félix1 ihr Konzept sehr wenig Denkanstöße für die Erfassung kleiner mehrsprachiger Literaturen liefert. Es wäre falsch, ihnen das vorzuhalten, da Fragen zur literarischen Mehrsprachigkeit, wie wir sie heute verstehen, nicht im Vordergrund ihrer Untersuchung standen. Ihre Überlegungen bezüglich der Beziehung zwischen einer ,littérature mineure‘ und einer ,langue majeure‘ sind vielmehr dem politisch brodelnden Kontext Frankreichs der 1970er Jahre geschuldet (Casanova 1997: 233–247): Demnach zielt ihre Untersuchung eher auf das Herausarbeiten der Beziehung von Sprache zum Politischen und zum Machtapparat ab, während sie die Literatur ausdrücklich auf der Seite der Subversion situiert und als ein Mittel, sich der Sprache der Macht zu widersetzen, stilisiert. Folglich, und das ist wichtig hervorzuheben, verweist das Adjektiv ‚mineur‘ im Zuge ihrer Ausführungen nicht nur auf den Ist-Zustand einer (minoritären) Literatur an sich, sondern beschreibt darüber hinaus eine (sprachliche) Abgrenzungsstrategie gegenüber großen, ideologischen und machtkonformen Literaturen:
So gefasst, qualifiziert das Adjektiv ‚klein‘ [eigentlich ‚minder‘] nicht mehr bloß bestimmte Sonderliteraturen, sondern die revolutionären Bedingungen jeder Literatur, die sich innerhalb einer sogenannten ‚großen‘ (oder etablierten) Literatur befindet. (Deleuze/Guattari 1976: 27)
Das Adjektiv ‚mineur‘ bezeichnet hier eben nicht die Sprache oder Literatur einer ethnischen oder kulturellen Minorität, sondern die Sprache, die jede Literatur sich erst erschaffen muss, um sich der durch den Machtapparat besetzten Sprache zu entziehen und die Kooptation durch den Machtapparat wiederum zu unterminieren. So lässt sich die komplexe räumliche Metaphorik, die zur Beschreibung des Prinzips der Deterritorialisierung bei KafkaKafka, Franz verwendet wird, zumindest deuten:
[…] schreiben wie ein Hund sein Loch buddelt, wie eine Maus ihren Bau gräbt. Dazu ist erst einmal der Ort der eigenen Unterentwicklung zu finden, das eigene Kauderwelsch, die eigene dritte Welt, die eigene Wüste. (ebd.)
Wie diese Ausführungen belegen, ist das Konzept von DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix zwar für Minoritätenliteraturen in hyper- und superzentralen Sprachen sicherlich immer noch von Relevanz, jedoch keineswegs als allgemeingültig für die verschiedenen Typen von kleinen Literaturen zu verwenden. Die Anwendung des Konzeptes ist nicht nur wegen der reduzierenden Politisierung von Literatur problematisch, sondern auch weil es schlicht und ergreifend nicht darauf angelegt ist, Auskunft über die literaturhistorische und ästhetische Eigengesetzlichkeit kleiner Literaturen zu geben.
In ihrem Werk La république mondiale des lettres (1999) kritisiert die französische Komparatistin Pascale CasanovaCasanova, Pascale die Politisierung kleiner Literaturen durch das ,littérature-mineure‘-Konzept (Casanova 1999: 279–281). Ihre eigene Analyse von Macht- und Dominanzstrukturen in einer Zentrum-Peripherie-Optik ist jedoch nicht weniger problematisch. Wie bei DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix ist es wiederum ein Blick von außen, der an die Literaturen herangetragen wird und der hier verstärkt mit ‚zentralen‘ Normvorstellungen arbeitet und dementsprechend hauptsächlich auf die angebliche ‚Nicht-Konformität‘ kleiner Literaturen aufmerksam macht. Letztere werden darüber hinaus ausschließlich in ihrer ‚Mittel- und Machtlosigkeit‘ und in ihrem ‚Kampf um internationale Sichtbarkeit‘ gesehen, beziehungsweise darauf reduziert. Die Begrifflichkeiten sind einer negativen Semantik verpflichtet und akzentuieren das scheinbar ‚A-normale‘, die ‚Abweichungen vom Standard‘:
[…] die (literarisch, politisch, sprachlich) Mittellosen sind nicht nur nie ,adäquat‘, d.h. nie konform, nie an ihrem Platz, nie wirklich im literarischen Universum zu Hause, sondern ihre Unangemessenheit […] stellt ein unentwirrbares Netz an Verwünschungen, Unglück, Wut und Revolte dar. (Casanova 1999: 253)2
Bei CasanovaCasanova, Pascale ist eine Ausweitung des semantischen Feldes dahingehend zu beobachten, dass sie die Begriffe ,petit‘ und ,mineur‘ mit endemischen Defizitmerkmalen assoziiert. Während das Gewicht bei DeleuzeDeleuze, Gilles und GuattariGuattari, Félix auf dem Ideologischen, dem Politischen liegt, befindet es sich bei Casanova auf dem Nationalen, etwa wenn die Funktion kleiner Literaturen (von unabhängigen Staaten) ausschließlich auf ihre Partizipation am ontologischen Nationenbildungsprozess beschränkt wird:
In mittellosen Räumen sind die Schriftsteller zu einer nationalen oder völkischen Thematik verdammt: sie müssen die Abenteuer, die Geschichte und die nationalen Kontroversen entwickeln, verteidigen, darstellen und kritisieren. Weil sie darauf bedacht sind, eine Idee ihres Landes zu verteidigen, sind die Schriftsteller in die Ausarbeitung der nationalen Identität eingebunden. (ebd.: 262)
Genau gegen Festschreibungen wie diese wehrt sich Milan KunderaKundera, Milan, wenn er die von außen vorgebrachten Fixierungen kleiner Literaturen auf das Nationale kritisiert:
Die kleinen europäischen Staaten (ihr LebenLeben, Andreas, ihre Geschichte, ihre Kultur) sind sehr wenig bekannt und bleiben hinter ihren unzugänglichen Sprachen verborgen. Gemeinhin wird angenommen, dass gerade dieser Umstand das Handicap ihrer mangelnden internationalen Anerkennung ausmacht. Das Gegenteil aber ist der Fall: ihre Kunst ist gehandicapt, weil alle Welt (die Kritik, die Historiographie, die Landsmänner wie die Ausländer) sie auf die große Photographie der nationalen Familie festklebt und sie da nicht rauslässt. (Kundera 1993: 231)
In der Tat ist die Annahme, dass sich die Literaturproduktion in kleinen Staaten ausschließlich einem nationalliterarischen Projekt widme, problematisch, da sie unter anderem die postnationale Phase und folglich die veränderte Auffassung zur (gesellschaftlichen) Rolle/Funktion von Literatur einfach ausklammert. Die Festschreibung auf das Nationale verstellt zudem, wie von KunderaKundera, Milan beanstandet, den Blick auf einige Eigenthematiken wie die interkulturellen Beziehungen und Mehrsprachigkeitsphänomene, die, je nach geokultureller Verortung, den Diskurs der literarischen Kultur kleiner Staaten maßgeblich prägen.