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3.1.2 Textkonstitution und PronominalisierungPronominalisierung

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Mit seiner 1962–64 entstandenen und 1968 (21979) publizierten Habilitationsschrift „Pronomina und Textkonstitution“ hat Roland Harweg eine erste groß angelegte Untersuchung über die Organisation von Texten und damit die erste wichtige Monographie vorgelegt, die die Entwicklung der Textlinguistik nachhaltig beeinflusst hat. Seine eigene Position in Bezug auf den Text sieht Harweg als strukturalistisch mit Merkmalen einer generativistischen Grundhaltung, die in der Unterscheidung von zwei Textbegriffen – des ETISCHENetisch (performanzorientiert) und des EMISCHENemisch (kompetenzorientiert) – zum Ausdruck kommt. Für die Erstellung wohlgeformter Texte bilde das Verfahren der Pronominalisierung eine entscheidende Rolle. Kompetente Sprecher/Schreiber sind danach in der Lage, das Verfahren der Pronominalisierung zur Textkonstituierung anzuwenden (vgl. Harweg 21979: V). Von daher definiert er Text als „ein durch ununterbrochene pronominale Verkettung konstituiertes Nacheinander sprachlicher Einheiten“ (Harweg 1968: 148).

Harweg verdeutlicht, dass er die pronominale Verkettung als textkonstitutiv ansieht, sie ist für eine Textdefinition unabdingbar:

Unser Textdefiniens verlangt ununterbrochene pronominale Verkettung. Eine Unterbrechung dieser Verkettung würde folglich die Grenzen, d.h. Anfang und Ende eines spezifischen Textes markieren. (Harweg 1968: 148)

Harweg zeigt in seiner Arbeit, in welcher Weise die Ersetzung eines sprachlichen Ausdrucks durch einen anderen sprachlichen Ausdruck erfolgt. Ersetzende Elemente (Substituentia) und zu ersetzende Elemente (Substituenda) wirken in der Textkonstitution zusammen. Als „reinste und prägnanteste Repräsentanten der Pronominalität“ sieht er die Pronomen er/sie/es (Harweg 21979: 25). Die Besonderheiten von Pronomen liegen im „Phänomen der Substitution“ (ebd.: 17). Pronomen ermöglichen in prototypischer Weise eine zweidimensionale Substitution – sie können einen Ausdruck an einem Punkt der Redekette ersetzen (PARADIGMATISCHE SUBSTITUTION), und sie vermögen es, in der Ersetzung sprachlicher Mittel von einem Satz zum nächsten Beziehungen herzustellen (SYNTAGMATISCHE SUBSTITUTION).

Es werden dann jedoch alle ersetzenden Elemente als Pronominalisierungen definiert, also z.B. auch Synonyme, Hyperonyme, Metaphern, Metonymien und andere Ersetzungen (vgl. Sowinski 1983: 24).

Harweg räumt aber zu Recht ein, dass mit bestimmten Texten zu rechnen ist, „die das Konstitutionsprinzip pronominaler Verkettung nicht erfüllen. Es sind dies in jedem Fall Texte, die zu kurz sind, um das genannte Prinzip erfüllen zu können, so z.B. gewisse aus einem Satz bestehende Aphorismen“ (Harweg 1968: 149).

Pronominalisierung im Sinne Harwegs zeigt sich im Prinzip der WIEDERAUFNAHMEWiederaufnahme, das im Folgenden in seinen Verfahren an Textbeispielen illustriert werden soll.

(3–1) Gänseblumen

Manchmal wünsch ich mir die Kraft einer Gänseblume. Im Garten raschelt das Apfelbaumlaub; in den Nächten hat es schon Fröste gegeben. Wiesen- und Wegblumen sind erfroren. Im dürren Fallaub blühn Gänseblumen, winzige Sonnen mit Blütenblatt-Strahlen.

Der Schnee fällt, und er bleibt lange liegen. Die Ponys scharren im Apfelgarten: Im erfrorenen Gras blühn die Gänseblumen.

Der Frühling, es taut, und der Schnee verschmilzt. Am feuchten Wegrand blühn Gänseblumen. Schneeglocken sprießen an warmer Hauswand. Sie mühn sich, weiße Blüten zu treiben. Die Gänseblumen blühn schon lang. Sie blühten im Herbst, und sie blühten im Winter, sie blühten bei Frost und unter dem Schnee.

Manchmal wünsch ich mir die Kraft einer Gänseblume.

(Erwin Strittmatter [1967]: Gänseblumen. In: Schulzenhofer Kramkalender. Berlin/Weimar, S. 143)

Der Text beginnt (hier bereits in der Überschrift, sonst häufig im ersten Satz, manchmal auch später) mit dem Setzen eines Kommunikationsgegenstandes/Substituendum (Gänseblumen), der im Verlaufe des Textes mehrfach wieder aufgenommen wird (Substituens, z.B. sie), um eine Substitutionssequenz herzustellen und damit Aussagen über diesen Gegenstand zu treffen.

Harweg (1968, 21979: 179ff.) erstellt in seinem Buch eine umfassende Typologie pronominaler Verkettungen, die hier nicht annähernd wiedergegeben werden kann. Pronominalisierungen als Formen der Wiederaufnahme, die den Text konstituieren, werden in unterschiedlichen Phänomenen im Text sichtbar. Brinker (62005: 27ff.) hat diese Formen vereinfacht dargestellt und in den Verfahren der EXPLIZITEN und der IMPLIZITEN WIEDERAUFNAHME zusammengefasst. Das Substituendum wird dabei ersetzt durch „Bezugsausdruck“ und das Substituens durch „wiederaufnehmenden Ausdruck“. Die EXPLIZITE WIEDERAUFNAHME basiert auf der ReferenzidentitätReferenzidentität (Bezugnahme auf dasselbe Objekt = KOREFERENZKoreferenz) bestimmter sprachlicher Ausdrücke in aufeinanderfolgenden Sätzen eines Textes. Bedingung für die Wiederaufnahme ist die Bedeutungsgleichheit oder -ähnlichkeit der sprachlichen Mittel. In Frage kommen vor allem folgende Formen:

 REKURRENZRekurrenz (wörtliche Wiederholung): Gänseblumen – Gänseblumen,

 SYNONYME (ein bedeutungsgleicher oder -ähnlicher Ausdruck): Gänseblumen – winzige Sonnen mit Blütenblatt-Strahlen,

 PRO-FORMENPro-Form (z.B. Pronomen, Pronominaladverbien): Gänseblumen sie,

 HYPERONYME/HYPONYME (Ober- bzw. Unterbegriffe): Heckenrosenstrauch – Strauch.

Bei der IMPLIZITEN WIEDERAUFNAHME handelt es sich nicht um Referenzidentität, sondern lediglich um PARTIELLE KOREFERENZ. Dies wird bewirkt durch Ausdrücke, die in einer bestimmten Relation (z.B. TEIL-GANZES-RELATION/pars pro toto) zu dem ersterwähnten Referenzträger stehen:

(3–2) […] Der Winter kam, und eines Tages entdeckte ich in der Nähe der Brücke einen Heckenrosenstrauch. Der Strauch war voller Hagebutten, deren glänzendes Rot von der dünnen Schneedecke unterm Strauch zum Leuchten gebracht wurde. […]

(Erwin Strittmatter [1967]: Der Heckenrosenstrauch. In: Schulzenhofer Kramkalender. Berlin/Weimar, S. 212f.)

Das Substituendum Heckenrosenstrauch wird durch das Substituens Hagebutten wiederaufgenommen, Hagebutten durch glänzendes Rot. Neben den Teil-Ganzes-Relationen gehören SEMANTISCHE KONTIGUITÄTENKontiguität zu den impliziten WiederaufnahmenWiederaufnahme. Durch eine Relation zwischen Wörtern, die der gleichen logischen (Niederlage : Sieg), ontologischen (naturgesetzliche Verknüpfungsverhältnisse wie Blitz : Donner), kulturellen (eine kleine Stadt : der Bahnhof) oder situationellen (der langhaarige Knabe : das englische Matrosenkostüm) Sphäre angehören, wird semantische Kontiguität bewirkt. Derartige Beziehungen zwischen Substituendum und Substituens nennt Harweg (21979: 192ff.) „Text-Kontiguitäts-Substitutionen“. Den Begriff Kontiguität übernimmt er aus der Semantikforschung und bestimmt ihn als „syntagmatisch semantische Affinität“ (Harweg 21979: 192). Zur semantischen KontiguitätKontiguität siehe ausführlich auch 4.2.2.

Während Harweg eine Typologie der verschiedenen Fälle von Pronominalisierungen und eine darauf aufbauende Textklassifikation verfolgt, geraten mit der Diskussion der Verfahren der WiederaufnahmeWiederaufnahme die Termini KohäsionKohäsion und KohärenzKohärenz als TextualitätskriterienTextualitätskriterium/-kriterien in den Blick (vgl. 1.3). Beide Termini spielen bei Harweg gar keine oder kaum eine Rolle. Dennoch lassen sich seine Pronominalisierungsfälle als kohäsive und kohärente Mittel der Konstituierung des Objekts ‚Text‘ interpretieren. KOHÄSION signalisiert die Beziehungen zwischen Oberflächenelementen. Vater (1992) präzisiert Substitutionen (z.B. durch Pronomen) und Ellipsen als kohäsive Mittel zur Bezeichnung inhaltlicher Beziehungen (KoreferenzKoreferenz). KOHÄRENZ nimmt auf die Textwelt Bezug, in der Relationen (lokale, temporale, kausale usw.) zwischen Konzepten (Objekte, Ereignisse) gemeinsam auftreten. Damit ist Kohärenz zunächst ein strukturelles Merkmal des Textes, das in „Klang und Druck“ (Beaugrande/Dressler 1981: 7) im Text manifest geworden ist. Andererseits sehen Beaugrande/Dressler Kohärenz als „Ergebnis kognitiver Prozesse der Textverwender“ (ebd.: 7). Für Vater bedeutet Kohärenz „Sinnkontinuität“, die auf der „Textwelt als Gesamtheit der einem Text zugrundeliegenden Sinnbeziehungen“ (Vater 1992: 43) beruht. Die Differenzierung von Kohäsion und Kohärenz sieht Brinker (62005: 18) als völlig unnötig an. Er vertritt ein komplexes Konzept von Kohärenz, das grammatisch, thematisch, pragmatisch oder kognitiv differenziert werden kann.

Zur Rolle der Wiederaufnahme sei mit Brinker (62005: 41f.) festgehalten, dass diese zwar äußerst bedeutsam für die Textkonstituierung ist, denn die Wiederaufnahme eines Gegenstandes ist in aller Regel Träger für den thematischen Zusammenhang eines Textes. Sie ist aber keine notwendige und auch keine hinreichende Bedingung für Kohärenz, denn diese kann unter Umständen tiefer liegen und muss nicht in einer 1:1-Entsprechung aus der Textoberfläche zu erschließen sein. Dies zeigt das folgende Beispiel:

(3–3) Die Gaststätte ist geschlossen. Es ist ein Trauerfall zu beklagen.

Trotz des Fehlens jeglicher syntaktisch-semantischer Verknüpfungsmittel liegt zweifellos eine kohärente Satzfolge vor. Die KONNEXIONKonnexion, also die Verknüpfung, zwischen den in den beiden Sätzen ausgesagten Sachverhalten ist kausaler Natur (siehe auch 4.3.2). Diese inhaltliche Beziehung lässt sich wie im Beispiel (3–3) nicht nur asyndetisch realisieren, sondern auch syndetisch beispielsweise durch den KONNEKTORKonnektor denn. Werden beide Sätze durch PRO-FORMENPro-Form miteinander verflochten, kann dies rückwärtsweisend (anaphorischanaphorisch: 3–3a) oder vorwärtsweisend (kataphorischkataphorisch: 3–3b) erfolgen, wie in den folgenden Beispielen:

(3–3a) Es ist ein Trauerfall zu beklagen.Deshalb ist die Gaststätte geschlossen.

(3–3b) Die Gaststätte ist geschlossen. Das bedeutet Folgendes:Wir bleiben heute zu Hause.

Dass auch ohne KonnektorenKonnektor oder Pro-FormenPro-Form z.B. kausale, temporale oder explizierende Relationen von PropositionenProposition erschlossen werden, liegt in der von syntaktischer KonnexionKonnexion zu semantischer und pragmatischer Kohärenz voranschreitenden Entwicklung im Sprach- und Schreiberwerb begründet. Konnexion ist also ein wichtiges Mittel zur Herstellung von Kohäsion und KohärenzKohärenz von Texten. Sie kann syndetisch oder asyndetisch erfolgen und dient zur Herstellung „interpropositionaler Relationen“ (Heinemann/Viehweger 1991: 43), wie sie in semantischen Ansätzen der Textlinguistik untersucht wurden (siehe ausführlich Kap. 4).

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