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Umgangssprachliche Syntax in der Belletristik
ОглавлениеAuch die zeitgenössische Belletristik für Erwachsene entspricht in ihrer Syntax keineswegs immer tradierten Normen:
(3–35) Erstens: Wen laden wir überhaupt ein? Puh, viel zu schwierig, erst mal was anderes: wie viele ungefähr. Rein mengenmäßig – ganz viele. Alle müssen kommen. Mit 30 kennt man ja so viele Leute wie niemals zuvor im Leben und auch wie nie mehr danach, denn das sortiert sich dann in die Ausschüsse.
So viele? Passen die dann denn, oder sollten wir nicht? Man wird nur einmal 30, genau, das ist der Satz, also einen Raum mieten. Oder ein Haus? Mit erforderlicher Zweidrittelmehrheit wird schließlich ein Gemeindezentrum durchgewinkt. Ein Bürgerhaus. Kann man angeblich mieten, hat Sandra auch gemacht oder wollte sie mal, für die Hochzeit, genau. Mal Sandra anrufen: Aha, hast du noch die Nummer, ja, warte mal, wo hast du denn Stifte hier, Andrea, ja, da, so, ja, sag noch mal. Wie heißt der? Wie man’s spricht? Klasse. Und schon ist die Liste um zwei Namen länger, denn natürlich muß Sandra jetzt auch eingeladen werden, Sandra+Mann. Ist aber nicht schlimm: In ein Bürgerzentrum passen mehrere hundert Menschen, und wenn die nicht kommen, sieht es ärmlich aus, nach Beerdigung. Dann kommen böse Gedanken. Aber es soll ein frohes Fest werden. Nun werden alle eingeladen, die man kennt. Alle, die es gibt, je gab. Alte Adreßbücher werden recycelt. Seit Jahren nichts gehört voneinander, aber dann: Herzlich eingeladen. Zum 30. Gerne auch in Begleitung. Wer den wohl inzwischen (oder sagt man: noch) begleitet? (B. Stuckrad-Barre: 30. Geburtstag. Glosse aus: Remix)
Stuckrad-Barre als ein der Popliteratur zuzuordnender junger Autor will u.a. über den Gebrauch zeitgenössischer Umgangssprache Modernität signalisieren. Dies reflektiert sich ganz maßgeblich in seiner Syntax. Viele der unter 3.2.3 aufgeführten Formen syntaktischer BasiseinheitenBasiseinheit, syntaktische sind daher in dem gegebenen Textausschnitt vertreten, z.B. Infinitivkonstruktionen (Mal Sandra anrufen:), Präpositionalkonstruktionen (Zum 30.) oder Konstruktionen ohne Zentralregens (Gerne auch in Begleitung.).
Mit Blick auf die hier beschriebenen textgrammatischen Phänomene ist zusammenfassend festzustellen, dass einerseits die syntaktischen Normen der gesprochenen Sprache nicht als defizitäre Abweichungen von den an der Schriftsprache orientierten und in Grammatiken kodifizierten so genannten standardsprachlichen Normen beschrieben werden sollten und dass andererseits die standardsprachliche Norm auch keineswegs mit der schriftsprachlichen Norm gleichzusetzen ist, sondern lediglich mit der Norm bestimmter, nicht explizit genannter Textsorten. Die Konsequenz aus diesem Befund kann nur lauten, dass es ein homogenes grammatisches System für das geschriebene Deutsch ebenso wenig gibt wie für das gesprochene Deutsch. Vielmehr ist es so, dass das Spektrum der Kommunikationsformen, der situativen Konstellationen und der Textsorten so vielschichtig ist, dass die prototypische Struktur, die wir vom Schriftlichen bzw. vom Mündlichen in unserem SprachbewusstseinSprachbewusstsein entwickeln, vielfach durchbrochen wird. Die dabei produzierten Äußerungen lassen sich offensichtlich nur mit einer Textgrammatik neueren Typs angemessen erfassen und beschreiben.
Kommentierte Literaturtipps
Eine Monographie, die exemplarisch für die Herausbildung der Textlinguistik als Textgrammatik steht, ist die erwähnte Habilitationsschrift „Pronomina und Textkonstitution“ von Roland Harweg (1968, 21979). Sie ist insbesondere interessant mit Blick auf die Methoden der strukturell-grammatischen Textbeschreibung. Ein Studienbuch, das einen Überblick über verschiedene Textbeschreibungsmodelle gibt und Studierende in die Lage versetzt, diese an unterschiedlichen analogen und digitalen Textsorten anzuwenden, liegt mit Gansel/Jürgens 22007 vor. In der Monographie von Jürgens 1999 wird am Beispiel verschiedener gesprochen und geschrieben realisierter Textsorten aus dem Bereich der Sportberichterstattung ein Beschreibungsinstrumentarium für textgrammatische Analysen entwickelt. Eine, wenn nicht die zusammenhängende Grammatikdarstellung, in der textgrammatische Phänomene systematisch Aufnahme gefunden haben, ist die „Grammatik der deutschen Sprache“ (GDS) von Zifonun u.a. 1997. Insbesondere zur Anaphorik siehe auch die aktuellere Einführung von Schwarz-Friesel/Consten 2014.