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3. Charakteristische Züge der arabisch-islamischen Philosophie
(falsafa) 3.1 Apodeiktische Methode und Verwissenschaftlichung der Philosophie
ОглавлениеDie Bedeutung der Araber für das Selbstverständnis der Philosophie erschöpft sich jedoch nicht im Herausstellen des Wahrheitsanspruchs der Vernunft. Vielmehr wurde dieser, wie al-Fārābīs Zitat bereits andeutete, durch sorgfältige Analysen der verschiedenen methodischen Vorgehensweisen der einzelnen Wissenschaften genauer ausgeführt, die grundsätzlich die aristotelischen Vorlagen weiterzuentwickeln suchten.
Dabei lassen sich zwei wichtige Aspekte unterscheiden: Erstens schenkten die arabischen Philosophen dem Konzept der Wissenschaft und der ihr adäquaten Methodik besondere Aufmerksamkeit, und zweitens klassifizierten sie die verschiedenen Wissenschaften in systematischer Weise. Dabei arbeiteten sie nicht zuletzt die besondere Methodik der Philosophie deutlich heraus und unterstrichen deren Erklärungskompetenz für die gesamte Wirklichkeit, indem sie die Disziplin der Metaphysik neu begründeten. Auch für diese Leistungen, die die philosophische Entwicklung Europas mitprägten, haben al-Kindī und al-Fārābī eine bahnbrechende Rolle gespielt; Avicenna und Averroes führten insbesondere al-Fārābīs Ideen in unterschiedlicher Weise fort.
Den Schlüsseltext für den Wissenschaftsbegriff bildeten seit dem 10. Jahrhundert Aristoteles’ Analytica posteriora, welche die Baġdāder Aristoteliker, in deren Umfeld al-Fārābī arbeitete, das Buch des Beweises (Kitāb al-burhān) nannten.28 Damit trat ein Werk in den Mittelpunkt des Interesses, das in der Antike zwar kommentiert,29 aber nicht durchgängig zum methodischen Paradigma erhoben worden war. Im syrischen Aristoteles-Curriculum oder in der lateinischen Aristoteles-Übertragung des Boethius war es sogar überhaupt nicht enthalten. Die arabischen Aristoteliker fanden hierin das Ideal einer deduktiv-syllogistischen Ableitung wahrer wissenschaftlicher Erkenntnisse aus intuitiv erkannten Prinzipien, die als Apodeiktik bezeichnet wird. Diese deduktive Methode30 wurde bei den falāsifa zum Prinzip der spezifisch philosophischen, nicht auf Fehlschlüssen beruhenden Weltdeutung.31 Diese unterscheide sich, so al-Fārābī, dadurch von den religiös begründeten Wissenschaften, dem islamischen Recht (fiqh) und der Theologie (kalām), dass die Philosophie einen universalen, diese aber nur einen auf eine Religion begrenzten Geltungsanspruch hätten; die Theologie sei demnach in gewisser Hinsicht eine „Dienerin“ (ḫādima) der Philosophie. Zudem hielten die religiösen Wissenschaften „Bilder und Vorstellungen“ für wahr und gewiss, ohne deren Wahrheit selbst beweisen zu können, da dazu nur die apodeiktische Philosophie imstande sei; daher sei die Theologie besonders gefährdet, sophistische Fehlschlüsse nicht zu erkennen.32
Diese Abgrenzung von Religion und Theologie bestimmte das Selbstverständnis der arabisch-islamischen Philosophen als Vertreter einer apodeiktisch-syllogistischen Deutung der gesamten Wirklichkeit: Avicenna beispielsweise verstand das philosophische Arbeiten im strengen Sinn als das systematische Gewinnen von Mittelbegriffen zur Konstitution neuer, sachlich richtiger Syllogismen. Mittels dieser Syllogismen wurde aus unbezweifelbaren Prämissen ein nicht mehr zu überbietendes, zuverlässiges Wissen über die verstandenen Sachverhalte gewonnen. Diese Methode nannte Avicenna „Verifizierung“ (taḥqīq).33 „Ich habe Dinge erkannt, die ich verifiziert habe; in Bezug auf sie kann ich nicht verbessert werden.“34 Averroes folgte diesem methodischen Ideal einer syllogistisch durchstrukturierten Erklärung der Welt als ganzer35 und verteidigte es gegen die Kritik, die al-Ġazālī in seiner Inkohärenz der Philosophen geübt hatte.
Damit erfuhr die Philosophie eine durchgreifende Verwissenschaftlichung ihrer Methodik, die sie nicht nur gegen religiöse Wahrheitsansprüche abgrenzte, sondern auch Standards festlegte, die die Gestalt der Philosophie weit über die arabisch-islamische Welt hinaus bis heute beeinflussen. Während Aristoteles selbst die in den Analytica posteriora entwickelte Methodik nur in begrenztem Maße anwandte, ja sie vielleicht nur als Darstellungsweise wissenschaftlicher Ergebnisse festhielt,36 wurde sie im arabischen Bereich zu der Vorgehensweise schlechthin, die die philosophische Erkenntnis von anderen Methoden der Annäherung an die Wahrheit unterschied. Im frühmittelalterlichen Baġdād entstand so die Idee eines kohärenten Systems logisch verknüpfter Sätze als Idealgestalt von Philosophie.