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4.2 Metaphysische Systeme der Freiheit und der Notwendigkeit
als Rezeption avicennischer Metaphysik

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Diese Arbeitsweise führte ab Ende des 13. Jahrhunderts zu einer ganzen Reihe auch philosophisch grundlegender Neuansätze. Der Einfluss, den die arabisch-islamische Philosophie dabei ausübte, zeigt sich beispielhaft an der Rezeption der Grundprinzipien von Avicennas philosophischer Metaphysik mit ihrer Idee einer notwendigen Kausalität. Zwei in vielem konträre Gegenpositionen können exemplarisch die mannigfaltigen Resultate dieses Einflusses verdeutlichen:

Um 1300 behauptete der Franziskanertheologe Johannes Duns Scotus, die Annahme einer notwendigen Erstursache impliziere zwangsläufig eine Notwendigkeit von sämtlichen Zweitursachen und deren Wirkungen, was das Vorhandensein von Kontingenz in der Welt ausschließe. Da diese aber offensichtlich und eine unverzichtbare Vorbedingung freien menschlichen Handelns sei, müsse man vielmehr auch für die erste Ursache eine durchgängige Notwendigkeit bestreiten; zumindest in ihrer Wirkweise, dem Willen, müsse diese ebenfalls kontingent sein.64 Diese Theorie, die deutlich als Reaktion auf Avicennas in sich schlüssiges Notwendigkeitsdenken erkennbar ist,65 stellt gerade in dessen Ablehnung einen wichtigen Schritt zur Anerkennung der rationalen Unverfügbarkeit der Wirklichkeit dar: Wenn es keine notwendige Wirkung der ersten Ursache auf die Welt gibt, dann kann auch das Verhältnis dieser ersten Ursache zur Welt nicht auf apodeiktischem Wege voll begriffen werden. Das Verhältnis von Gott und Welt ist kontingent, weswegen es letztlich nur vom Glauben voll erfasst werden kann.

Diese Konsequenz eines Denkens, dessen primären Anstoß das theologische Motiv der Erhaltung der Freiheit des Schöpfergottes gab, blieb nicht unwidersprochen. Um einen solchen Widerspruch philosophisch konsequent durchzuführen, wählte 300 Jahre später Benedikt de Spinoza (ein Autor, der mit den Ansätzen von Averroes und Avicenna gut vertraut war66) einen Ansatz, der die notwendige Kausalität der ersten Ursache in den Mittelpunkt stellte. Schon die Form von Spinozas Philosophie, die in geometrischer Notwendigkeit aus einer begrenzten Zahl klar definierter Prämissen folgt, erinnert an das apodeiktische Ideal der falāsifa. Aber auch inhaltlich vertritt er, im Kern nicht anders als Avicenna, einen notwendigen Zusammenhang der Welt mit der ersten Ursache, deren Freiheit lediglich darin besteht, dass sie „aus der bloßen Notwendigkeit der Natur da ist“, während dasjenige als notwendig definiert wird, „was von einem anderen durch einen gewissen und bestimmten Grund zu sein und zu wirken bestimmt wird“.67 Schon diese einleitende Definition greift bis in die Terminologie hinein Avicennas Unterscheidung von an sich bestehender und abgeleiteter Notwendigkeit auf, wodurch der ansonsten terminologisch stark fühlbare Einfluss des Duns Scotus68 konterkariert wird. Damit wird Avicenna wiederum zum Ansatzpunkt für die Zurückweisung des spätmittelalterlichen Freiheitsdenkens.

Hier stellt sich die Frage nach den Gemeinsamkeiten zweier so gegensätzlicher Ansätze wie denen von Duns Scotus und Spinoza. Einen Hinweis kann die Überlegung geben, dass sie beide das Verhältnis der Welt zu ihrer ersten Ursache und deren eigene Wirkweise auf einheitliche Weise beschreiben – entweder ist beides kontingent oder beides notwendig. Die für viele Positionen der antiken Tradition kennzeichnenden Übergänge vom Ewigen zum Zeitlichen, von der Notwendigkeit zur Kontingenz oder von der Wahrheit zum Schein, wie sie Thomas von Aquin in neuplatonischer Tradition noch für möglich hielt,69 werden hingegen als ungerechtfertigte Nivellierungen von Gegensätzen abgelehnt, die einander sachlich ausschließen. Das lässt sich unter anderem dadurch verstehen, dass nach den wissenschaftlichen Prinzipien der Analytica posteriora einheitlich verwendete Begriffe für das Ziehen gültiger Schlüsse erforderlich sind. Die Wirklichkeit, die durch derartige Schlüsse korrekt beschreibbar sein soll, muss aber selbst entweder durchgehend notwendig oder durchgehend kontingent sein.

Letztlich dürfte das arabisch-islamische Denken demnach die europäische Philosophie am tiefsten durch seine methodischen Reflexionen beeinflusst haben. Diese behielten selbst nach einer Abkehr von aristotelisch-neuplatonischen Ontologie- und Kausalitätsprinzipien ihre Bedeutung. Sie förderten somit das Hervortreten der scharf konturierten Gegensätze, die das spätmittelalterliche und neuzeitliche Denken vor schwer lösbare Probleme stellten. Beispiele sind die Verhältnisse von Vernunft und Offenbarung als Quellen wahrer Erkenntnis oder auch von Freiheit und Notwendigkeit als Ausgangspunkte von Denksystemen. Diese Spannungen dürften wiederum die Frage nach einem Kriterium zur Beurteilung konkurrierender inkommensurabler Wahrheitsansprüche tendenziell verstärkt haben, die sich auch auf politischer und religiöser Ebene in Anbetracht der Konflikte der europäischen Neuzeit zunehmend stellte. Ein methodisch abgesichertes wissenschaftlich-rationales Vorgehen kristallisierte sich dabei als wichtigste Möglichkeit heraus, solche Probleme beherrschen zu können. Auf diese Weise erlangte der Vorrang wissenschaftlicher Rationalität vor Glaubensüberzeugungen, den ursprünglich al-Kindī, al-Fārābī, Avicenna und Averroes innerhalb der Offenbarungsreligion Islam entwickelt hatten, im westlichen Europa eine größere Bedeutung, als er je zuvor besessen hatte. Ohne die von den Arabern geleistete methodische Fundierung der Philosophie wäre die geistige Dynamik, der das säkulare Europa sein Selbstverständnis verdankt, kaum in derselben Weise zustande gekommen.

Islamische Philosophie im Mittelalter

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