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3.2 Die Klassifizierung der Wissenschaften und der zweite Anfang der Metaphysik

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Diese methodische Bestimmung der Philosophie im vollen Sinne ergänzte al-Fārābī durch eine Katalogisierung aller Wissenschaften nach einem einheitlichen Schema. Sein berühmter Iḥṣāʾ al-ʿulūm (Katalog der Wissenschaften) beeinflusste in lateinischer Übersetzung unter dem Titel De scientiis das lateinische Europa direkt.37 Die Bedeutung des Werks im arabischen Kontext liegt in dem Versuch, „einheimische“, das heißt arabisch-islamische, und „fremde“, das heißt griechische, Wissenschaften, erstmals in einer Systematik zu vereinen. Dabei wird die in der arabischen Tradition besonders wichtige Grammatik vor der von Aristoteles ererbten syllogistischen Logik behandelt. Trotzdem behält letztere einen sachlichen Vorrang, denn sie liefert die Regeln, anhand derer die Wahrheit auf methodisch sicherem Wege erkannt werden kann, während die Grammatik mit der Korrektheit des Sprachgebrauchs befasst ist.38 Islamisches Recht und Theologie ordnet al-Fārābī unter die politischen Wissenschaften ein, da sie, wie schon im Buch der Buchstaben (Kitāb al-ḥurūf), nur einen eingeschränkten, von den Vorgaben des Religionsstifters abhängigen Wirkungsbereich haben.39 Die Naturwissenschaft beziehungsweise Physik sowie die „göttliche Wissenschaft“ (al-ʿilm al-ilāhī) haben demgegenüber, da sie zu den philosophisch-apodeiktischen Wissenschaften gerechnet werden, einen universalen Wahrheitsanspruch.40

Damit berührt al-Fārābī die Disziplin, von der der philosophische Anspruch auf eine Gesamtdeutung der Wirklichkeit letztlich argumentativ vertreten werden musste, nämlich die ebenfalls von Aristoteles begründete Metaphysik. Bereits al-Kindī hatte sie in den arabischen Raum eingeführt, als er sein Hauptwerk Erste Philosophie (al-falsafa al-ūlā) nannte,41 aber erst al-Fārābī bestimmte ihre Stellung im Rahmen der Wissenschaften. In seiner kleinen Schrift Die Ziele des Buches der Metaphysik erläutert er, dass die aristotelische Metaphysik von der islamischen Theologie unterschieden werden müsse, deren Ziel die Rede über Gott ist. „Dagegen betrachtet die allgemeine Wissenschaft das, was allem Seienden (ğamīʿ al-mawğūdāt) gemeinsam ist, so das Sein und die Einheit in ihren Arten und Anhängen.“ Die Theologie als die Lehre von der höchsten Ursache sei ein Teil dieser Wissenschaft, die Metaphysik genannt werde, nicht die ganze.42 Im Katalog der Wissenschaften unterscheidet al-Fārābī drei Untersuchungsziele der Metaphysik, nämlich 1. „das Seiende und das, was dem Seienden zukommt, insofern es seiendes ist“, 2. „die Prinzipien der Beweise in den einzelnen theoretischen Wissenschaften“, und 3. die unkörperlichen Dinge als solche. Unter diesem letzten Punkt zeichnet er knapp einen Argumentationsgang nach, der aus der Reflexion über unkörperliches Seiendes deduktiv die Existenz einer ersten Ursache und die Art ihrer Wirkung auf die Welt aufzeigt.43 Diese kurze Skizze einer philosophisch-metaphysischen Theologie kann in ihrem Anspruch kaum überschätzt werden: Hier wird exemplarisch gezeigt, wie auf apodeiktisch-syllogistischem Wege mit nicht hintergehbarer Gewissheit sowohl die Ursache der Welt bewiesen als auch deren Wirkung auf die Welt nachgezeichnet werden kann. Offensichtlich unter dem Einfluss der neuplatonischen Ursachenlehre, wie sie zum Beispiel das Buch vom reinen Guten (Kitāb al-ḫayr al-maḥḍ bzw. Liber de causis) vermittelt,44 erweitert al-Fārābī die aristotelische allgemeine Seinswissenschaft der Metaphysik zu einer „göttlichen Wissenschaft“ (al-ʿilm al-ilāhī), die sowohl die erste Ursache als auch ihre Wirkung auf die abhängige Welt als Seiendes im Sinne der aristotelischen Metaphysik versteht, das folglich mit apodeiktisch-deduktiver Methode zu untersuchen ist.45

Mit dieser Charakterisierung der Metaphysik schuf al-Fārābī den Rahmen, der etwa 80 Jahre später von Avicenna mit einem umfassenden Entwurf der so verstandenen universalen Seinswissenschaft ausgefüllt wurde. Noch eindeutiger als Aristoteles entwickelte dieser die philosophische Rede von Gott aus der Bedeutung von Sein und seiner verschiedenen Bedeutungen heraus. Insbesondere die prinzipielle Unterschiedenheit des „in sich notwendig Seienden“ (wāğib al-wuğūd bi-ḏātihī), nämlich Gottes, von allem anderen, in sich möglichem Seienden, deutet die mehrfach gestufte neuplatonische Wirklichkeitskonzeption neu durch eine zweigliedrige Gegenüberstellung der ersten Wirkursache und der Gesamtheit des Verursachten, die der Stellung Gottes in einer monotheistischen Religion Rechnung trägt.46 Der Notwendigkeit der ersten Ursache korrespondiert hierbei letztlich eine Notwendigkeit alles Seienden, das immer „notwendig von etwas anderem her“ existiert, nämlich von der ersten Ursache. Mit der Betonung dieser inneren Notwendigkeit kommt Avicenna zeitgenössischen Strömungen der islamischen Theologie inhaltlich entgegen.47 Sein Ansatz ist aber auch eine Form von Metaphysik, die der apodeiktischen Methode angemessen ist. Deren deduktiv zwingende Vorgehensweise findet ihre Entsprechung in der kausalen Determination der Wirklichkeit als ganzer durch ihre erste Ursache.48

Hervorzuheben ist, dass dieser Ansatz wesentlich auf dem Seinsbegriff und der Deutung von Notwendigkeit und Möglichkeit als ihm innewohnenden Modalitäten beruht.49 Damit vertieft Avicenna die zentrale Bedeutung einer universalen, Gott und Welt umfassenden Theorie des Seienden als solchen (on hēj on = al-mawğūd bi-mā huwa mawğūd = ens inquantum ens) und seiner „transzendenten“ Eigenschaften für die philosophische Metaphysik, die al-Fārābī bereits angedeutet hatte.50 Der „zweite Anfang der Metaphysik“, den Ludger Honnefelder an einem veränderten Verständnis von Metaphysik festmacht, das diese nicht mehr als Untersuchung des ersten Seienden, sondern als eine des Seienden im Ganzen begreift, findet nicht erst, wie Honnefelder selbst meint, im europäischen 13. und 14. Jahrhundert statt,51 sondern bereits im arabisch-islamischen Raum: Die universale, Gott und die Welt umgreifende Ontologie wurde von al-Fārābī programmatisch formuliert und von Avicenna in einem großen Entwurf ausgeführt.52 Es lässt sich sogar behaupten, es habe im Bagdad des 8. und 9. Jahrhunderts in der Tat einen zweiten Anfang, das heißt einen Neubeginn der Metaphysik als philosophischer Disziplin gegeben: Denn nach der Einführung des Konzepts der ersten Philosophie durch al-Kindī verstand al-Fārābī wohl als erster nach einer circa 300-jährigen Pause, dass die Metaphysik eine eigene Wissenschaft mit einem eigenen Objekt ist. Auch in dieser Hinsicht ist er zum „zweiten Lehrer“ der Philosophie geworden.

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