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1.2 Früher Kalām: Muʿtaziliten und Ašʿariten1

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In der Gesellschaft des rasch expandierenden muslimischen Gemeinwesens, in die diese neuübersetzten Texte hineintreten und eine eigenständige Tradition begründen, besteht ein durchaus fruchtbares Umfeld für ihre Rezeption und Weiterentwicklung. Das Interesse an naturphilosophischen Fragestellungen ist zum einen begründet in genuin „(natur-)wissenschaftlichen“ Fragestellungen – und hierin haben wir sicher eine wichtige Motivation für die rege Übersetzungstätigkeit zu erkennen. In seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen ist jedoch auch der Kontext des genuin religiös motivierten Interesses an rationaler Begründung und Absicherung von Glaubensinhalten. Dieses Interesse ist stark ausgebildet in der Tradition des kalām – oft beschrieben als „rationale Theologie“ des Islam – einer Linie religiösen Denkens, die sich ganz deutlich von stärker traditionalistischen Ansätzen absetzt, wie sie durch die Gruppe der ḥadīṯ-Gelehrten vertreten wird.

Die Gruppe der frühesten Denker ist unter der Bezeichnung Muʿtazila bekannt – wörtlich heißt dies „die sich zurückziehen“. Der Ursprung dieser Bezeichnung ist unklar, eine Erklärung besagt, dass sich der legendäre „Gründer“ der Muʿtazila, Wāṣil b. ʿAṭāʾ (gestorben ca. 748), mit seinen Schülern aus dem üblichen Lehrbetrieb zurückgezogen habe. Eine andere Erklärung ist die, dass die Muʿtazila mit Bezug auf die Frage, was der Status eines schweren Sünders sei (eine theologischen Frage mit hoher politischer Relevanz, geht es doch um die Beurteilung der Legitimität der frühen Kalifen), eine Entscheidung abgelehnt habe.

Insgesamt erscheint die Muʿtazila erst aus dem Rückblick als eine einheitliche Schule, und fünf Grundprinzipien werden als die Basis ihrer theologischen Ansichten beschrieben: strikter Monotheismus (tawḥīd), die göttliche Gerechtigkeit (ʿadl), Verheißung und Drohung (al-waʿd wa-l-waʿīd), der Sünder steht zwischen Glauben und Unglauben (al-manzila bayna al-manzilatayn), Aufforderung zum Guten und Verbieten des Tadelswerten (al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿan al-munkar). Sehr breiten Raum nehmen im Denken der frühen Muʿtazila naturphilosophische Spekulationen ein – insbesondere bildet sich eine sehr spezifische Form eines theologisch fundierten Atomismus heraus: Die Grundlage der körperlichen Welt bilden Atome (al-ǧuzʾ allaḏī lā yataǧazzaʾ, al-ǧawhar [al-fard]), in ihnen inhärieren Akzidenzien (ʿaraḍ) (Beispiele können sein: Schwärze, Bewegung, Komposition mit einem anderen Atom (taʾlīf), aber auch Leben) – über die genaue Ausgestaltung dieser Theorie werden heftige Debatten geführt.

Im 10. Jahrhundert tritt mit Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī (gestorben 935) ein Theologe auf, dem es gelingt, eine neue Form des kalām zu etablieren. Dabei folgt er weiterhin der Methodik einer rationalen, aber auch stark dialektisch geprägten Argumentation – anders als die Muʿtaziliten nehmen die Ašʿariten aber stärker Rücksicht auf traditionelle Thematiken und Positionen. Im Bereich des sunnitischen Islam wird die Muʿtazila dabei zunehmend in eine Außenseiterposition gedrängt – ab dem 13. Jahrhundert kommt es aber zu einer Renaissance muʿtazilitischer Theologie: Dort wird sie etwa ab der Zeit von Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsi von den imāmitischen Schiiten gepflegt. Die Ašʿariten betonen sehr stark, dass Gott in seiner Allmacht nicht eingeschränkt ist – Spekulationen, die nachweisen wollen, dass Gott an gewisse rationale Grundüberlegungen gebunden sei, lehnen die Ašʿariten ab. Sie übernehmen den Atomismus als Grundtheorie, formen diesen aber noch konsequenter in ein okkasionalistisches Weltbild aus: Nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit ist durch eine atomistische Struktur geprägt, es handelt sich um eine Aufeinanderfolge von „Augenblicken“. In jedem Augenblick schafft Gott neu – und daher wirkt keine naturgesetzliche Kausalität. Vielmehr handelt es sich bei den beobachteten Regelmäßigkeiten um göttliche Gewohnheit (ʿāda), die Gott jederzeit durchbrechen kann, nämlich in Form von Wundern (ḫarq al-ʿāda, wörtlich: Durchbrechen der Gewohnheit). Die Ašʿariten insistieren, dass die moralischen Kategorien „gut“ und „schlecht“ durch die göttliche Offenbarung definiert werden, nicht durch rationale Grundstrukturen, an die Gott gebunden wäre. Aus der Retrospektive präsentieren sich die Ašʿariten (gemeinsam mit einer weiteren, ursprünglich in Transoxanien beheimateten theologischen Schule, der Māturīdīya) als einheitliche und historisch unwandelbare Gruppe von Vertretern der Sunna – eine Selbstsicht, die durch neuere Forschung in vielen Details in Frage gestellt wird.

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