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2.2 Konfrontation von Philosophie und Religion: Abū Bakr ar-Rāzī
ОглавлениеDie späteren Schüler und Nachfolger al-Kindīs mussten sich neuen philosophischen Entwicklungen stellen. Eine solche Herausforderung bildete das Denken des Abū Bakr Muḥammad b. Zakarīyāʾ ar-Rāzī (865–925 oder 935), der traditionell als „der freidenkerischste der großen Philosophen des Islam“ angesehen wird.10 Gebürtig aus Rayy unweit des heutigen Teheran, war ar-Rāzī zunächst Leiter des dortigen Krankenhauses, bevor er dieselbe Position in Baġdād einnahm. Wie andere führende Ärzte seiner Zeit, verband er mit seinen medizinischen Aufgaben auch weitere Tätigkeiten an den Höfen, in deren Umfeld er arbeitete. Insbesondere setzte er aber die Tradition des antiken Arztes Galen (2. Jahrhundert) fort und verband die medizinische Tätigkeit mit philosophischem Nachdenken, dem etwa 80 seiner 200 Schriften gewidmet sein sollen, deren Titel uns erhalten sind.
Erhalten sind von diesem umfangreichen Werk vor allem zwei ethische Schriften, Die geistige Medizin (aṭ-Ṭibb ar-rūḥānī) und Die philosophische Lebensführung (as-Sīra al-falsafīya). Die erste von ihnen richtete sich, als Anhang an ein medizinisches Werk, an den Kalifen al-Manṣūr, die zweite wurde gegen Ende seines Lebens zur Rechtfertigung des eigenen Lebensstils verfasst. Beide lassen deutliche Anklänge an antike Theorien gelingenden Lebens erkennen, wobei theologische Perspektiven sowie die Unsterblichkeit der Seele kaum eine Rolle spielen. Im Mittelpunkt von ar-Rāzīs Interesse steht das Ziel, Freude an den rechten Dingen zu haben. Aus diesem Grund wird ihm traditionell eine inhaltliche Nähe zu epikureischen Positionen nachgesagt, doch wurde dieser Deutung jüngst von Peter Adamson widersprochen: Letztlich lasse sich ar-Rāzīs Theorie der Freude weder als platonisch noch als epikureisch deuten, sondern im Gegensatz zu beiden lehne er die Idee einer qualitativ von der sinnlichen Freude verschiedenen nicht ab.11
Berühmt geworden ist ar-Rāzī jedoch weniger durch diese erhaltenen Schriften als durch seine Position zur Religion, die aus einigen erhaltenen Fragmenten bekannt ist, vor allem aus dem Bericht seines Zeitgenossen und Namensvetters, des ismāʿīlitischen Denkers Abū Ḥātim ar-Rāzī (gestorben 933).12 Diesen Zeugnissen zufolge ist der Geist jedem Menschen gegeben, und daher sei jeder grundsätzlich befähigt, durch Denken zur Wahrheit zu gelangen. Dieses Vertrauen auf die menschliche Vernunft bringt ar-Rāzī gegen die Religion und insbesondere die Prophetie in Stellung: Nicht nur sei diese überhaupt nicht notwendig, um die Wahrheit über Gott und die Welt zu erkennen, sondern vielmehr sei jeder ein Schwindler und Betrüger, der sich ein besonderes Wissen zuschreibe.
Mit diesen Thesen wendet sich ar-Rāzī dezidiert gegen den Anspruch eines Vorrangs der Religion vor jeder rationalen Erkenntnis, der zu seiner Zeit deutlich dezidierter verfochten wurde als von den muʿtazilitischen Zeitgenossen al-Kindīs. Allerdings fiel diese Botschaft zu ar-Rāzīs Zeit nicht auf fruchtbaren Boden. Folglich blieb ar-Rāzī eine Einzelgestalt und fand praktisch keine Nachfolger. Eher war sein Denken geeignet, den Wahrheitsanspruch der Philosophie in den Augen gläubiger Muslime fraglich erscheinen zu lassen; die Vereinbarkeit von Philosophie und Islam war damit keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern beider Verhältnis zeigte sich als eine rational zu klärende Aufgabe.