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3. Die Rückschauperspektive Ibn Ḫaldūns

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Die eben geschilderten Entwicklungen in der Interaktion philosophischer und theologischer Wissenschaftskonzeptionen kommen mit Ende der Ilḫanidendynastie zu einem gewissen Abschluss. Zeitlich sehr nahe steht dem die Rückschauperspektive, die der nordafrikanische Historiker Ibn Ḫaldūn (gestorben 1406) gibt. Berühmt geworden ist Ibn Ḫaldūn durch seine Muqaddima (Prolegomena). Diese Muqaddima ist die Vorrede zu seinem Geschichtswerk K. al-ʿibar (Buch der Beispiele), und auf der Grundlage dieses Textes wird Ibn Ḫaldūn in populären Darstellungen gerne als arabischer „Vater der Soziologie“ beschrieben.41 Da Ibn Ḫaldūns Gesellschaftstheorie den Künsten und Wissenschaften eine wichtige Rolle zuerkennt, enthält seine Darstellung viele Details, die unabhängig auch von der neuen Forschung bestätigt werden. Allerdings passt er seine Beobachtungen in seine zyklische Gesellschaftstheorie ein, so dass seine Bewertungen hiervon oft stark beeinflusst werden, Ibn Ḫaldūn beobachtet den Prozess der gegenseitigen Annäherung der verschiedenen Wissenschaften sehr genau und steht ihm (mit Bezug auf eine Vielzahl von Kontexte und Disziplinen) grundsätzlich kritisch gegenüber. Zum Verhältnis von Theologie und (philosophischer) Metaphysik äußert er sich:

„Gegenstand und Probleme von Theologie und Metaphysik ähnelten sich einander an, und sie wurden gewissermaßen eine und dieselbe Disziplin (farm). Dann veränderten sie die Anordnung der Philosophen, wie Physik und Metaphysik behandelt wurden. […] Der Imām Ibn al-Ḫaṭīb [Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī] verfuhr so in den Östlichen Untersuchungen, und so taten dies auch die späteren Theologen. kalām wurde so mit Philosophie vermischt, und Werke über kalām wurden mit Philosophie angefüllt. Das Ziel von Philosophie und Theologie mit ihren jeweiligen Gegenständen und Problemen erschien als ein und dasselbe.“42

In seiner Muqaddima möchte Ibn Ḫaldūn „Geschichte“ (ta’rīḫ) als Wissenschaft begründen und greift dabei auf die Wissenschaftslehre der Zweiten Analytiken zurück: Der Gegenstand von Geschichtswissenschaft ist die menschliche Gesellschaft beziehungsweise die Zivilisation der Welt (al-iǧtimāʿ al-insāni alladī huwa ʿumrān al-ʿālam),43 deren essentielle Akzidenzien untersucht werden. Ibn Ḫaldūns Beschreibung des Verhältnisses zwischen Theologie und Philosophie in seiner Zeit geht auf eine gute Vertrautheit mit diesen Traditionen zurück, Ibn Ḫaldūn erwähnt, dass er während eines Aufenthaltes in Ägypten die Werke des at-Taftāzānī kennengelernt habe.44 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Ibn Ḫaldūns singuläres Interesse an einer wissenschaftstheoretischen Fundierung von „Geschichte“ inspiriert ist durch ganz ähnliche sehr ausführliche Diskussionen in der Einleitung von Kalām-Werken – wie zum Beispiel at-Taftāzānīs Maqāṣid al-Maqāṣid (Intentionen der Intentionen).

Ibn Ḫaldūn entwickelt – basierend wohl auf der Beobachtung des Aufstiegs und Niedergangs verschiedener Dynastien in seiner Heimat, dem westlichen Nordafrika –, ein zyklisches Gesellschaftmodell. Blühende Zivilisationen und Städte werden von militärisch starken und untereinander durch Stammessolidarität (ʿaṣabīya) verbundenen Beduinenstämmen erobert. Diese passen sich im Laufe einiger Generationen an die städtische Zivilisation an, dabei geht ihre militärische Stärke verloren, aber Handwerk, Künste und Wissenschaften gelangen zur Blüte. Auch Ibn Ḫaldūns Sicht auf die Entwicklung von Philosophie im Islam wird in dieses Schema eingepasst: Während in den allerersten Jahrzehnten nach Gründung des islamischen Staatswesens in der beduinischen Gesellschaft kein Platz für Philosophie war, ist die islamische Zivilisation zur Zeit der Abbasidenkalifen dafür genug gereift. In seiner eigenen Zeit, so Ibn Ḫaldūn, befinden sich die philosophischen Wissenschaften im Niedergang – als Ausnahmen nennt er das ferne Ḫurasān und Transoxanien sowie die Länder der Franken.

Ibn Ḫaldūns Sicht auf die Entwicklung von Philosophie hat auch die spätere Tradition im osmanischen Reich beeinflusst. Besonders wichtig ist hier der Kašf aẓ-ẓunūn [ʿan asāmī l-kutub wa-l-funūn] (Enthüllung der Zweifel [über die Namen der Bücher und Disziplinen]) des Katip Čelebi (gestorben 1657). Bei diesem Werk handelt es sich um unsere wohl wichtigste bibliographische Quelle für die osmanische Zeit – und es spiegelt einerseits die Wertungen und Einstellungen der eigenen Zeit wider. Zum anderen wirkt es aber auch auf die spätere Wahrnehmung. Neben bibliographischen Angaben enthält der Kašf aẓ-ẓunūn auch Kurzbeschreibungen zu den einzelnen Wissenschaften und Disziplinen. Dabei folgt Katip Čelebi dem Ibn Ḫaldūn und diagnostiziert nun für die eigene Zeit (also 250 Jahre nach Ibn Ḫaldūn) mit weitgehend denselben Worten ebenfalls einen Niedergang. Auch Katip Čelebi vergleicht die eigene Tradition mit derjenigen der Franken. Solcher Blick auf das Osmanische Reich – und somit auf eine der wichtigsten Traditionslinien innerhalb des sunnitischen Islam – hat wesentlich mit dazu beigetragen, dass der Mythos von einem Aussterben der Philosophie im Bereich des sunnitischen Islam sich so erfolgreich etablieren konnte.

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