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4. Iran
ОглавлениеAbschließend ist an dieser Stelle ein Blick auf die Situation im schiitischen Iran der Safawidenzeit zu werfen. Die Existenz einer prominenten philosophischen Tradition dort ist wohlbekannt. Für diese späte Nachblüte – im Gegensatz zur Lage im sunnitischen Islam – werden meist zwei Erklärungsmodelle herangezogen: Entweder wird auf die Abwesenheit der philosophiefeindlichen sunnitischen Gesinnung verwiesen, oder Iran wird als Stätte einer die Zeiten überdauernden philosophia perennis portraitiert.45 Bei näherem Hinsehen präsentiert sich die Situation jedoch deutlich komplexer. In der frühen Safawidenzeit ist Iran keineswegs selbstverständlich ein schiitisch geprägtes Land, vielmehr bildet sich der vehemente Gegensatz des zunehmend schiitisierten safawidischen Iran zum sunnitischen Osmanenreich erst im Laufe der Zeit heraus. In der Frühzeit tritt insbesondere die Stadt Šīrāz in den Vordergrund. Hierfür scheint das Wirken des aš-Šarīf al-Ǧurǧānī (gestorben 1413), eines sunnitischen Theologen alidischer Abstammung, eine große Rolle gespielt zu haben.46 Gegen Ende des 15. Jahrhundert und in den folgenden Jahrzehnten sind in Šīrāz viele Autoren aktiv, die wir als seine Schüler identifizieren können. Zu nennen ist hier etwa Ǧalāl ad-Dīn ad-Dawānī (gestorben 1502), Ṣadr ad-Dīn ad-Daštakī (gestorben 1498) und sein Sohn Ġiyāṯ ad-Dīn (gestorben 1542), Mīr Ḥusayn al-Maybudī (gestorben 1504) oder Šams ad-Dīn al-Ḫafrī (gestorben 1535).47 Arabisch ist auch zu dieser Zeit noch die primär verwendete Sprache der Philosophie.
Diese Persönlichkeiten sind wir gewohnt als Philosophen anzusprechen, und sie positionieren sich zumeist auch als solche. Viele der Fragen, die sie behandeln und diskutieren, sind aber im Bereich philosophisch-theologischer Grenzfragen angesiedelt (Gottesbeweise, Leib-Seele-Problematik), oft handelt es sich um stark spezialisierte Monographien. Die Illuminationsphilosophie gewinnt an Bedeutung, und auch mystisch geprägte ontologische Spekulationen prägen das Geistesleben der Zeit.
Im Werk des Mullā Ṣadrā aš-Šīrāzī (gestorben 1640) kulminieren diese Strömungen. Sein Hauptwerk heißt mit vollem Namen al-Asfār al-ʿaqlīya al-arbaʿafī l-ḥikma al-mutaʿāliya (Die vier Reisen des Intellekts, über/in der hocherhobenen Weisheit/Philosophie). Dieses Werk greift wieder auf die Strukturen des al-Mulaḫḫas fī l-ḥikma und al-Mabāḥiṯ al-mašrīqya zurück – einige Sektionen, zum Beispiel diejenige über Essenz und Existenz, sind jedoch deutlich differenzierter ausgestaltet. Dies wird kombiniert mit einem Schema, das der Philosophie des Ibn al-ʿArabī entnommen ist: Die vier Reisen (arab. safar heißt „Reise“ aber auch „Buch“) sind wie folgt überschrieben: 1. Von der Schöpfung (ḫalq) zu Gott ḥaqq); 2. In Gott; 3. Von Gott zur Schöpfung; 4. In der Schöpfung. Neben Ibn al-ʿArabī ist die Auseinandersetzung mit as-Suhrawardī und mit anderen Philosophen ein wichtiger Bezugspunkt für Mullā Ṣadrā.48 Zu seiner Zeit werden Ibn al-ʿArabī und as-Suhrawardī als Vertreter zweier einander diametral entgegengesetzter ontologischer Grundpositionen wahrgenommen: Mit Ibn al-ʿArabī verbindet man in dieser Zeit den Begriff aṣālat al-wuǧūd („Priorität, Ursprünglichkeit der Existenz“), mit as-Suhrawardī aṣālat al-māhīya („Priorität, Ursprünglichkeit der Essenz“). Mit Mullā Ṣadrā als Hauptvertreter der „Schule von Isfahan“ gelangen wir in eine Zeit, in der die philosophische Tradition im Iran – auch forschungsgeschichtlich – eine sehr weitgehend eigenständige Identität erreicht hat, die sich von „mittelalterlicher“ arabisch-islamischer Philosophie klar absetzen kann.