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3.1 Der Aristotelismus von Baġdād: Abū Bišr Mattā und Yaḥyā b. ʿAdī

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Nach al-Fārābīs Bericht, der am Beginn des Übersetzungskapitels zitiert wurde, begannen die aristotelischen Studien in Baġdād als vier christliche, in aristotelischen Schulen ausgebildete Syrer aus ihren traditionellen Bildungszentren nach Baġdād kamen:13 Ibrāhīm al-Marwazī14 und Yūḥannā b. Ḥaylān aus Marw im heutigen Turkmenistan sowie der Bischof Isrāʾīl und Abū Isḥāq ibrāhīm al-Quwayrī15 aus Ḥarrān in der Südosttürkei. Diese Angaben eines direkten Schülers von Yūḥannā weisen vermutlich darauf hin, dass bereits die ersten Baġdāder Aristoteliker aus beiden christlich-syrischen Kirchen, den ostsyrischen Nestorianern und den westsyrischen jakobiten, stammten.16 Sie bildeten die zweite, besser bekannte Generation der Baġdāder Aristoteliker aus: Al-Marwazī und al-Quwayrī waren die Lehrer von Abū Bišr Mattā b. Yūnus,17 und Yūḥannā unterrichtete al-Fārābī. Das Besondere ihres Unterrichts bestand darin, dass die Baġdāder Autoren nicht nur, wie es in den syrischen Kirchen üblich war, einen Grundkurs der aristotelischen Logik gaben, der bis zum siebten Kapitel des ersten Buchs der Analytica priora reichte; vielmehr unterrichteten sie ein umfangreiches Organon, das zusätzlich zu den sechs Schriften des alexandrinischen Logik-Kurses – Porphyrios’ Eisagoge sowie Aristoteles’ Kategorien, Hermeneutik, Analytica priora und Analytica posteriora sowie Topik – auch die aristotelische Rhetorik und Poetik umfasste.18

Komplett auf Arabisch vorgelegt wurden diese Schriften wohl erst durch Abū Bišr Mattā, der nach 934 nach Baġdād kam und dort bereits 940 starb. Davor scheint er seine Ausbildung in dem bedeutenden nestorianischen Bildungszentrum des Klosters Qennešreh erhalten zu haben. Sein Werk, das bereits im Kapitel über Übersetzungen kurz vorgestellt wurde, bestand vorwiegend in der Erarbeitung kompletter Texte der wichtigsten aristotelischen Werke auf Arabisch, die er entweder neu übersetzte oder aufgrund der vorliegenden syrischen Versionen korrigierte.19 Insbesondere ist sein Name mit den Analytica posteriora verknüpft, die er wohl erstmals ganz übersetzte. Ferner wird man in ihm und seinen Lehrern die Begründer der genauen philologischen und philosophischen Detailanalyse verschiedener aristotelischer Traktate sehen dürfen, von denen die erhaltenen Handschriften des Organon und der Physik zeugen.20

Die Analytica posteriora, die als „Buch vom Beweis“ (Kitāb al-burhān) bezeichnet wurden, waren für das Selbstverständnis und die Wirkung der Baġdāder Aristoteliker, wie schon angedeutet, von besonderer Bedeutung: Durch das Studium dieses Buches entdeckten sie Aristoteles’ Idee neu, die gesamte Philosophie als ein System deduktiv ableitbarer Beweise zu entwickeln. Damit erhielt die Philosophie zusätzlich zu der grundsätzlichen Idee, Probleme rational zu lösen, auch noch die aristotelische Apodeiktik als methodisches Grundgerüst, das von nun an als besonderes Kennzeichen der falsafa gelten sollte: Die Kunst des syllogistischen Schließens stand im Mittelpunkt der methodischen Interessen Avicennas, es wurde von al-Ġazālī kritisiert und von Averroes als methodisches Prinzip hochgehalten und durchzuführen gesucht.21

Dieser rationale Anspruch musste freilich schon im 10. Jahrhundert gegen Kritik verteidigt werden: Abū Bišr Mattā musste sich 937/38 vor einem Publikum führender muslimischer Würdentrāger einer Diskussion mit dem arabischen Philologen Abū Saʿīd as-Sīrāfī (892/902–979)22 stellen.23 As-Sīrāfī widersetzt sich entschieden dem Anspruch, ausschließlich die Logik könne als Instrument dazu dienen, die Wahrheit und Falschheit von Aussagen zu unterscheiden. Seine Argumente sind teilweise ziemlich fragwürdig: Die aristotelische Logik sei eine griechische Technik und daher für das Arabische ungeeignet, im Übrigen sei Mattā kein geeigneter Vermittler, da er weder Griechisch noch hinreichend Arabisch beherrsche. In anderen Punkten – so soll er Mattā dazu gebracht haben, den unsinnigen Satz „Zayd ist der beste seiner Brüder“ als richtig anzuerkennen, ohne den Unterschied zu „Zayd ist der beste der Brüder“ erklären zu können – hat man eine Vorwegnahme moderner Kritiken an einer aristotelischen Logik sehen wollen, denen zufolge diese den relationalen Charakter von Aussagen vernachlässige.24 Derlei Feinheiten lässt allerdings der sehr tendenziöse Bericht, in dem Mattā kaum zu Wort kommt, nicht erkennen.

In jedem Fall wirft die Debatte ein Licht auf die geistige Situation im Baġdād des 10. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt hatte die arabische Philologie ein hohes Niveau erreicht und, nicht zuletzt wegen der großen Bedeutung des koranischen Wortlauts im Islam, einen eigenen Wahrheitsanspruch entwickelt, der dem Anspruch der griechischaristotelischen Logik auf universale Geltung selbstbewusst entgegengestellt wurde. Dieser Entwicklung entsprach in der Theologie die zunehmende Durchsetzung der rationalitätsskeptischen Ašʿariten gegenüber den Muʿtaziliten. Damit war die Möglichkeit einer selbstverständlichen Koexistenz zwischen einheimisch-arabischen Wissenschaften und Importen aus dem Griechischen bereits nicht mehr gegeben, als die Philosophie begann, ihr methodisches Potential zu entfalten.

Diesen Herausforderungen stellte sich ausdrücklich der wohl bedeutendste christliche Repräsentant der Baġdāder Aristoteliker, Yaḥyā b. ʿAdī (893–974), über dessen vielfältiges Werk uns nicht zuletzt sein Freund und Buchhändler-Kollege, Ibn an-Nadīm, Verfasser des Fihrist, informiert.25 Yaḥyā b. ʿAdī tat sich ebenfalls als Übersetzer wichtiger aristotelischer Werke hervor,26 doch entwickelte er auch eigenständigere philosophische Aktivitäten. Diese begannen bei Kommentaren, zum Beispiel zum Buch Alpha Elatton, dem ersten Buch der aristotelischen Metaphysik in ihrer arabischen Fassung. In einem Kompendium der Ethik entwickelte er das Ideal einer philosophischen Lebensform. Darüber hinaus āußerte sich Yaḥyā auch zu zahlreichen systematischen Einzelfragen, zum Beispiel zum Ursprung von Kontingenz. Mit seinen logischen Kenntnissen verteidigte er sowohl seinen jakobitischen Glauben gegen andere christliche Überzeugungen als auch den christlichen Trinitätsglauben gegen muslimische Zweifel.27

Nicht zuletzt bemühte er sich, in einem eigenen Traktat das Verhältnis von Logik und Grammatik, das seinem Lehrer die oben erwähnte Niederlage eintrug, aus logischer Perspektive neu zu formulieren. Hierzu unterscheidet er deutlich zwischen dem Objekt der Grammatik, dem sprachlichen Zeichen (lafẓ), und dem der Logik, dem gemeinten Inhalt (maʿ). Dabei leugnet er nicht den faktischen Zusammenhang, der sich für beide Wissenschaften daraus ergibt, dass Form und Inhalt nie vollständig zu trennen sind; die Rechtfertigung des philosophischen Zugangs wird aber dadurch gesichert, dass die Referenzobjekte der Worte als Universalien beziehungsweise Allgemeinbegriffe (al-umūr al-kullīya) verstanden werden, so dass er recht starke ontologische Vorannahmen zugesteht.28 Auf diese Weise trug Yaḥyā nicht nur zur Eingliederung der arabischen Philologie in den Kanon aristotelischer Wissenschaften bei, sondern auch dazu, dass sich im arabischen Raum ein differenziertes Verständnis der wissenschaftlichen Behandlung von Sprache herausbildete.

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