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1. Die Herausbildung der Illuminationsphilosophie

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Im Laufe des 12. Jahrhunderts treten aber auch Philosophen auf, die sich bewusst von Avicenna, oder besser: von der zeitgenössischen Interpretation seiner Werke, distanzieren. Einflussreich war hier der jüdischstämmige Philosoph Abū l-Barakāt al-Baġdādī (gestorben 1165), Verfasser des K. al-muʿtabar (Buch dessen, was eigenständig in Augenschein genommen wurde). Im Denken des Abū l-Barakāt al-Baġdādī ist bisher der Kontext von Selbsterkenntnis/Selbstbewusstsein sowie seine Bewegungslehre (Impetustheorie) ausführlicher dargestellt worden.19 Abū l-Barakāt nimmt einige Kritikpunkte an Avicenna vorweg, die später von der Illuminationsphilosophie as-Suhrawardīs ausgebaut werden. Die Illuminationsphilosophie as-Suhrawardīs (gestorben 1191) etabliert sich in den folgenden Jahrhunderten als wichtigste philosophische Konkurrenz und Alternative zur avicennischen Philosophie, die dann in diesem Kontext oft mit peripatetischer (maššāʾī) Philosophie gleichgesetzt wird. As-Suhrawardīs wichtigste Werke sind in einer sehr kurzen Zeitspanne von weniger als einem Jahrzehnt entstanden: 1183 konnte er sich – wie sein Name uns ja bereits verrät ursprünglich aus Iran kommend – in Aleppo prominent im Umfeld des lokalen Herrschers etablieren. Bereits 1191 wurde er auf Befehl des Sultans Saladin hingerichtet und erhielt so einen weiteren Beinamen, „der Getötete“ (al-maqtūl), unter dem er bekannt ist.20

Im Werk des as-Suhrawardī lassen sich drei Hauptgruppen ausmachen. Eine Reihe von zum Teil auf Persisch verfassten Schriften befasst sich mit spezifischen Problemen, teilweise solchen, die die Grundlagen der Illuminationsphilosophie betreffen.21 Hinzu treten kürzere allegorische Texte, die für die spätere Rezeption trotz ihrer Kürze sehr wichtig wurden.22 In unserem Kontext sind aber vier monumentale systematische philosophische Abhandlungen as-Suhrawardīs relevant, die dieser auch als eine Gruppe eigenständiger, teils einander ergänzender Werke hervorgehoben hat. Diese Schriften heißen at-Talwīḥāt (Andeutungen), al-Muqāwamāt (Gegenreden), al-Mašarīʿ wa-l-muṭāraḥāt (Pfade und Diskussionen) sowie Ḥikmat al-išrāq (Philosophie der Erleuchtung). Die drei ersten dieser vier Werke sind stärker auch auf „peripatetische“ Fragestellungen hin orientiert – das heißt sie folgen in vielen Abschnitten deutlich erkennbar prominenten Themen des Systems des Avicenna, hinterfragen dieses aber aus der Perspektive der Illuminationsphilosophie. Alle vier Gesamtschauen nehmen durch Querverweise aufeinander Bezug, und Die Philosophie der Erleuchtung steht also im Werke des as-Suhrawardī keinesfalls einer „peri-patetischen“ Schaffensphase gegenüber, vielmehr sind die Übergänge fließend.23

Die Beziehung zwischen as-Suhrawardī und dem, was er und dann später die Anhänger seiner Lehre als „peripatetisch“ wahrnehmen, ist also sehr komplex: Die Werke des as-Suhrawardī lassen deutlich erkennen, wie sorgfältig und intensiv er sich mit den Schriften Avicennas auseinandergesetzt hat und sie auf ihre philosophische Konsistenz hinterfragt hat. Einen ganz anderen Charakter haben seine allegorischen Werke, in denen der mystisch inspirierte Anteil seines Denkens sich sehr viel stärker in den Vordergrund drängt.

Im Zentrum der Philosophie der Erleuchtung steht – eigentlich wenig überraschend – das Licht. Trotz der mystischen Assoziationen, die die Illuminationsphilosophie as-Suhrawardīs weckt, beginnt das Werk Ḥikmat al-išrāq jedoch mit einem Teil über Logik. Dort zählt as-Suhrawardī gegen Ende als Beispiele für Fehlschlüsse verschiedene grundlegende Irrtümer der Peripatetiker auf. Dies bietet also eine gute Übersicht über wichtige Grundlagen der Illuminationsphilosophie. As-Suhrawardī kritisiert zunächst die aristotelische Definition von Akzidenz, dann behandelt er die Natur mentaler Konstrukte (iʿtibārāt ḏihnīya; besonders bekannt ist as-Suhrawardīs Lehre, Existenz sei ein „mentales Konstrukt“). Er kritisiert die aristotelische Lehre von der Definition (die die Kenntnis der spezifischen Differenz von Substanzen voraussetzt) sowie ganz allgemein und grundlegend den Hylomorphismus, das heißt die Vorstellung, dass Materie und Form zusammen unsere materielle Welt konstituieren.24 Licht spielt in as-Suhrawardīs Lehre einerseits eine Rolle, insofern es Grundlage für Evidenz ist – die Theorie des Sehens interessiert as-Suhrawardī daher sowohl unter physischen als auch physiologischen und psychologischen Gesichtspunkten. Zum anderen nimmt Licht aber in vielen Kontexten eine Rolle analog zu der von Existenz im System des Avicenna ein.25 So schreibt der Beginn des eigentlich „metaphysischen“ Teils der Ḥikmat al-išrāq dem Licht Selbstevidenz zu, teilweise mit denselben Worten, wie dies Avicenna für Existenz tut:

„Wenn etwas existiert, das weder einer Definition noch einer Erklärung bedarf, so ist es offenbar. Da nichts in höherem Grade offenbar ist als das Licht, so gibt es auch nichts, das weniger einer Definition bedürftig ist.“26

Der Unterscheidung von essentiell notwendigem und essentiell kontingentem (also nur akzidentell durch etwas anderes notwendigem) Existierenden bei Avicenna steht bei as-Suhrawardī eine Unterscheidung zwischen essentiellem und akzidentellem Licht gegenüber:

„Ein Ding ist entweder wesensmäßig Licht und Glanz, oder nicht […]. Das Licht unterteilt sich in solches, das ein Zustand von etwas anderem ist, nämlich das akzidentelle Licht, und solches, das kein Zustand von etwas anderem ist, nämlich das immaterielle oder reine Licht. Das was nicht wesensmäßig Licht ist, unterteilt sich in das, was keines Substrats bedarf, nämlich die finstere Substanz, und in das, was ein Zustand von etwas anderem ist, nämlich der dunkle Zustand.“27

Vor dem Hintergrund dieser Lichtmetaphysik ist auch as-Suhrawardīs sehr grundsätzliche Kritik am Hylomorphismus zu sehen. As-Suhrawardī ist stark an den Prozessen und Phänomenen im Bereich des Übergangs vom Immateriellen zum Materiellen interessiert, zum einen im Bereich der Epistemologie, zum anderen auch im Bereich der Kosmologie. Die zentrale Rolle, die er dabei dem Licht zuweist, macht ihn gerade für moderne Aktualisierungsversuche interessant.28 As-Suhrawardī identifiziert – anders als die traditionelle aristotelische Physik – anstelle von eigenschaftloser Materie reine Extensionalität als Grundvoraussetzung der uns bekannten materiellen Welt. Körper werden dabei als „Schranke“ (barzaḫ) identifiziert. Aus sich heraus sind diese Schranken dunkel und begrenzen das Strömen des Lichts.

Das Wirken des as-Suhrawardī führt dazu, dass das Verhältnis von philosophischer Tradition und islamischer Mystik auf eine neue Basis gestellt wird. Ein grundsätzliches Problem in der Bewertung ist hierbei, dass es bereits für die Spätantike höchst problematisch ist, klare Abgrenzungen insbesondere zwischen (Neu-)Piatonismus und Mystik vornehmen zu wollen. Im Bereich arabisch-islamischer Traditionen bildet sich teilweise im Kontext „islamischer Mystik“ eine auch institutionell verankerte Trennung heraus. Diese wird aber – teilweise unter Rückgriff auf schon vorliegende Muster der Spätantike, teilweise aber auch durch neue eigenständige Entwicklungen – in einem durchaus vergleichbaren Prozess wieder aufgelöst – auch im Kontext islamischer Mystik spielen neuplatonische Traditionen explizit oder implizit eine sehr wichtige Rolle.29

Interessant ist in diesem Kontext eine Traumbegegnung, die as-Suhrawardī in seinem K. at-talwīḥāt schildert: Aristoteles erscheint dem as-Suhrawardī und erläutert diesem die wichtigsten Züge seiner Epistemologie (will heißen: as-Suhrawardīs Konzept des Wissens durch unmittelbare Präsenz, ʿilm ḥuḍūrī). Zum Abschluss der Vision preist Aristoteles seinen Lehrer Piaton, und as-Suhrawardī fragt neugierig, welcher unter den Philosophen des Islam denn würdig sei, das Erbe Platons anzutreten. Keiner der „Philosophen“ (falāsifa) kann hier Aristoteles zufriedenstellen – wohl aber die islamischen Mystiker Abū Yazīd (Beyazid) al-Bisṭāmī und Sahl at-Tustarī.30

Die Schriften des as-Suhrawardī bilden den Ausgangspunkt für ein spezifisch stark illuminationistisch geprägtes Schrifttum. Zu nennen sind hier zunächst die beiden grundlegenden Kommentare zu Ḥikmat al-išrāq selbst, das heißt die Werke von aš- Šahrazūrī (gestorben 1288) und Quṭb ad-Dīn aš-Šīrāzī (gestorben 1311 oder 1316). Diese beiden Autoren haben auch ihrerseits enzyklopädische Darstellungen der Philosophie verfasst, nämlich aš-Šaǧara al-ilāhīya (Der göttliche/metaphysische Baum, aš-Šahrazūrī) und Durrat at-tāǧ (Die Perle der Krone, Quṭb ad-Dīn aš-Šīrāzī) – teilweise greifen sie hierin direkt auf die Illuminationsphilosophie zurück.31 Ibn Kammūna (gestorben 1285) verfasste einen wichtigen Kommentar zu as-Suhrawardīs at-Talwlḥāt, aber auch zu Avicennas K. al-išārāt wa-t-tanbīhāt.32

Neben einer sich auf as-Suhrawardī zurückleitenden Tradition tritt eine weitere Linie gewissenmaßen in Konkurrenz hierzu, nämlich die Rezeption der Schriften des Ibn al-ʿArabī (gestorben 1240). Ibn al-ʿArabī hat ein sehr umfangreiches aber schwer zu deutendes Schrifttum hinterlassen.33 Anders als im Falle as-Suhrawardīs orientiert sich dieses kaum an diskursiven Darstellungsweisen der Philosophie. Seine Kosmologie, die die Welt als Manifestation von göttlichen Attributen und Manifestationen beschreibt, greift dabei im Einzelnen auf Versatzstücke der zeitgenössischen philosophischen Tradition zurück, zum Beispiel im Bereich der Sprachphilosophie; auch die Grundlagen zeitgenössischer ontologischer Theorien sind ihm durchaus gut vertraut.34 Für die Rezeption im Kontext der philosophischen Tradition sind gar nicht so sehr die Schriften von Ibn al-ʿArabī selbst von Bedeutung, vielmehr versuchen schon sehr früh seine Schüler und Anhänger die Lehre des Ibn al-ʿArabī zu systematisieren. Sein Schüler ṣadr ad-Dīn al-Qunyawī tritt in eine Korrespondenz mit dem Philosophen-Astronomen-Theologen Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī ein, und in dieser Korrespondenz werden verschiedene Grundlagenprobleme abgeklärt.35 Schon al-Qunyawī versucht, die mystische Ontologie des Ibn al-ʿArabī systematisch und als geordnete Wissenschaft darzustellen.

Spätere Autoren, zum Beispiel der im Gebiet des Osmanischen Reichs tätige Dāwūd al-Qayṣarī (gestorben 1350), setzen dies fort. Dāwūd al-Qayṣarī verfasste einen Kommentar zu Ibn al-ʿArabīs Schrift Fuṣūṣ al-ḥkam (Ringsteine der Weisheit, eine mystische Schrift, deren Kapitel sich um verschiedene Propheten gruppieren).36 Zu diesem Kommentar verfasste Dāwūd al-Qayṣarī eine Einleitung mit Prolegomena (muqaddamāt), die sich auch ganz unabhängig von der restlichen Kommentarschrift sehr weiter Verbreitung erfreute. Diese Einleitung enthält eine systematische Skizze eines auf Ibn al-ʿArabī zurückgeführten Systems und ist hierin anderen Schriften der späteren Avicenna-Rezeption sehr ähnlich, die theologische und philosophische Traditionen vermischen. Die Prolegomena, in denen Ibn al-ʿArabīs mystische Ontologie breiten Raum einnimmt, enthalten folgende 12 Abschnitte: (1) Existenz; (2) Göttliche Namen und Attribute; (3) Archetypen (al-aʿyān aṯ-ṯābita) und Manifestationen; (4) Substanz und Akzidenz; (5) Die universellen Welten; (6) Die Welt der Abbilder; (7) Die verschiedenen Arten von Enthüllung/Offenbarung; (8) Der Kosmos als Abbild des menschlichen Wesenskerns; (9) Die Nachfolge Muḥammads; (10) Der höchste Geist und seine Manifestationen in der Welt des Menschen; (ll) Die Rückkehr des Geistes (zu Gott); (12) Prophetie.37

Solche weitgehend dem Gebiet der islamischen Mystik (taṣawwuf) nahestehenden Ansätze habe ich hier so ausführlich behandelt, weil insbesondere die Ontologie dieser beiden Autoren (aber auch ihre Epistemologie) auf der Rezeption philosophischer (konkret: avicennischer) Systeme aufbaut. Außerdem wirken sie im Verlauf späterer Jahrhunderte stark auf die Interpretation avicennischen Schrifttums zurück. Dieses Zusammenwachsen der Tradition lässt sich einerseits an seinem späten Höhepunkt, dem Werk al-Asfār al-arbaʿa (Die vier Reisen, hierzu siehe unten) des Mullā Ṣadrā aš-Šīrāzī (gestorben 1640) festmachen, zum anderen aber auch anhand vieler weniger umfassend angelegter Syntheseentwürfe früherer Autoren.

Das Miteinanderverwachsen dieser Traditionen erfolgt oft im Kontext von Kommentierungstraditionen. Im Bereich des philosophischen Schrifttums sind hier vor allem zu nennen: Avicennas al-Išārāt wa-t-tanbīhāt (Hinweise und Vermerke), Aṯīr ad-Dīn al-Abharīs Hidāyat al-ḥikma (Rechtleitung in der Philosophie) sowie Naǧm ad-Dīn al-Kātibī al-Qazwīnīs Ḥikmat al-ʿayn (d.h.: Philosophiesektion, dem Kernstück (ʿayn) zugehörig; dieser Titel leitet sich daraus her, dass al-Kātibī zunächst einen Logiktraktat verfasste ʿUyūn al-qawāʿid „Kernstücke der [logischen] Grundregeln“. Diesen Traktat ergänzte er später durch eine Sektion zu den anderen Gebieten der Philosophie). Zu diesen Werken entwickelte sich eine Kommentierungs- und Glossierungstradition, die zeigt, dass die Interpretation dieser Schriften zunehmend durch die Integration von Elementen aus der Illuminationsphilosophie angereichert wurde. Im Einzelnen sind diese Prozesse noch nicht detailliert untersucht.38

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