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3.2 Aristotelismus und politische Metaphysik: Abū Naṣr al-Fārābī
ОглавлениеEntscheidend hierfür war jedoch das Werk eines Muslims, nämlich des bereits erwähnten Abū Naṣr Muḥammad al-Fārābī (870–950), in dem die arabischen Quellen den „zweiten Lehrer“ der Philosophie nach Aristoteles erblickten.29 Al-Fārābī scheint in jungen Jahren aus Ḫurāsān nach Baġdād gekommen zu sein. Er könnte seinen ersten aristotelischen Unterricht bei Yūḥannā b. Ḥaylān noch in Marw erhalten haben. In jedem Fall umfasste dieser Unterricht auf al-Fārābīs persönlichen Wunsch auch die Analytica posteriora, so dass er das wissenschaftstheoretische Grundanliegen seiner Lehrer geteilt, wenn nicht von Anfang an gefördert haben dürfte. 942 verließ al-Fārābī Baġdād und ließ sich in Aleppo nieder, wo er 950 starb. Anders als seine Baġdāder Kollegen verfasste er keine Übersetzungen, sondern widmete sich ganz der philosophischen Erschließung von Aristoteles’ Werk sowie der Begründung eines Ansatzes, der die Fragestellungen der antiken, aristotelischen Philosophie neu durchdachte und ihnen in der arabisch-islamischen Kultur eine angemessene Stellung sichern sollte.
Das Verhältnis von Logik und Grammatik diskutierte er in seinem berühmten Katalog der Wissenschaften (iḥṣāʾ al-ʿulūm). Hier stellt al-Fārābī die Grammatik vor der Logik dar, und erst dann die übrigen Wissenschaften des aristotelischen Kanons. Diese wissenschaftstheoretische Einteilung vertieft er durch Überlegungen zum Seinsbegriff im Buch der Buchstaben (Kitāb al-ḥurūf) und nicht zuletzt durch eine Schrift über Die Ziele des Buches der Metaphysik. Ebenso wie al-Kindī verfasste er auch ein Werk Über den Geist, in dem er vier Stufen des Intellekts unterschied. Interessanterweise ist er aber von Aristoteles’ Modell weiter entfernt als al-Kindī: Durch das Erkennen der geistigen Formen wird der Geist in Möglichkeit zum Geist im Akt. Wenn er sich so selbst erkennt, wird er zum erworbenen Geist, der sich dem transzendenten aktiven Geist annähert. Auf diese Geistmetaphysik griff al-Fārābī zurück, als er seine Version der Idee eines philosophischen Glücks- und Lebensideals entwickelte. In seinem Hauptwerk Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt entwickelt er zunächst eine Kosmologie, in der sich die gesamte Wirklichkeit über zehn Stufen des Geistes zum aktiven Geist und dann zur wahrnehmbaren Welt entfaltet. Dann schildert er, wie der optimale Staat aussieht, wer dessen Einwohner sind und wie insbesondere Regierende Einsicht in diese Zusammenhänge besitzen. In weiteren politischen Schriften diskutiert er das Verhältnis des Philosophen zu einer unvollkommenen Gesellschaft.
Auf der Grundlage des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs wurde so eine in sich schlüssige Weltdeutung vorgelegt, die als Leitideal für gesellschaftliche Entwicklungen dienen konnte. Der damit erhobene Anspruch, die gesamte Wirklichkeit auf rein rationale Weise zu erklären und auch das gesellschaftliche Zusammenleben auf diese Idee zu gründen, war allerdings geeignet, um auf gläubige Muslime fragwürdig zu wirken. Verstärkt wurde dieses Problem durch einige weitere Ansichten, die al-Fārābī vertrat und an nachfolgende Denker weitergab, die aber nur schwer mit dem Islam vereinbar waren: die aristotelische Lehre von der Ewigkeit der Welt, die Beschränkung von Gottes Erkenntnis, die geistig sein muss, auf allgemeine Begriffe sowie die Unsterblichkeit der denkenden menschlichen Seele ohne Berücksichtigung des Körpers. In dem Höhepunkt, zu dem al-Fārābī die Philosophie geführt hatte, trat damit zugleich weiteres Konfliktpotential zutage.
Die Leistung der Schule von Baġdād, die Wiedererschließung der aristotelischen Texte und des apodeiktischen Wissenschaftsbegriffs der Analytica posteriora, übte trotzdem große Wirkung aus: Sie beeinflusste nicht nur das arabische Denken, sondern, infolge der Übersetzungen von al-Fārābī im 12. und 13. Jahrhundert, auch die lateinische Welt. Hier trug sie dazu bei, dass eine methodisch vorgehende, rational argumentierende Wissenschaft sich an den Universitäten Westeuropas als eigenständiges gesellschaftliches Subsystem etablieren und damit letztlich die gesamte Gesellschaft prägen konnte. Insofern gehören die Baġdāder Aristoteliker zum gemeinsamen Fundament der arabisch-islamischen und der westeuropäischen Zivilisation.