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5.2 Der Ḥayy b. Yaqẓān des Ibn Ṭufayl
ОглавлениеDieses Thema wurde in veränderter Form fortgeführt durch eine der originellsten Schriften des Mittelalters, die Erzählung Ḥayy b. Yaqẓān des Ibn Ṭufayl. Er ist das erste Zeugnis einer politischen Veränderung, die in der Folgezeit auch das Werk von Ibn Ṭufayls Protégé Averroes ermöglichte: Zwischen 1147 und 1150 setzte sich die marokkanische religiöse Bewegung der Almohaden in Spanien fest und dehnte ihre Macht in den folgenden Jahrzehnten über fast das ganze al-Andalus aus. Schon der volle Name der Bewegung, al-muwaḥḥidūn, „die Bekenner der Einheit“, verweist auf den tawḥīd, die Einheit Gottes, als zentrales Motiv der almohadischen Lehre, das sie mit Hilfe rationaler Einsicht den Gläubigen vermitteln wollten. Obwohl die Almohaden religiös intolerant waren – sie stellten die spanischen Juden, unter ihnen Moses Maimonides, vor die Wahl zwischen Zwangsbekehrung oder Auswanderung44 –, waren sie im Gegensatz zu den ašʿaritischen Theologen davon überzeugt, dass die islamische Lehre rational nachvollziehbar war. Folglich standen sie der Philosophie positiver gegenüber als andere Herrscherdynastien und förderten die Beschäftigung mit ihr in al-Andalus. Namentlich der Kalif Abū Yaʿqūb Yūsuf (regierte 1163–1184), bereits seit 1160 Gouverneur von Sevilla, war an philosophischen Fragen interessiert. Hiervon profitierte Ibn Ṭufayl, der zu Beginn des 12. Jahrhunderts unweit von Granada geboren worden war. Seit etwa 1160 lebte er als Arzt und Höfling an Abū Yaʿqūbs Hof und stand hoch in seiner Gunst.45 Ein Jahr nach dem Kalifen starb er 1185.
Abū Yaʿqūb ist vermutlich der Adressat des Ḥayy b. Yaqẓān, der zwischen 1169 und 1184 entstand. Das Werk schildert das Leben des gleichnamigen Protagonisten, der alleine auf einer Insel aufwächst und von einer Gazelle ernährt wird, die er als Mutter verehrt. Ob diese einsame Situation auf einer spontanen Entstehung beruht oder ob Ḥayy von einer Prinzessin auf der Insel zurückgelassen wurde, bleibt dabei offen.
In jedem Fall lernt Ḥayy in seinem einsamen Leben durch Anwendung von Sinnen und Vernunft nach und nach die verschiedenen Bereiche der Philosophie, bis er schließlich in die Lage versetzt wird, aus seinem Körper herauszutreten. Dadurch kann er sich nicht nur mit dem aktiven Intellekt vereinigen, wie es bereits Ibn Bāǧǧa geschildert hatte, sondern erlebt auch eine mystische Union mit dem Höchsten. Als er diese äußerste Stufe erreicht hat, lernt er einen weiteren Menschen namens Asāl kennen, der ihn mit der menschlichen Gemeinschaft auf der Nachbarinsel bekannt macht. Hier stellt Ḥayy fest, dass deren Religion, die den Islam symbolisiert, inhaltlich mit seinen rational gewonnenen Erfahrungen übereinstimmt. Da es sich jedoch als unmöglich erweist, die philosophische Begründung den Gläubigen zu vermitteln, verlässt er diese wieder und zieht sich mit Asāl auf seine eigene Insel zurück.
Es handelt sich um ein außergewöhnlich vielschichtiges und beziehungsreiches Werk:46 Der Titel und Name des Protagonisten, „Lebendiger, Sohn des Wachenden“, ist von der oben erwähnten kleinen Schrift Avicennas entlehnt. Anders als dieser behandelt Ibn Ṭufayl aber nicht die Emanation des Höchsten, sondern die Rückkehr des Menschen zu diesem. Dabei ist er um die Rechtfertigung einer friedlichen Koexistenz von Philosophie und islamischer Religion bemüht, weswegen er auf den alten Topos zurückgreift, dass die philosophische Erkenntnis nicht vom gemeinen Volk eingesehen zu werden braucht. Im Übrigen kann Ḥayys Bildungsweg als Plädoyer für die Natürlichkeit und Allgemeingültigkeit der Erkenntnisse der falāsifa interpretiert werden. Dieses Bildungsideal und die attraktive literarische Form haben dafür gesorgt, dass die Schrift bereits 1671 ins Englische übersetzt wurde und im 18. Jahrhundert in Westeuropa wohlbekannt war, wo sie vielleicht sogar Daniel Defoe mit Anregungen für seinen Robinson Crusoe versorgte.