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4. Avicenna: aristotelische Philosophie neu durchdacht

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Gleichzeitig mit diesen Entwicklungen in Baġdād entstand im Osten der arabischen Welt, im Iran und seinen damaligen Randgebieten, der berühmteste und einflussreichste philosophische Entwurf im Islam: die Philosophie des Abū ʿAlī al-Ḥusayn b. ʿAbd Allāh b. al-Ḥasan b. ʿAlī Ibn Sīnā (980–1037), in Europa meist bekannt als Avicenna. Geboren in Buchara im heutigen Usbekistan, wurde er gezwungen, vor der Expansionsbewegung turkstämmiger Herrscher nach Westen auszuweichen. Im heutigen Iran fand er an den Höfen verschiedener Fürsten in Rayy, Hamadan und Iṣfahān eine, freilich immer unruhige, Zuflucht. Die dortigen Herrscher, die ebenfalls dem Haus der Būyiden angehörten, beschäftigten ihn als Wesir, als Arzt und als Höfling, was ihm nur wenig Zeit für seine Forschungen ließ. Zudem brachte ihn die Parteinahme in ihren gegenseitigen Fehden zeitweise ins Gefängnis. Erst am Hofe des toleranten Fürsten ʿAlāʾ ad-Dawla in Iṣfahān, wo er von 1023 bis zu seinem Tode lebte, hatte er relativ viel Freiraum für philosophische Aktivitäten.35

Avicenna brachte sich die Philosophie und die Medizin, die beiden Wissenschaften, mit denen sein Name in erster Linie verbunden ist, weitgehend autodidaktisch bei; seine Lehrer überflügelte er bereits als Jugendlicher. Diese Tatsache trug zu seiner eigenständigen Auseinandersetzung mit der Philosophie bei. Diese war prinzipiell aristotelisch geprägt und von al-Fārābī beeinflusst, der, soweit wir wissen, in der philosophischen Landschaft des damaligen Baġdād nicht allzu stark rezipiert wurde: Avicenna berichtet selbst, wie er erst mit Hilfe von al-Fārābīs Die Ziele des Buches der Metaphysik einen Ansatzpunkt gewann, von dem aus er dieses aristotelische Werk begreifen konnte. Sein Einfluss lässt sich auch an manch anderer Stelle greifen, zum Beispiel an der Vorstellung, die Welt entwickle sich durch die Emanation von zehn Intellektstufen aus der ersten Ursache. Man kann durchaus vermuten, dass al-Fārābīs umfassende philosophische Synthese Avicenna wesentliche Anregungen für die methodische Strenge philosophischen Arbeitens und die Weite der zu erforschenden Gebiete vermittelt hat, auch wenn Avicenna inhaltlich häufig andere Wege ging als sein Vorgänger. Ebenso wie dieser, und anders als seine Baġdāder Zeitgenossen, bemühte er sich jedenfalls, Aristoteles’ gesamte (theoretische) Philosophie, von der Logik über die Naturphilosophie zur Metaphysik, systematisch neu zu durchdenken und zu einem kohärenten Gedankengebäude zu entwickeln.

Die beständige Weiterentwicklung seiner Gedanken wird durch die Vielzahl von Werken bezeugt, in denen Avicenna sich immer wieder aufs Neue mit den Kernthemen gerade der Intellektlehre, der Erkenntnistheorie und der Metaphysik beschäftigt.36 Eine Reihe kleinerer Frühschriften, von denen das Buch des Ausgangs und der Heimkehr (al-Mabdaʾ wa-l-maʿād; ca. 1012/13) hervorgehoben sei, bereiteten die umfassenden Darstellungen der späteren Philosophie vor: das Buch der Genesung (Kitāb aš-Šifāʾ; 1020–1027), das zu großen Teilen ins Lateinische übersetzt wurde, das kürzere Buch des Wissens für ʿAlāʾ ad-Dawla (Dānišnāme-yi ʿAlāʾ–ī; 1027), das erste größere philosophische Werk auf Persisch, sowie die Hinweise und Erinnerungen (al-Išārāt wa-t-tanbīhāt; 1030–1034), deren prägnante, schwer verständliche Formulierungen in der islamischen Welt besonders einflussreich waren. Zumindest die drei späteren Werke waren thematisch weitgespannte philosophische Summen, die im Prinzip alle Teilbereiche der Philosophie behandelten. Neben ihnen verfasste Avicenna noch einige kleinere Werke, wie etwa den Ḥayy b. Yaqẓān, dessen Titel (etwa: Der Lebendige, Sohn des Wachenden) später Ibn Ṭufayl aufgriff.

Die philosophische Entwicklung, die sich in diesen Werken vollzog, lässt sich am Beispiel der Metaphysik beispielhaft verdeutlichen: Schon im Buch des Ausgangs und der Heimkehr lieferte Avicenna eine eigene Darstellung der klassischen Inhalte der arabischen Metaphysik, das heißt der Bücher Alpha Elatton und Lambda. Der hier erhaltene Beweis einer ersten Ursache wurde in mancher Hinsicht verbessert und durch eine Emanationslehre ergänzt, die von al-Fārābī und dem kosmologischen Traktat des Alexander von Aphrodisias inspiriert war.37 Im Buch der Genesung werden diese Texte als Buch VIII und IX des metaphysischen Teils fast unverändert übernommen, jedoch in einen neuen Kontext gestellt, der nun auch den methodischen Ansatz der aristotelischen Metaphysik als universaler Wissenschaft vom gesamten Seienden einholt und tiefgreifend verändert. Hierzu greift Avicenna vor allem auf Buch Gamma von Aristoteles’ Metaphysik und dessen Lehre vom Seienden qua Seienden (arab. mawǧūd bi-mā huwa mawǧūd) zurück.38 Innerhalb des Seinsbegriffs unterscheidet Avicenna Existenz und Essenz sowie mögliches und wirkliches Sein, das wiederum entweder aus sich selbst heraus oder von etwas Anderem her notwendig ist. Mit diesen Konzepten liefert er die begriffliche Rahmung und systematische Grundlegung des älteren Gottesbeweises.39

Avicennas meisterhafte Metaphysik erweist sich somit als Ergebnis eines komplizierten und langwierigen Denk- und Schreibprozesses, der von Aristoteles aus-, zugleich aber auch über ihn hinausgeht. Dieser Prozess, der sich auch für andere Aspekte von Avicennas Denken, zum Beispiel die Intellektlehre, plausibel machen lässt,40 ist erst ansatzweise erforscht. Er zeigt aber, dass die Entwicklung seines Denkens selbst einen Teil der Geschichte der arabisch-islamischen Philosophie ausmacht, da er mit jedem Werk größere Selbständigkeit in Bezug auf das immer präsente aristotelische Erbe erhält. Gerade seine relativ späten Überlegungen zum Seinsbegriff übten in der Philosophiegeschichte großen Einfluss aus, nicht zuletzt in Europa, als sie in Johannes Duns Scotus einen Rezipienten fanden, der Avicennas Ideen ebenso kritisch weiterführte, wie dieser es mit Aristoteles’ Gedanken getan hatte, und damit wichtige Grundlagen für die neuzeitliche Metaphysik legte.

Seiner islamischen Umwelt lieferte Avicenna ein Konzept von Philosophie, das die Eigenständigkeit von deren Ansatz weniger eindeutig einfordert, als al-Fārābī es getan hatte – obwohl auch Avicenna für die Ewigkeit der Welt, die nur universale Erkenntnis Gottes und die Unsterblichkeit der Seele ohne den Körper argumentierte. Daher war es seinen Zeitgenossen und Nachfolgern möglich, viele seiner Gedanken auch in theologischen Kontexten zu rezipieren, nachdem sie sich mit den aus religiöser Sicht kritischen Punkten auseinandergesetzt hatten. So konnte Avicenna das islamische Denken für Jahrhunderte prägen, nicht nur in der Metaphysik, sondern auch in anderen Bereichen wie der Logik.41

Islamische Philosophie im Mittelalter

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