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3. Die Avicenna-Rezeption
Das Phänomen der enzyklopädischen Darstellungen
ОглавлениеHeidrun Eichner (Tübingen)
Die arabisch-islamische philosophische Tradition ist vor allem in den Bereichen (verhältnismäßig) gut erforscht, in denen sie für die europäische Rezeption eine große Rolle spielte. Diese Perspektive führt zu durchaus erheblichen Verzerrungen und blinden Flecken, und erst im Laufe des letzten Jahrzehnts ist es verstärkt ins Bewusstsein einer breiteren akademischen Öffentlichkeit gelangt, dass eine solche stark eurozentrische Sicht höchst problematisch ist. Die fragliche frühere Periode wird in unbestimmter Weise bisweilen als „klassisch“ bezeichnet, und im vorliegenden Band wurde die Bezeichnung „mittelalterlich“ gewählt. So problematisch eine solche Periodisierung unter vielen Gesichtspunkten auch sein mag, lässt sie sich aus forschungsgeschichtlichen Motiven herleiten und vermittelt einem weiteren Leserkreis eine ungefähre intuitive Vorstellung davon, welche Texte und Autoren hierunter zu zählen sind.
Die Erweiterung eines solchen Autorenkanons ist eng verbunden mit neueren Forschungsparadigmen, die das intuitive, an der europäischen Rezeptionsgeschichte orientierte Vorverständnis, in Frage stellen. Einige Ausblicke in diese Richtung möchte ich auf den folgenden Seiten geben. Besonders betrifft eine solche Neuorientierung die spätere Phase, insbesondere nach dem Wirken des Avicenna – und deshalb wird diese neue Forschungsagenda oft mit dem Begriff der post-avicennischen Philosophie assoziiert. Diese neue Forschungsagenda wird programmatisch formuliert in D. Gutas’ Artikel The Golden Age of Arabic Philosophy.1
Ein zentrales Element in dieser neuen Betrachtungsweise ist eine Neubewertung des Ġazālī-Mythos, also der Ansicht, philosophische Aktivität sei in der späteren Zeit des sunnitischen Islam zum Erliegen gekommen, weitgehend bestimmt durch eine intrinsische Feindseligkeit des theologisch geprägten Geisteslebens im Islam gegenüber dem freien philosophischen Gedanken. Eben hierfür wird im Kontext des Ġazālī-Mythos Abū Ḥāmid al-Ġazālī (gestorben 1111) als Kronzeuge wie auch als Verursacher dingfest gemacht. Während also Darstellungen, die diese Sicht vertreten, von einem Ende oder zumindest einem schweren Bruch in der späteren philosophischen Tradition sprechen, tritt anstelle dessen in neuerer Forschungsliteratur mittlerweile das Paradigma eines „goldenen Zeitalters“ der post-avicennischen Philosophie.
Interessanterweise stellt allerdings bereits die älteste spezifisch der islamischen Philosophiegeschichte gewidmete Überblicksdarstellung aus der Feder T. J. de Boers Folgendes fest:
„Dass Gazali die Philosophie für alle Folgezeit vernichtet habe, ist eine oft wiederholte, aber ganz irrige Behauptung, die weder von geschichtlichem Wissen noch von Verständnis zeugt. Die Philosophie hat im Osten nach ihm ihre Lehrer und Schüler zu Hunderten und Tausenden gezählt. […] Und die allgemeine Bildung hat einen Bestandteil philosophischer Gelehrsamkeit in sich aufgenommen.“2
Auch in manchen anderen Einzelheiten nimmt de Boer Elemente neuerer Forschungsperspektiven vorweg. Ähnlich auch wie im Falle von D. Gutas’ Golden Age Artikel kann ein aufmerksamer Leser de Boers seiner Darstellung die Namen einer Vielzahl von Persönlichkeiten der späteren Zeit entnehmen, die auch philosophisch aktiv gewesen sind.
Mit der Forschungsagenda und dem Begriff der „post-avicennischen“ Philosophie verbindet sich dabei auch ein implizites Bekenntnis zu einer Bereitschaft, die Konzeptionalisierung des Begriffes von Philosophie im arabisch-islamischen Kulturbereich zu hinterfragen. Während viele Autoren der früheren Zeit (zum Beispiel die meisten im vorliegenden Band versammelten Denker) durch die Übersetzungsbewegungen in sehr enger Verbindung zur westlich-abendländischen Tradition stehen, verändert sich das in der hier relevanten Periode. Hier steht kein – in seiner Legitimation wie auch immer fragwürdiger – eurozentrisch determinierter traditioneller Kanon von Autoren bereit. Möchte man diesen Teil der islamisch-arabischen Tradition als Teil einer globalen Philosophiegeschichte verorten, ist oftmals Neuland zu betreten. Eigenständige Entwicklungen im arabisch-islamischen Bereich müssen dabei ernst genommen werden und unter dem Gesichtspunkt ihrer philosophischen Relevanz unvoreingenommen ausgewertet werden – auch und gerade dann, wenn es sich um Entwicklungen handelt, die von den aus dem europäischen Bereich Bekannten abweichen.
Wie D. Gutas hervorgehoben hat, markiert die Philosophie Avicennas insbesondere dadurch eine Zäsur, dass mit ihr eine Naturalisierung der aristotelischen philosophischen Tradition innerhalb der islamischen Kultur erreicht wurde. Avicenna gelingt es dabei, überzeugende philosophische Antworten auf relevante und dringliche Fragen des intellektuellen Lebens seiner Zeit zu geben; zudem entsprach sein Werk auch in der sprachlichen Form und der Zugänglichkeit den Ansprüchen der zeitgenössischen Leser.3
Ein weiterer Aspekt von Avicennas Œuvre ist zusätzlich hervorzuheben, nämlich die enzyklopädische Abgeschlossenheit seiner Werke, die auf das aristotelische Corpus Bezug nehmen. Im Bereich des mathematischen Schrifttums wird dieses Corpus dabei durch Werke anderer Autoren (Euklid, Ptolemäus) ergänzt. Bereits bei Avicenna selbst begegnen wir dem Phänomen, dass er eine ganze Reihe von Gesamtdarstellungen seines philosophischen Systems verfasst hat, die in großem Umfang frühere Arbeiten wiederverwerten. Abgesehen von Aktualisierungen bestimmter Einzellehren betreffen die Modifikationen dabei substantiell Struktur und Aufbau – mit anderen Worten: die Systematik der Werke. Neben den Erfordernissen des Alltagsgeschäfts (einige Werke waren Auftragswerke) stehen dahinter auch genuin philosophische Überlegungen: Zum einen spiegeln Modifikationen in Struktur, Argumentationsstil und Ausführlichkeit eine Veränderung in der Beurteilung des aristotelischen Schrifttums als eines philosophischen Modells wider, zum anderen – teilweise eng verbunden hiermit – arbeitete Avicenna kontinuierlich daran, die Wissenschaftslehre der Zweiten Analytiken auf die Konzeption seines Werkes anzuwenden.4
Die frühe Phase der philosophischen Avicenna-Rezeption ist in ganz hohem Maße von Zügen geprägt, die dies fortsetzen. Nach Avicenna wird eine große Anzahl von Schriften verfasst, die das gesamte Themengebiet systematischer aristotelischer Philosophie oder einen größeren Teilbereich hiervon abbilden. Während aber Avicenna hierbei seine eigenen Schriften oft wörtlich wiederverwertete, griffen später Avicennas Schüler auf die Werke ihres Lehrers zurück. Aus den frühesten Schülergenerationen sind uns gleich zwei solcher Werke erhalten: Das K. at-taḥṣīl (Buch der sorgfältigen Validierung) des Bahmanyār b. al-Marzubān (eines prominenten direkten Schülers des Avicenna) und Bayān al-ḥaqq bi-ḍamān as-ṣidq (Erklärung des Wahren mit Versicherung der Richtigkeit) des Abū l-ʿAbbās al-Lawkarī.5
Beide Werke bestehen nahezu ausschließlich aus umfangreichen Textstücken, die den Werken des Avicenna entnommen sind, oft nur geringfügig oder überhaupt nicht überarbeitet. Anders als spätere enzyklopädische philosophische Gesamtdarstellungen sind beide Werke mit Vorworten versehen, in denen die Autoren ihre Ziele bei der Abfassung des Werkes erklären. Zwar erwähnen beide Autoren, dass ihre Darstellungen auf den Werken und den Erkenntnissen früherer Philosophen basieren, aber keiner der beiden geht dabei auf die großzügige Verwertung fremden Textmaterials ein, deren Collagetechnik wir heute ohne Zögern als Plagiierung bezeichnen würden. Interessanterweise vermerkt al-Lawkarī allerdings im Metaphysikteil seines Werkes (das ansonsten völlig kommentarlos vollständige Kapitel aus den Schriften Avicennas übernimmt) eine solche Übernahme. Gerade am Anfang eines einzigen Kapitels betont er, dass die folgenden Ausführungen aus einem Werk des Avicenna (seinem Kommentar zur Theologie des Aristotles) entnommen seien, das nicht weitverbreitet leicht zugänglich sei.6 Anscheinend ist es für beide Autoren selbstverständlich, dass die Schriften des Avicenna der Ausgangspunkt ihres Schaffens sind. Aus ihren Vorworten können wir entnehmen, dass sie durchaus das Bewusstsein haben, wichtige Autoren zu sein und nützliche Bücher zu verfassen. Bahmanyār hebt dabei vor allem die Nützlichkeit, die Kürze und die Struktur seiner Darstellung hervor, während al-Lawkarī zudem selbstbewusst darauf vertraut, dass sein Werk als Denkmal nach seinem Tode bestehen bleibt.7
Interpretieren wir diesen doch sehr merkwürdigen Befund im Lichte der oben zu Avicenna gemachten Beobachtungen, so können wir erkennen, dass hier das Vorbild des Avicenna offenbar die Bedeutung der Werke des Aristoteles ablöst: Aristoteles spielt in dieser frühesten Phase der Avicenna-Rezeption überhaupt keine Rolle mehr. Das Corpus aristotelischer Schriften wird vollständig durch das Werk des Avicenna ersetzt. Beide Autoren verwenden erhebliche Sorgfalt auf die Strukturierung des Textmaterials (und möglicherweise auch auf seine Auswahl) – besonders beachtenswert ist hierbei die Struktur des K. at-Taḥṣīl. Wie es scheint, nutzt Bahmanyār die avicennische Essenz-Existenz-Distinktion sowie die Unterscheidung zwischen „essentiell notwendigen“ und „essentiell kontingenten“ Existierenden, um seine Darstellung zu strukturieren. Nach dem ersten Teil zur Logik folgt eine Sektion über Metaphysik (die auch explizit diesen Titel, arabisch mā baʿd aṭ-ṭabīʿa, trägt). Diese beschäftigt sich ausschließlich mit Ontologie. Nach einer Diskussion von Existenz als solcher (somit: Existenz unter Absehung von Essenz) folgt eine Sektion, die sich mit konkret existierenden Dingen (aʿyān al-mawǧūdāt) befasst. Im ersten Teil wird Gott als das essentiell notwendig Existierende behandelt, im zweiten Teil werden die verursachten essentiell kontingent Existierenden dargestellt. Der Bezug zum aristotelischen Corpus in seiner Vermittlung durch Avicenna wird dabei in den einzelnen Kapitelschriften hergestellt – die jeweils zugehörigen Schriften werden dort erwähnt. Der Aufbau des K. at-taḥṣīl selbst aber folgt einer Klassifizierung alles Existenten auf der Basis der avicennischen Distinktionen.8
Die philosophischen Ideen Avicennas erlangten im Folgenden immer mehr Einfluss auch auf das Werk islamischer Theologen. Die Rezeption innerhalb der islamischen Theologie ist dabei teils kritisch, teils aber auch sehr positiv. Hier ist es sinnvoll, drei Phasen zu unterscheiden:9 Zunächst (bis zum Wirken al-Ġazālīs, gestorben 1111) besitzen wir nur sehr sporadisch dokumentierte Evidenz für diesen Prozess der wechselseitigen Beeinflussung. Der Beginn einer zweiten Phase ist anzusetzen mit al-Ġazālī. Dieser war sehr gut mit den Werken Avicennas bekannt, und seine Schriften lassen dies an unzähligen Stellen erkennen. Mit dem Werk des Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gestorben 1210) tritt die durch al-Ġazālī eingeleitete verstärkte Rezeption Avicennas durch die mutakallimūn in ein drittes Stadium ein: Die Rezeption ist systematisch geprägt und ähnelt in vielen Einzelheiten Entwicklungen, die uns auch aus der lateinischen Scholastik bekannt sind.
Nun zunächst zu al-Ġazālī: Dieser wohl bekannteste ašʿaritische Theologe verdankt seinen Ruf als Zerstörer der Philosophie im Bereich des sunnitischen Islam einem Werk, seinem Tahāfut al-falāsifa (inkonsistenz der Philosophen). Dieses Werk besteht aus 20 Kapiteln, jedes dieser Kapitel ist spezifisch einer These der Philosophen gewidmet. Wie intensiv al-Ġazālī die jeweilige Meinung der Philosophen ablehnt, ist dabei unterschiedlich: Nur in drei Fällen ist der Irrtum der Philosophen so massiv, dass ihre Ansichten als Unglauben (kurf) zu qualifizieren sind. Hierbei handelt es sich (1) um die Lehre von der Urewigkeit (qidam) der Welt, (2) um die Lehre, Gott erkenne die partikulären Einzelwesen lediglich in universeller Weise und (3) um die Ablehnung der leiblichen Auferstehung. Neben diesen theologisch nicht akzeptablen Lehren sind andere Lehren lediglich intensiv zu kritisieren (wie zum Beispiel das philosophische Verständnis von Kausalität), und andere Lehren sind mit der Orthodoxie völlig konform – allerdings ist der Beweisansatz der Philosophen dem der Theologen unterlegen.
Während al-Ġazālī also durchaus zu einer sehr harschen Kritik der Philosophen ansetzt, zeigt die obige Beschreibung schnell, wie der Ġazālī-Mythos zu relativieren ist: Dadurch, dass al-Ġazālī sehr präzise identifiziert, welche Thesen der Philosophen inakzeptabel sind, setzt er einen Prozess in Gang, der letztlich dazu führt, dass das avicennische System als Ganzes sehr weitgehend von muslimischen Theologen akzeptiert werden kann: Um bei einer Beschäftigung mit Philosophie die eigene Rechtgläubigkeit zu wahren, ist es lediglich nötig, sich von den als Unglauben identifizierten Thesen der Philosophen fernzuhalten.10
Ist schon das Werk des al-Ġazālī in seiner Beziehung zum philosophischen Denken höchst facettenreich und komplex, so steigert sich die Ambiguität im Falle des Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī bis hin zur Widersprüchlichkeit. Während in al-Ġazālīs Werken oftmals die systematische Behandlung von Themenkomplexen nach Grundsätzen der Philosophen nur in einem Teilausschnitt oder in eine andere Terminologie transponiert übernommen wird, ist die Situation bei Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī ganz anders: In seiner Darstellung wird der Kontext einer systematischen Erläuterung in viele kleine Einzelprobleme aufgelöst. Diese Einzelprobleme werden dann von verschiedensten Seiten argumentativ beleuchtet – zugehörige Argumente und Gegenargumente werden in scholastischer Manier bis in kleinste Details ausgeführt. Diese Darstellungsweise ist zwar kompliziert und erfordert höchste Konzentration, wenn man den Faden des Arguments nicht verlieren möchte, aber die Probleme werden sehr explizit dargestellt. Die Unklarheit der Einschätzung der Position des Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī rührt vielmehr daher, dass es oft nicht auszumachen ist, welche unter den vielen möglichen Positionen, deren Implikationen er ausführlich erläutert, denn nun die eigene Position des Autors ist. Oft werden Probleme in verschiedenen Werken des Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī sehr ähnlich analysiert und die Darstellungen der Positionen verlaufen parallel – allerdings scheint ar-Rāzī zwischen den Werken gewissermaßen die Seiten gewechselt zu haben: Positionen, die er in einem Werk vertreten hat, greift er in anderen Werken mit Argumenten an, die wir im ersten Werk als Argumente der Gegenseite kennengelernt haben. Dies geschieht nicht nur in isolierten Einzelfällen, sondern durchaus in relevanten Grundlagenfragen, wie zum Beispiel der Stellung zum Atomismus, der ontologischen Frage von „Existenz im Geiste“ (wuǧūd ḏihnī), und dergleichen mehr.11
Für die weitere Entwicklung der philosophischen Tradition, aber auch für die systematische Durchdringung der späteren theologischen Tradition mit Elementen avicennischer Philosophie ist insbesondere ein Werk des Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī von Bedeutung, das den Titel al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma (Kompendium über Philosophie) trägt. Die Grundstruktur dieses Werkes ist analog zu Bahmanyārs K. at-taḥṣīl: Wie dieses behandelt der al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma den gesamten Stoff des avicennisierten Corpus Aristotelicum und teilt ihn nach einer eigenen Systematik auf. Im Vergleich zu Bahmanyārs K. at-taḥṣīl ist die Systematik des al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma jedoch noch deutlich komplexer. Zunächst behandelt eine Sektion über „allgemeine Dinge“ (al-umūr al-ʿāmma) wichtige ontologische Grundbegriffe (Existenz, Essenz, Einheit/Vielheit, Konzeption von Modalbegriffen). Dann werden die verursachten, kontingenten Dinge behandelt, unterteilt in Akzidenzien (aʿrāḍ) und Substanzen (ǧawāhir). Die Akzidenzien werden entsprechend den neun akzidentellen aristotelischen Kategorien aufgeteilt. Als Substanzen werden Körper, Seele und Intellekt unterschieden. Den Abschluss bildet eine (vergleichsweise sehr kurze, aber eigens abgeteilte) Sektion über divinalia (Ilāhīyāt), also über Gott als das notwendige Existierende. Für nahezu zwei Jahrhunderte bildete der al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma einen der wichtigsten Bezugspunkte für die meisten Autoren, die sich mit avicennischer Philosophie auseinandersetzten; teilweise war er wichtiger als Avicennas Werke selbst.12 Wie man aus der Anzahl von überlieferten Manuskripten und Zitaten erkennen kann, geriet der al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma dann allmählich in Vergessenheit. Heute sind die al-Mabāḥiṯ al-mašriqīya (Östliche Untersuchungen) sehr viel weiter verbreitet. Sie verwenden dieselbe Struktur wie der al-Mulaḫḫaṣ fī l-ḥikma (und explizieren diese auch im Vorwort). Dabei sind sie im Detail sehr viel ausführlicher gehalten, allerdings besitzen sie keine Sektion über Logik.13
An dieser Stelle noch einige kurze Bemerkungen zum Thema Logik: Die Wichtigkeit der Beiträge arabischer Philosophen der post-avicennischen Periode in dieser Disziplin ist im Prinzip schon länger bekannt. Zusammen mit den Leistungen dieser Epoche auf dem Gebiet der Naturwissenschaft (vor allem in der Astronomie) war dies ein Anlass dafür, stereotype Urteile über einen angeblichen Niedergang jeglichen philosophisch relevanten Geisteslebens im späteren Islam zu hinterfragen.14 Die Produktion enzyklopädischer Darstellungen von Philosophie ist in der Tat ein Phänomen, das aus dem überwältigenden Erfolg und der Rezeption avicennischer Philosophie zu erklären ist und die Erforschung und Beurteilung dieser Epoche erschwert. Neben diese enzyklopädische Produktion treten dann wieder zunehmend stark spezialisierte Monographien und kleinere Abhandlungen, die sich mit spezifischen Einzelthemen befassen. Logik und die mathematischen Wissenschaften (also vor allem die aus der Spätantike bekannten Disziplinen des quadriviums) nehmen im Rahmen dieser enzyklopädischen Produktion – schon bei Avicenna selbst – eine besondere Stellung ein: Konzeptionell wird ihnen zwar ein Platz im Wissenschaftsgebäude zugewiesen, in vielen Werken werden die einzelnen Teile aber nicht sorgfältig ausgeführt. Im Falle Avicennas betrifft dies besonders die mathematischen Wissenschaften.15 Auch im Falle der Logik lässt sich eine zunehmende Tendenz zur Spezialisierung ausmachen. Es gab natürlich Autoren, die von vorneherein spezialisierte Logikkompendien verfassten,16 oft aber trat eine Separierung erst nachträglich ein. Sirāǧ ad-Dīn al-Urmawīs Maṭāliʿ al-anwār (Aufstiegsort der Lichter) ist eine der wichtigsten Einführungen in die Logik – hiervon gibt es hunderte von Manuskripten. Der andere Teil dieses Kompendiums (derjenige, der sich mit ḥikma, also Physik und Metaphysik beschäftigt) galt als verschollen. Mittlerweile sind einige wenige Manuskripte identifiziert worden. Genauso verhält es sich auch bei at-Taftāzānīs Tahḏīb al-manṭiq wa-l-kalām (Geglättete Zusammenfassung der Logik und des kalām) – auch hier ist der Logikteil in hunderten Manuskripten bekannt. Der (nur schwach überlieferte) zweite Teil ist hier allerdings der Theologie (kalām) gewidmet.17
Diese Separierung der Logik (manṭiq) von der Philosophie (ḥikma) beruht zum Teil auf einer zunehmenden Tendenz zur Spezialisierung der Disziplinen, hat aber auch einen anderen Grund. Hier stellt wohl das Werk des al-Ġazālī einen Wendepunkt dar: Nicht nur hatte sein Tahāfut al-falāsifa der Logik theologische Unbedenklichkeit bescheinigt, sondern sein innovatives und weithin einflussreiches Kompendium zur Rechtsmethodik (uṣūl al-fiqh), das K. al-Mustaṣfā, enthält zu Beginn eine kurze Einführung in die wichtigsten Grundlagen aristotelischer Logik und leitete damit deren weite Verbreitung und Akzeptanz im Bereich der islamischen Rechtsmethodik ein. Angriffe auf diese Tendenz gab es dabei natürlich immer wieder – am bekanntesten ist hier eine Schrift des Ibn Taymīya mit dem Titel ar-Radd ʿalā l-manṭiqīyīn (Widerlegung der Logiker).18 Im Bereich des islamischen Rechts, aber eben auch in der Theologie beansprucht das Studium der Logik damit einen wichtigen Platz bereits in der Propädeutik dieser Disziplinen. Logik ist somit nicht nur das Werkzeug der Philosophie, sondern auch der religiösen Wissenschaften des Islam.