Читать книгу Das Erste Vatikanische Konzil - Группа авторов - Страница 11
1.1 Der religiöse Zweifel: Ein neues Problem und seine Diagnostik
ОглавлениеDenn eines ist neu: Hettinger muss eingestehen, dass die Selbstverständlichkeit, mit der sich noch vorhergehende Generationen zum Glauben bekannt haben, massiv geschwunden ist. Der „religiöse Zweifel“ ist daher das erste Objekt seiner Betrachtungen. Hettinger schreibt:
„Woher der religiöse Zweifel? Wie ist der unermesslichen Tatsache des Christentums gegenüber der religiöse Zweifel überhaupt nur möglich? Da steht die christliche Wahrheit mit ihrer Machtentfaltung und Segenswirkung, wie sie nur einmal die Erde gesehen, und dies seit Jahrtausenden und bis zur Gegenwart herab; sie ist in vollster Wahrheit jener Baum geworden, welcher die ganze Welt überschattet – die Mutter der Völker, die sie alle in ihrem Schoße getragen und an ihrer Brust zu höherem Leben genährt hat. Nationen sind gekommen und gegangen, die Kirche stand an ihrer Wiege und an ihrem Grab; sie ist nicht vorübergegangen. Neue Geschlechter erschienen, neue Zeiten brachen an; alles ist wieder verschwunden, die Kirche steht. So oft wähnten ihre Feinde, sie vernichtet zu haben; schon schickten sie sich an, dem entseelten Leichnam, wie sie glaubten, das Grab zu graben. Aber wie neugeboren ist sie noch jedes Mal hervorgegangen aus dem Feuer der Verfolgung.“4
So scheint es klar, dass bereits die historische Kontinuität der Institution Kirche in der Lage ist, auch den Anspruch der Wahrheit ihrer Glaubenslehren zu begründen. Die Geschichte, so der Fortgang des Zitats, habe es „bewiesen auf allen ihren Blättern“, dass der Kirche als der „Trägerin des Glaubens […] die Unverweslichkeit eingehaucht ist“; alle „großen weltgeschichtlichen Ereignisse“ werden daher zum Hinweis „auf die Hand Gottes, die unsichtbar und doch so sichtbar sie leitet“.5 Weit besser als jeder theoretische Beweis belegt daher nach Hettinger der faktische Lauf der Geschichte die universalen Ansprüche des Christentums: Geschichte bedeutet Bewahrheitung des Christentums, und Christentum bedeutet Wahrheit in Geschichte. Im heutigen Diskurs würde wohl kaum ein Theologe mehr wagen, solch eine zirkuläre Logik explizit zu vertreten; Hettinger dagegen scheut sich nicht, sie demonstrativ an den Anfang seines Werkes zu setzen.