Читать книгу Das Erste Vatikanische Konzil - Группа авторов - Страница 16
2.1 „Alles ist in Frage gestellt“: Die Hilflosigkeit des Theologisierens im ‚fin de siècle‘
ОглавлениеDer Apologet, so schreibt Weiß auf den ersten Seiten seiner „Apologie“, sehe sich heute mit einer „außerordentlich schwierigen“ Aufgabe konfrontiert: Seine Situation gleiche der „jener Ureuropäer, die nur mit gezücktem Schwerte Schritt für Schritt ihre Wanderzüge zu machen wagten“. Es gebe „keinen bestimmten Feind mehr und kein abgegrenztes Schlachtfeld“, die „Zustände in der moralischen und in der wissenschaftlichen Welt“ könnten „nicht gestaltloser sein“: „Alles ist in Frage gestellt, alles in Fluss geraten, alles zu einem unergründlichen Brei von Urschleim durcheinandergerührt.“18 Die Verursacher dieser Krise sieht er indes als gut benennbar: Auf dem „Gebiete der Biologie“ habe der Darwinismus „alle Wesen […] auf einen Begriff, den der allgemeinen Gallerte, zurückgeführt“, unter „seinem Zeichen“ stehe inzwischen „unsere ganze Kultur und Geistesbildung“.19 Die „vergleichende Religionswissenschaft, das jüngste Kind des Positivismus“ behaupte zudem, „dass Christus und Buddha, dass Somnambulismus, Tischrücken, Spiritismus und Prophetentum […] ein und dasselbe seien“.20 Künstler schließlich malten „blaue Gesichter, grüne Augen, silberne Lippen, und alle Welt staunt das gespenstische Machwerk an, denn so ist es modern“.21 Kurz:
„Der ruhige Denker und Staatsbürger, der auf Ordnung und Herkommen hält, steht wie verwirrt vor diesem Chaos und denkt, der Ausdruck ‚fin de siècle‘, den man dieser Kultur gegeben hat, dürfte wirklich der Sache entsprechen. Dem modernen Menschen aber ist nie wohler, als wo alles seine natürliche Form und Farbe verloren hat. Jetzt, versichert er, seien die Dinge erst in ihr wahres Licht gestellt.“22
Diese durch Weiß konstatierte Hinfälligkeit aller bisherigen geordneten Verhältnisse steht in auffälligem Kontrast zu der distanzierten Gelassenheit, mit der noch Hettinger den „religiösen Zweifel“ als ein erklärungsbedürftiges Sonderphänomen betrachtet hatte. Für Weiß liegt es vielmehr auf der Hand, dass man sich „unter solchen Umständen“ nicht zu wundern brauche, „wenn die Welt zuletzt an keine Wahrheit, am wenigsten an eine religiöse Wahrheit mehr glaubt“.23 Die Menschen seien „dem Christentum bereits zu sehr entfremdet, als dass man hoffen könnte, sie ihm noch einmal zugänglich zu machen“; es wundere daher nicht, dass „unter der kleinen Schar von Sehenden oft Bitterkeit, noch öfter Mutlosigkeit überhand nimmt“.24
Bis zu diesem Punkt bietet Weiß ein markantes Beispiel eines Theologen, der die Vermittlungskrise des Christentums auf einen als maßlos empfundenen wissenschaftlichen und sozialen Fortschritt zurückführt: Die „Zerfahrenheit der Wissenschaft“, in der „jeder seinen eigenen Einfällen“ folge, der „Krieg aller gegen alle auf sozialem Gebiete“, die „Souveränität des Individuums“, der „Libertinismus“, schließlich Kants „Erhebung des Eigenwillens auf den Lehrstuhl des Gesetzgebers“ – all das hat eine allumfassende „Verwirrung“ zur Folge, deren logische Konsequenz die „Zerstörung aller wirklichen Religion“ ist.25 Wie sich hier deutlich zeigt, sind Klagen über eine in weltanschaulicher und normativer Hinsicht orientierungslose Moderne und die Konstatierung eines allumfassenden „Relativismus“ als Gefahr für das Christentum nicht erst ein Kennzeichen konservativer Theologen des 20. Jahrhunderts.