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2.2 Gott, die wahre Ehre der Menschheit: Eine Apologetik auf anthropologischer Basis

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Bemerkenswert ist nun die Lösung, zu der Weiß findet, um der christlichen Apologetik doch noch zu ihrem Recht zu verhelfen: Wenn man sich frage, ob all diese unterschiedlichen Gegenwartsströmungen nicht letztlich doch eine Gemeinsamkeit hätten, müsse man zu dem Ergebnis kommen, dass es „die Vergötterung des von Gott losgelösten, einzig auf sich selbst bauenden Menschen“ sei, „das sogenannte freie Menschentum“. In dieser Idee liege der „Schlüssel zum Verständnis der heutigen Welt“:26

„Die Menschheit mag alles in Abrede stellen, Schöpfung, Sündenfall, Erlösung, Ewigkeit und Unsterblichkeit, sie mag in ihrer Gottentfremdung so weit fortschreiten, dass sie Gott […] das höchste Übel nennt, dann glaubt sie erst an eines umso fester, an sich selber. Darum leugnet, lästert, verwünscht sie eben Gott, weil sie an ihm eine unübersteigbare Schranke findet, die sie hindert, bis zur Selbstvergötterung zu schreiten.“27

Dieser „Menschheitskult“ bezeuge nun, dass das „heutige Geschlecht“ sich „wenigstens einen Glauben“ nicht nehmen lasse – den Glauben an den Menschen. Eine Apologie, „wie sie den Bedürfnissen unserer Zeit angemessen erscheint“, könne daher „getrost auf die Idee des Menschen und der Menschheit“ bauen.28 Weiß hat also – beachtlich für diese Zeit – eine Apologie auf anthropologischer Basis im Sinn. Ihre Berechtigung erfährt sie dadurch, dass sie, anders als der herrschende „atomistische Subjektivismus und Individualismus“, den „ganzen Menschen“ berücksichtigen möchte, sein „geistiges Leben“, seine „Kultur und Sittlichkeit“, und die auf diese Weise den Irrungen der Gegenwart die Erkenntnis vorauszuhaben meint, „dass man den Menschen und seine Tätigkeit nicht in Stücke reißen kann“.29 – So liegt für Weiß letztlich die Rechtfertigung des Christentums darin, dass es das fragmentierte Menschenbild des fin de siècle wieder in eine neue Einheit überführen kann, deren letzter Garant der im Schwinden begriffene Gottesgedanke ist. Man habe beispielsweise nicht zu fragen, ob der Mensch „sich oder dem Staate“ angehöre, denn „jedes im Katechismus unterrichtete Schulkind“ erkenne deutlich, dass schon die Frage falsch, weil ohne Transzendenzbezug gestellt sei:

„Wem gehört der Mensch an, sich, der Menschheit, oder dem ewigen, unendlichen Reiche Gottes? Darauf aber gibt es nur eine Antwort: Allen dreien zugleich. So verschieden auch der Umfang dieser drei Begriffe ist, so bilden sie doch drei konzentrische Kreise, deren Mittelpunkt für jeden sein eigenes Gewissen ist. Nur indem einer gleichmäßig seine Pflichten gegen alle drei erfüllt, wird er seiner Aufgabe gerecht.“30

Das Christentum ist damit die einzige Instanz, die in einer moralisch orientierungslosen Zeit Ausgleich und Stabilität gewährleistet: Es begreife, anders als all die von Weiß als extremistisch empfundenen Gegenwartsströmungen, „dass die Wahrheit in der Mitte liegt“,31 indem es sowohl die Rechte wie auch die Pflichten des Individuums garantiere und dafür sorge, dass „die Einrichtungen in der Menschheit einigermaßen den Anordnungen des göttlichen Weltplanes entsprechen“.32 Und nicht zuletzt werde durch es wieder der vollumfängliche „Sinn für die wahre Ehre der Menschheit eröffnet“: die Rückbindung an „Gott, unseren Ursprung, den Quell alles Guten, unser Ziel“.33

Aus heutiger Perspektive ist die von Weiß vorgebrachte Krisendiagnostik und sein Versuch der Rückbindung des „subjektivistischen“ Zeitgeistes an den Gottesgedanken ein interessantes Zeugnis einer Übergangszeit: Das alte naturrechtliche Begründungsmuster, das die Stabilität der menschlichen Sozialstrukturen alleine auf Basis des Gottesbezugs für gewährleistet hält, bildet den Zielpunkt seiner Argumentation; zugleich gründet sein apologetischer Versuch auf dem Gedanken, man müsse, um die Gehalte des Christentums plausibel begründen zu können, die zeitgenössische Wende zur „Menschheit“ mitvollziehen. Hier deutet sich erstmals eine Entwicklung an, die in der katholischen Theologie einige Jahrzehnte später, im Umfeld des Zweiten Vaticanums, unter dem Schlagwort der „anthropologischen Wende“ voll zum Tragen kommen sollte. Diese bemerkenswerte Innovation tritt in dieser Frühform freilich noch nicht als ein durchdachtes Theorem, sondern als ein gewissermaßen aus der Not geborener Mitvollzug gegenwärtiger Geisteshaltungen auf: Auf die Klage, die zeitgenössische Weltorientierung sei zu einem „schwankenden Grunde“ heterogener Denkarten geworden, folgt die Feststellung, dass all diese Auffassungsweisen sich ja immerhin auf den Menschen und die „Menschheit“ bezögen. Was bleibt dem Apologeten? Er hat sich, so Weiß – man könnte ergänzen: notgedrungenerweise – diesem Bezugspunkt anzuschließen und darzulegen, wieso einzig die christliche Art der Weltauffassung der Anthropologie vollends gerecht wird. Dieses Manöver ist ohne Zweifel weder subtil noch methodisch elaboriert, aber mit Blick auf den weiteren Gang der systematischen Theologie muss man sagen: es ist in seiner Unverstelltheit wenigstens ehrlich. Der Leitgedanke Weiß’ ist das Problem der Glaubensvermittlung in Zeiten des weltanschaulichen Pluralismus, seine Reaktion ist die explizite Wende zum Menschen und zur „Menschheit“. Der Leitgedanke der deutschen Universitätstheologen der Enkelgeneration, die der „anthropologischen Wende“ später durch weitaus reflektiertere und theoretisch fundiertere Begründungsversuche zum Durchbruch verhalfen, ist eine Lesart der conditio humana, die – wie oben am Beispiel Rahners gesehen – alle menschlichen Vollzüge mit einem impliziten (!) Gottesbezug versieht. Weiß konstatiert bereits am Ende des 19. Jahrhunderts einen allgemeinen Relevanzverlust christlich-theologischer Denkmotive; die Theologen nach der Mitte des 20. Jahrhunderts dagegen konnten eben diese Problematik mit einer umfassenden Theorie des homo naturaliter religiosus als irrelevant abtun. Der innertheologische Erfolg ihres Modells beruht daher auch auf den Strategien der Problemvermeidung, die es ermöglicht: Folgt man ihm, hat man die Frage nach den eigentlichen Gründen des Schwundes einer christlichen Weltauffassung genauso wenig zu stellen, wie die damit verbundene Frage nach den realen Erfolgsaussichten der eigenen apologetischen Arbeit.

Das Erste Vatikanische Konzil

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