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Objekte als vielfältige Dokumente
ОглавлениеDie 44 Objekte legen Zeugnis von vielfältigen Beziehungen und Vernetzungen ab, sie sind historische und kulturelle Dokumente in einem: Dokumente, weil sie einzigartige Gegenstände aus der Zeit der ersten Kontakte zwischen den europäischen Entdeckern und der lokalen Bevölkerung sind (zweite Hälfte des 18. und frühes 19. Jahrhunderts). Sie wurden fast ausnahmslos von den Menschen vor Ort für die Verwendung in ihrem Alltag und im Ritualleben angefertigt. Viele von ihnen weisen Gebrauchsspuren auf. Die Beschaffenheit der Objekte und ihr Material, die Gestaltung ihrer Form und die Zwecke, für die sie hergestellt wurden, vermitteln Einblicke in die jeweilige Lebensform der Menschen. Sie zeigen, welche Rohstoffe genutzt wurden, wie funktionale Ansprüche an den Gegenstand sowie ästhetische und auch religiöse Vorstellungen „materialisiert“ wurden, d.h. ihren gegenständlichen Ausdruck gefunden haben. Es sind Dokumente traditioneller, von Europa noch kaum beeinflusster Lebenswelten. Sie erzählen die Geschichte von einem inzwischen fast mythisch gewordenen „Damals“, die Zeit der längst verstorbenen Ahnen. In diesem Sinn stellen diese Objekte auch Mosaikstücke einer früheren historischen Zeit vor Ort dar, sie sind Teil eines kulturellen Erbes geworden.
Was manche dieser Dokumente kulturhistorisch besonders wertvoll macht, sind ergänzende schriftliche und bildliche Aufzeichnungen, die sammelnde Expeditionsteilnehmer oder sie begleitende Künstler vor Ort gemacht haben: Diese berichten teilweise davon, was sie von den Indigenen in situ zu einem Objekt erfahren haben, sie geben also indigene Sichtweisen wieder oder halten Verwendungszweck(e) und Bedeutung(en) fest.
Die 44 Artefakte stellen jedoch auch Dokumente in einer anderen Hinsicht dar, denn sie befinden sich heute nicht mehr an ihrem Ursprungsort, sondern sind seit rund 200 Jahren in Europa. Diese Objekte sind deshalb auch Dokumente des Aufeinandertreffens von Europäern mit Vertretern und Vertreterinnen lokaler Gemeinschaften, persönlichen Begegnungen zwischen Europäern und Indigenen. Nur in wenigen Fällen wissen wir, wie einzelne Gegenstände in den Besitz der Expeditionsteilnehmer gelangt sind. Hatten sie nach solchen Gegenständen gefragt? Wurden sie ihnen freiwillig angeboten – etwa um als Gegenwert einen begehrten europäischen Gegenstand, wie zum Beispiel ein mit einer Eisenklinge versehenes Messer, zu erhalten? Gab es eine Bezahlung mit Geld? Geschah der Handel einvernehmlich? Und umgekehrt wäre zu fragen, von welchen Gegenständen sich die Menschen vor Ort nicht trennen wollten. Warum also konnten gerade diese Gegenstände, die sich heute vor allem in den ethnologischen Sammlungen von Göttingen, Oldenburg und München befinden, gesammelt werden? Dies alles sind Fragen, die heute mit dem Begriff „Provenienzforschung“ umschrieben werden. In vielen Fällen können wir keine Antwort geben; jedoch gehört es längst zur methodischen Vorgehensweise, dass man solche Fragen an einem Objekt überprüft, um Herkunft, kontextuelle Bedeutung(en) und den Weg der Objekte benennen zu können.
Noch in einer weiteren Hinsicht stellen die Objekte Dokumente dar, denn sie haben, nachdem sie vor Ort von einem – oft als Person nicht genauer zu identifizierenden – Europäer erworben worden waren, lange und oft verschlungene Wege durch soziale Beziehungsnetze beschritten, die sie letztlich in die genannten ethnologischen Sammlungen führten. In diesen Sammlungen stellen sie, sammlungshistorisch gesehen, Meilensteine dar, denn sie haben ihnen zu einer besonderen Bedeutung verholfen und bildeten schon früh den Anziehungspunkt für Gelehrte aus aller Welt. Diese Geschichte und speziell auch die Bedeutung der Göttinger Universität mit seiner Ethnologischen Sammlung haben wir im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte erforscht, herausgestellt und veröffentlicht (Hauser-Schäublin und Krüger 1998; Hauser-Schäublin und Krüger 2007). Wir fassen sie in der Folge kurz zusammen.