Читать книгу Die Entdeckung des Nordpazifiks - Gudrun Bucher - Страница 18
Оглавление3 GESCHENKE VON DEN RÄNDERN DER BEKANNTEN WELT
Vorne geschlossenes Kindergewand der Samojeden das mit der Fellseite nach innen direkt auf der Haut getragen wurde (Abb. 3). Die Ärmel weisen einen Fellbesatz auf und die Handschuhe sind direkt angenäht. Zur Verzierung sind dunkle und rote Lederstreifen aufgebracht. Die Tundra-Landschaften des Nordens westlich des Jenissei sowie die Halbinseln Tamar und Taimyr bildeten den Lebensraum der Samojeden, in welchem sie mittels Rentierhaltung ihre Existenz sicherten. Eine Besonderheit ihrer Lebensweise war, dass einige Gruppen sich auch während des Sommers mit Schlitten fortbewegten, die von Rentieren über das Gras durch die baumlosen Gebiete gezogen wurden.
Unter dem Begriff Samojeden wurden von den Gelehrten des 18. Jahrhunderts mehrere indigene Ethnien zusammengefasst, nämlich Enzen, Nenzen, Nganassan und Selkupen. Erst im 20. Jahrhundert, nach der Oktoberrevolution, ging man dazu über, die Eigenbezeichnungen der einzelnen Gruppen zu verwenden.
Falsche Vorstellungen von den „Randvölkern“
Die Samojeden gehörten zu den ersten Völkerschaften, die intensivere Kontakte mit den russischen Eroberern hatten. Sie wurden bereits in den frühesten Schriften über das Russische Reich erwähnt, in denen ihnen aufgrund einer falschen Volksetymologie – nämlich Russisch sam = „selbst“ und Russisch jedjat (3. Pers. Plural) = „sie essen“ – Kannibalismus unterstellt wurde (Pypin 1892, S. 187). Vorstellungen von Wildheit, zu denen Kannibalismus wie selbstverständlich dazu gehörte, wurden auf sie projiziert, ganz ähnlich wie dies in anderen neu entdeckten Weltgegenden geschah. So konnte man lesen, bei den Samojeden sei der Mund oben auf dem Kopf und sie nähmen Nahrung zu sich, indem sie das Essen unter den Hut schöben und dann die Schultern auf und ab bewegten (Slezkine 1994, S. 32f.). Allerdings gab es auch andere Stimmen, wie die von Adam Olearius, der im 17. Jahrhundert als Gesandtschaftsreisender in Russland unterwegs war. Er hatte in Moskau zwei Samojeden getroffen und befragt. In seinem Reisebericht bemühte er sich um Erklärungen für die sonderbaren Beobachtungen seiner Vorgänger. Die Angewohnheit der Samojeden, bei großer Kälte die Arme aus den Ärmeln ihrer vorne geschlossenen Obergewänder zu nehmen und am Körper zu wärmen, schrieb er, könne aus der Ferne betrachtet wirken, als befände sich das Gesicht auf der Brust. Schneeschuhe könnten, aus größerer Distanz betrachtet, durchaus für riesige Füße gehalten worden sein (Olearius 1656, S. 159–161). Als sich die Kontakte zwischen Kosaken und Einheimischen intensivierten und mit Beginn des 18. Jahrhunderts mehr und mehr wissenschaftlich ausgerichtete Expeditionen in die Weiten Sibiriens geschickt wurden, änderten sich die Berichte über die sibirischen Völker. In den gerade neu gegründeten Museen konnte sich der Besucher dann selbst ein Bild von den fremden Gebrauchsgegenständen machen.
Abb. 3 Kinderkleidung, „Samojeden“. Material: Fell, Leder. Maße: 75 × 118 cm. Ethnologische Sammlung der Universität Göttingen, Slg. Asch – As 46 (Foto: Harry Haase).
Georg Thomas von Asch als Gönner der Göttinger Universität
Am 28. Juli des Jahres 1777 bestätigte der Direktor der Göttinger Universitätsbibliothek, Christian Gottlob Heyne, den Eingang eines Briefes aus St. Petersburg. Der Brief war signiert mit „Ihr ergebenster und gehorsamster Diener, Baron Georg von Asch“ („Votre très humble et très obeïssant Serviteur, Le Baron George d’Asch“). Noch schrieb der russische Generalstabsarzt Georg Thomas von Asch hochoffiziell auf Französisch, der Sprache des russischen Adels. Dies änderte sich aber bald, denn das Verhältnis zwischen dem St. Petersburger Doktor der Medizin und dem Göttinger Gelehrten wurde zunehmend persönlicher. Baron von Asch beschränkte sich allerdings nicht auf das Schreiben höflicher oder freundschaftlicher Briefe, sondern machte es sich zur Gewohnheit, wertvolle Geschenke von wissenschaftlicher Bedeutung nach Göttingen zu schicken.
Von Aschs Familie stammte ursprünglich aus Schlesien und war 1707 auf Einladung von Zar Peter I. nach Russland gezogen. Der Vater trat in den Beamtendienst, stieg rasch auf und brachte es bis zum Postdirektor. Die Familie war recht vermögend. Am 12. April 1729 kam der Sohn Georg Thomas zur Welt. Seine Erziehung erfolgte durch Hauslehrer, nur ein Jahr lang besuchte der junge von Asch das St. Petersburger Gymnasium. Im Oktober des Jahres 1744 ging von Asch zum Studium der Medizin zunächst nach Tübingen. Zur Promotion wechselte er nach Göttingen und war von 1748 bis 1750 ein Schüler des berühmten, aus der Schweiz stammenden Professors für Botanik, Anatomie und Chirurgie Albrecht von Haller. Auch nach von Aschs Weggang aus Göttingen blieben Lehrer und Schüler einander in Freundschaft verbunden. Zurück in Russland dachte von Asch häufig und voller Freude an seine Göttinger Jahre. Seinen ersten Brief schrieb er 21 Jahre nach dem Ende seines Studiums im November des Jahres 1771. Da die mitgelieferten Geschenke höchst wohlwollend aufgenommen wurden, begann von Asch seiner Alma Mater beim Aufbau der Bibliothek und des Academischen Museums zu helfen, indem er fortan über 35 Jahre hinweg die Göttinger Universität mit seinen Sendungen unterschiedlichsten Inhalts beglückte, wozu neben Büchern, Manuskripten, Münzen, Medaillen, Kupferstichen, Landkarten, Pflanzensamen, ausgestopften Tieren und menschlichen Schädeln auch die Gewänder und andere Gebrauchsgegenstände sibirischer Völkerschaften gehörten.
Transportprobleme
Die Kindergewänder der Samojeden stehen exemplarisch für die sehr unterschiedlichen und teilweise verzweigten und je nach politischer Situation auch riskanten Transportwege, auf denen von Asch seine Kisten nach Göttingen bringen ließ. Wann immer möglich, gab er die Sendungen Ärzten, Gelehrten oder Studenten mit, wenn diese von St. Petersburg nach Deutschland reisten. Viele Kisten gelangten auf dem Seeweg nach Lübeck und wurden dann in der Obhut von Reisenden, die mit dem Baron bekannt waren, nach Göttingen transportiert. Im Laufe der Zeit hatte von Asch sich unterschiedlicher Spediteure und Mittelsmänner bedient und in all den Jahren scheint nur eine einzige Kiste bei einem Schiffbruch verloren gegangen zu sein. Dazu schrieb von Asch am 3./14. April 1791:
„Für die guten Nachrichten, daß alle dahin abgesandten Sachen dort eingetroffen sind, bin ich Ihnen, verehrter Freund, herzlich verbunden – Nur den Verlust des Chien Loup [Wolf-Hund-Mischling] muß unser Hr. Blumenbach verschmerzen, da Neptun den hübschen Hund sich zugeeignet hat. Ein Opfer, dem Wassergott nicht zu missgönnen, für die bisherige Schonung so mancher Sendungen über See.“
Da in Russland noch der julianische Kalender galt, machte von Asch seine Datumsangaben in seinen Briefen nach Göttingen immer sowohl nach dem gregorianischen als auch nach dem julianischen Kalender, der im 18. Jahrhundert 11 Tage gegenüber dem gregorianischen zurücklag.
Die samojedische Kinderkleidung hatte Georg Thomas von Asch dem jüngsten Sohn des Göttinger Geschichtsprofessors August Ludwig von Schlözer mitgegeben. Karl von Schlözer lebte als Kaufmann in Lübeck und hatte im Jahr 1806 eine längere Reise ins Baltikum und nach St. Petersburg unternommen, wo er offenbar Kontakt zu von Asch gehabt hatte. Im Brief vom 15./27. September des Jahres 1806 schrieb von Asch:
„Hr. v. Schloetzer, nun nach Lübeck zurückreisend, nimmt gar gerne die Samojeden-Kinderkleidungen in 8 Nummern, zur weiteren Beförderung für das academische Museum. Ich hoffe diese nordischen Trachten werden dort unbeschädigt anlangen.“
Von Aschs Hoffnung hatte sich tatsächlich erfüllt und die vier Obergewänder, eine Mütze, eine Hose und zwei Paar Stiefel befinden sich noch heute in Göttingen in der Ethnologischen Sammlung der Universität.
Die Übersendung dieser Kleidungsstücke zeigt unter anderem, dass von Asch aus den unterschiedlichsten Quellen geschöpft haben muss, reichen seine Gaben doch vom nordwestlichen Teil Sibiriens bis zum östlichsten Zipfel der Halbinsel Tschukotka und darüber hinaus bis zu den Aleuten, der Insel Kodiak und dem Prince William Sound, sowie weiter südlich bis Tibet, China, Persien, Türkei, Armenien, Griechenland, Moldawien und Marokko.