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2 ANFÄNGE DER VÖLKERBESCHREIBUNG (ETHNOGRAPHIE)

Abb. 2 zeigt ein vorne offenes Gewand ohne Kapuze, vermutlich aus Rentierleder. Die Ränder sind mit schwarzen, blauen, hell- und rotbraunen Streifen aus Leder und Stoff verziert. Teilweise sind weiße Perlen aufgenäht. An der Schulter und der Saumlinie befinden sich lange Fransen aus Tierhaar. Die Ränder der Ärmel sind mit rotem und blauem, grob gewebtem Stoff verziert. Die Vorderseite kann von oben bis zur Hüfte mittels Schlaufen verschlossen werden. Die reichhaltige Verzierung deutet darauf hin, dass das Gewand an Festtagen getragen wurde. Ein gleichermaßen reichlich ausgestatteter Brustlatz ist zusätzlich mit blauen und weißen Perlen geschmückt. Im Gegensatz zum Gewand, bei dem es sich vermutlich um ein Sommergewand handelt, besteht bei dem Brustlatz die Außenseite aus Fell, so dass sich die Frage stellt, ob die beiden Stücke ursprünglich zusammengehörten oder erst später zusammengefügt wurden, da zu tungustischen Gewändern typischerweise ein Brustlatz gehörte.

Die Bezeichnung Tungusen war im 18. Jahrhundert gebräuchlich und umfasste nomadisierende Völkerschaften im östlichen Sibirien. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde dazu übergegangen, die Eigenbezeichnungen der Völker zu übernehmen, sodass man heute eher von Ewenken, Ewenen, Solonen, Negidalen und Oroken sprechen würde, als diese Gruppen zusammenfassend als Tungusen zu bezeichnen. Woher der Begriff Tungusen stammt, ist bislang ungeklärt (Forsyth 1992, S. 49), wenngleich als gesichert gilt, dass das Wort weder der russischen noch der ewenkischen Sprache entlehnt ist (Levin und Potapov 1964, S. 621).

Russland als Vielvölkerreich

Sibirien war zum Zeitpunkt der russischen Eroberung zwar nur sehr dünn besiedelt, aber bei Weitem nicht menschenleer. Die einzelnen Ethnien lebten weit voneinander entfernt in kleinen Gruppen, die riesige Territorien benötigten, um ihr Überleben zu sichern. Zu den wichtigsten Wirtschaftsformen der indigenen Gruppen Sibiriens gehörten damals die Jagd auf Landtiere und Rentierhaltung im Landesinneren sowie die Jagd auf Robben, Walrosse und Wale an den Küsten. Hinzu kamen Fallenstellerei und Fischfang.

Nach der russischen Eroberung wurde die einheimische Bevölkerung gezwungen, eine Pelzsteuer an den Zaren zu entrichten (= jassak). Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, nahmen die Kosaken Geiseln (= amanaty) und hielten sie in ihren befestigten Siedlungen (= ostrogi) gefangen. Das Wohlergehen der Geiseln war fortan von den regelmäßigen Pelzlieferungen der Angehörigen abhängig. Mit dieser grausamen Art der Steuereintreibung sollte verhindert werden, dass die jeweiligen Ethnien sich in die Weiten Sibiriens zurückzogen, um den Tributzahlungen auszuweichen.


Abb. 2 Kleidungsstück, „Tungusen“. Material: Leder, Stoff. Maße: 98 × 150 cm. Ethnologische Sammlung der Universität Göttingen, Slg. Asch – As 47 (Foto: Harry Haase).

Heute macht die indigene Bevölkerung Sibiriens nur noch ca. 4 % der Einwohner aus. Seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts werden die Ethnien des nördlichen Sibirien zusammenfassend als die „Kleinen Völker des Nordens“ bezeichnet. „Klein“ bezieht sich hierbei auf die sehr geringen Bevölkerungszahlen, die zwischen wenigen Hundert und ungefähr 35.000 liegen. Selbstverständlich gibt es – vor allem im südlichen Sibirien – noch sehr viel größere Bevölkerungsgruppen, wie beispielsweise Sacha (Jakuten) und Burjaten. Die Sprachen der sibirischen Ethnien werden folgenden Sprachgruppen zugeordnet: finno-ugrisch, tungusomandschurisch, türkisch, mongolisch und paläoasiatisch. Bei den paläoasiatischen Sprachen handelt es sich allerdings nicht um miteinander verwandte Sprachen. In dieser Gruppe werden jene Sprachen zusammengefasst, die sich keiner der größeren Sprachfamilien zuordnen lassen.

Gelehrte mit Perücke und Puder am Rand der bekannten Welt

Alle Teilnehmer der Expeditionen, die über Land nach Kamtschatka oder Tschukotka reisten, kamen unterwegs mit Tungusen in Kontakt, da sich ihr Lebensraum über ein riesiges Gebiet erstreckte, von der Wasserscheide zwischen Ob und Jenissei bis an die Küsten des Ochotskischen Meeres. Auch war die Bevölkerungszahl mit circa 36.000 im 17. Jahrhundert vergleichsweise hoch (Forsyth 1992, S. 48).

Erste ausführlichere Beschreibungen der Lebensweise der Tungusen verdanken wir zwei Teilnehmern der sogenannten „Zweiten Kamtschatka-Expedition“. Diese stand, ebenso wie die erste, unter dem Oberkommando von Vitus Bering und dauerte insgesamt zehn Jahre (1733–1743). Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften waren an dieser Expedition einige Gelehrte beteiligt. Unter ihnen waren der Historiker Gerhard Friedrich Müller und der Naturkundler Johann Georg Gmelin. Sie beschrieben unterwegs neben Flora, Fauna, Bodenschätzen, Siedlungen, Flüssen, Gebirgen und archäologischen Funden auch die einzelnen Völkerschaften, denen sie begegneten. In diesen Völkerbeschreibungen unterschieden sie zwischen „sitzenden“, d.h. sesshaften Tungusen, deren Lebensgrundlage Jagd und Fischfang waren, Rentiertungusen, die von Rentierhaltung und der Jagd auf wilde Rentiere lebten sowie Pferde- bzw. Rindertungusen, die zwar auch von der Jagd lebten, aber zusätzlich noch Pferde oder Rinder hielten. Die Pferdetungusen am Fluss Argun wurden auch als Solonen bezeichnet.

Gerhard Friedrich Müller über die Kleidung der Tungusen

Als Beispiel einer frühen Völkerbeschreibung aus einer Zeit, noch bevor es das Fach Ethnologie an den Universitäten gab, sei hier eine längere Passage aus Gerhard Friedrich Müllers ‚Beschreibung der sibirischen Völker‘ (1736–1742) zitiert, in der er sich mit der Kleidung einer Gruppe von Tungusen beschäftigte:

„Odinjami ist bey diesen Tungusen die eintzige Leib-Kleidung im Sommer, welcher im winter auch nur eine respondiret. Bestehet aus jungen Rennthiers Fellen (odindri), das rauhe auswendiq, auf denen Schultern, um die Hüffte, und rund umher mit schwartzen und weissen eingeflikten Streiffen. Von anderen Rennthiers fellen nach eines jeden belieben geZieret. Schliesset sich vorne nicht gantz Zusammen, sondern wenn man es allein anZiehen sollte, so würde die Haut auf 2 Hande breit Bloß Bleiben. Ist hinten etwas Länger als Vorn. gehet in allem nicht gar Bis auf die Knie. Enge Ermeln.

Unten rundherum sind Frangen [Fransen]. Von weißen Pferde Mähne[n] oder Ziegen Bärten welche sie von denen Rußen einTauschen oder von denen langen Haaren so denen Rennthieren unter dem Halse wachsen auf eine gute Handbreit […], und dar-Zwischen Röthlich gefärbte Haare, die denen Rennthieren inwendig an denen Hufen wachsen, welche aber nur etwan halb so Lang sind. […]

Urúptun, Tungusischer Brustlappen hänget vom Halse über die brust herab, reichet Bis über die Hosen-, und ist auf 2 bis 3 Hande breit. Er wird unter dem vorigen odiniami getragen, und das Odiniami wird über dem Uruptun vorne auf der brust und dem bauche mit Riemen Zugebunden.“

(zit. nach Hintzsche 2010, S. 171f., für bessere Lesbarkeit leicht verändert)

Müller fertigte möglichst genaue Beschreibungen der Kleidungsstücke an und verwendete dazu auch die indigenen Bezeichnungen. In der zitierten Passage beschreibt er unter anderem den typischen Brustlatz, der in dieser Form bei den anderen von ihm beobachteten Völkern nicht vorkam. Wie Müllers Völkerbeschreibung und die wachsenden Sammlungen der Kunstkammer (das erste noch von Peter dem Großen gegründete Museum in Russland) zeigen, war die wissenschaftliche Neugier im 18. Jahrhundert auf das Fremde und Andersartige ausgerichtet. Dies wird auch in einer Anleitung zur Völkerbeschreibung deutlich, die Müller im Jahr 1740 für seinen Nachfolger verfasste. Dieses Dokument gilt heute als wichtiger Meilenstein für die Herausbildung des Fachs Ethnologie (Bucher 2002, Vermeulen 2015).

Die Entdeckung des Nordpazifiks

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