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Kapitel 8 - Odas Sohn

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Stockfinstere Nacht. Tiergeräusche, das Bellen von Füchsen, der Schrei von Käuzchen, deutliches Knacken im Unterholz von Schwarz- oder Damwild.

Obwohl Ibn den Esel im Schritt gehen ließ, sprang und hopste der Karren über den Hohlweg, der entlang des Wasserarms führte. Tief neigten sich Pappeln über schwarzes Wasser. Das Knistern und Knacken im Gehölz dauerte fort. Ibn schien es, als ob sich dort in dem düsteren Horst unbekannte Gestalten tummelten, die ihn begleiteten, obgleich sich augenscheinlich nichts bewegte, zumindest nicht sichtbar. - Der Arzt schaute sich häufig um, ob das Körbchen mit dem Bündel darin, das dort auf dem Stroh lag, auch noch dort stand. Nur schemenhaft konnte Ibn seine kostbare Fracht in der Dunkelheit erfassen. Waren die seitlichen Bracken auch hoch und fest, so hätte das Körbchen doch hinaushüpfen oder durch herabhängende Zweige vom Karren gefegt werden können.

In der Ferne blinkte schwaches Licht. Hoffentlich das Kloster! Manchmal kam die Mondsichel hinter fliehenden Wolken hervor. Ibn hielt inne und starrte auf das ferne Licht. Nun zeichnete sich im blassen Mondschein ein Schattenriss ab. Ja, das Prämonstratenserkloster Aland. Er trieb den Esel voran. Weit konnte es nicht mehr sein. Hasen querten im Zickzack den Weg als der zweirädrige Karren nahte. Der Hohlweg weitete sich endlich zu einem mit zerfahrenen Muscheln befestigten Wegstück. Laut knisterten die berstenden Muschelschalen in die Stille. Schließlich erreichte der Arzt die Furt, die hinüber zum Kloster Aland führte.

Trotz des scharfen Seewindes, der ihm die Kapuze vom Kopf riss, wurde Ibn heiß, seine Handflächen feucht vor Aufregung. Das flackernde Licht in der Ferne erlosch. Ist wohl eine Fackel gewesen. Minutenlang starrte der Wundarzt auf das Kloster. Gab es Bewegung? Nein, nichts rührte sich, still und friedlich lag es da.

Im Gehölz krächzten Krähen, Zweige knackten. Mit einem unerklärlichen Gefühl von Beklemmung, trieb Ibn den Esel auf die Furt. Da riss vollends die Wolkendecke auf und das Mondlicht eröffnete ihm einen Blick auf die stolze Klosteranlage.

Im Osten begann es schon zu tagen. Ibn wandte sich dem Bündel in seinem Karren zu. Leises Wimmern. - Weiter, nur weiter. Er ließ die Zügel leicht auf den Eselsrücken klatschen. Die zierlichen Hufe patschten in das seichte Wasser. Wasserwanzen reflektieren das Mondlicht. Brav tastete sich das Tier voran. Plötzlich rutschte der Karren seitlich weg. Laut trompetete Eselsschrei in die Morgendämmerung. Aus dem Bündel drang herzergreifendes Greinen. Der Karren schwamm auf, Ibn entledigte sich seines Umhangs, stieg ins eiskalte Wasser, packte das Zaumzeug und zerrte das Tier zurück auf die Furt. Der Karren schwankte, seine beiden Räder gruben sich tief in den matschigen Grund. „Hü, hü, lauf, mein Guter, lauf, mein Guter. Nachher gibt’s gutes Heu“, rief Ibn, der die Angewohnheit hatte, mit den Tieren zu reden.

Zu Fuß führte er das Gefährt die Uferböschung hinauf. Unmittelbar vor dem Tor ließ er den Esel wenden und anhalten. Nass und kalt klebten die Beinkleider an ihm, er warf sich den Mantel über, nahm behutsam das verschnürte Bündel aus dem Korb. Ob es Schaden genommen hatte? Obwohl nicht direkt ins Wasser gefallen, war der geplagte Säugling platschnass. Eine Weile wiegte er das Kind im Arm, bis es sich beruhigt hatte. Hier, bei den Schwestern vom Kloster Aland, würde der “Kegel“, das uneheliches Kind der Leibeigenen, gut aufgehoben sein. Behutsam öffnete er die Lade neben den Tor, legte den Säugling und ein Dokument hinein, das besagte, dass der Knabe Odo genannt und von edlem Blut sei. Dann betätigte er mehrmals heftig den Glockenstrang. Ohne abzuwarten, ob sich jemand näherte, um zu öffnen, sprang Ibn zurück auf den Bock. Die Schwippe klatschte auf den Eselsrücken und die Hufe patschten erneut in das aufspritzende Wasser der Furt. Ein Blick zurück.  Hinter den Klostermauern warfen jetzt tanzende Lichter ihren Schein zum Himmel.

„Hoja! Ho! Ho!“ rief Ibn und trieb den Esel gnadenlos an. Endlich war das andere Ufer erreicht! - Allah sei Dank! - Das Eselsgefährt holperte ratternd zurück in den Hohlweg. Hinter ihm schloss sich das Nebel hauchende Gehölz.

Im Herbst 1389 fanden am Schloss Aurichhove Bauarbeiten statt. Was da erstehen sollte, wusste Foelke nicht. Widzelt hatte es großartig als Überraschung angekündigt. Als sie sah, das eine Art Vorturm am Prunksaal angebaut wurde, dachte sie verdrießlich: Na, das mag was werden!

Der Vorbau reichte von der Dachkante bis hinunter zum Wassergraben. Und ganz oben verschwand darin der Wasserspeier. Dessen Regenergüsse würden von nun an durch den Vorturm geleitet und unten am Graben wieder austreten, erklärte der Baumeister.

Was das denn wohl für einen Nutzen habe, fragte sie Widzelt. - Oh, wie der sie voller Begeisterung ansah! - Damit solle seine neue Erfindung automatisch bei jedem Regen gereinigt werden, strahlte er. Ähnliches habe er in Italien gesehen. Das mindere ganz enorm jeglichen unangenehmen Geruch. „Und wenn es nicht regnet, dann schüttet man halt einen oder mehrere Eimer Wasser nach“, verkündete er selbstsicher.

Konsterniert schüttelte Foelke den Kopf. Was für ein Geruch?

Widzelt wies stolz auf den Erker. In Höhe des Prunksaales im ersten Stock wurde der Vorbau mit einem wunderschönen Fenster aus venezianischem Glas versehen. Die roten Scheiben, verziert mit dem goldenen Adler, hatten zwar ein Vermögen gekostet, aber diese Ausgabe habe sich gelohnt, meinte Widzelt gut aufgelegt. Sie zuckte verstört die Achseln. Bald jedoch sollte sich das Rätsel lösen, denn parallel wurden die Umbauarbeiten im Prunksaal abgeschlossen. Unter dem ’Rubin-Fenster‘ entstand eine Falltür.

Nun wurde dort der neue, mit Schnitzwerk verzierte Häuptlingsstuhl aufgestellt. Auch diesen hatte Widzelt nach seinen speziellen Vorstellungen anfertigen lassen. Im Grunde genommen war ein überdachter Thron daraus geworden. Anstelle des Baldachins hatte der Stuhl ein Spitzdach. Ein hoher, schlanker Schrank ohne Vordertür, aber mit Sitzkasten und der Möglichkeit, jederzeit die Falltür zum Abort öffnen zu können.

Der entsprechend präparierte Häuptlingsstuhl versetzte den Vorsitzenden der Ratsversammlung in die Lage, in diesem Fall Widzelt, sich allewegs erleichtern zu können. Dafür musste er nur einen Hebel ziehen, um die Falltür zu öffnen und schon konnte er still und leise sein “Geschäft“ verrichten und danach den Abort wieder verschließen. Natürlich musste auch seine Kleidung entsprechend angepasst sein.

Widzelt war von seiner neuen Errungenschaft entzückt wie ein halbwüchsiger Bub, während Foelke diesen “Kapuzenstuhl“ fürchterlich geschmacklos fand und als Witz der Nation bezeichnete. Auch Widzelts Erklärung, dass man in der Hansestadt Hamburg im Schutze eines weiten Mantels sein “Geschäft“ auf offener Straße über Eimern verrichten könne, die zumeist von Frauen durch Gassen und Straßen getragen würden, konnte Foelke mit Widzelts neuer “Schöpfung“ nicht versöhnen. Sie blieb bei ihrer Meinung.

Dass Widzelt bestrebt war, sich während der Sitzungen zu erleichtern, hielt sie für eine Nichtachtung des Rates, auch wenn er meinte, die Ratsherren damit „unter Druck“ setzen zu können.

„So etwas ist für alte Männer da, die krank sind und nichts bei sich halten können. Du aber bist jung und gesund und kannst wohl eine Unterbrechung empfehlen, wenn dir danach ist.“

Er aber lachte sie aus und sagte nur: „Bier ausschenken und keine Pause zulassen! Ha, da solle wohl der härteste Gegener schwach werden. Im übrigen: Viele Fürsten haben so etwas. Denk dir, ich wär der Kaiser, der hat auch solch einen Kaiserstuhl.“

„Du bist aber nicht der Kaiser, nur der Verwalter für Keno.“

„Immerhin, das ist ja schon mal ein Anfang“, scherzte Widzelt. „Vielleicht gesteht unser Herrgott mir ja eines Tages höhere Weihen zu.“

Höhere Weihen! Wie kommt er darauf? Er ist doch nur der Verweser bis Keno erwachsen ist, dachte Foelke ärgerlich.

Der Mai war in diesem Jahr relativ kühl und nass gewesen und daher fiel die Ernte in diesem Jahr recht üppig aus. Die Menschen freuten sich und dankten glücklich für den Segen Gottes. Daher veranstalteten die Bauern nach erfolgreicher Einfuhr der Feldfrüchte reichlich viele Bosselwettkämpfe, Pferderennen ohne Sattel und lustige Geschicklichkeitsspiele mit ihren Ochsengespannen auf den Stoppelfeldern.

Zur Erntefeier gab es dann jedoch die traditionelle Erntedankprozession am Tage Michaelis (29. September), an welcher Junker Keno erstmalig als Landesherr teilnahm. Der Bub badete gleichsam im Jubel der Bevölkerung.

Gleich hinter der mit Gold und Perlen geschmückten Statue der Jungfrau Maria und den heiligen Jakobs-Reliquien wurde er im Geleit von Burgknechten in einer offenen Sänfte zum Dom von Sankt Marien getragen.

Trotz des Schwankens über der wogenden Menge auf dem Tragstuhl, winkte Keno artig seinen Untersassen zu. Manchmal, wenn es ihm gar zu bunt wurde, rief er den Trägern grimmig zu, sie möchten gefälligst nicht so sehr mit dem Tragstuhl herumhampeln. Aber das nützte nichts. Sie lachten nur und machten sich einen Spaß daraus, den Junker durchzuschütteln, bis er ganz grün im Gesicht wurde.

Die Männer, welche die Jungfrau Maria auf der großen Bahre trugen, wechselten einander nach bestimmten Strecken ab. Die Anstrengung stand ihnen ins Gesicht geschrieben, der Schweiß rann in Strömen, denn das war eine ziemliche Plackerei. Aber niemand hätte es sich nehmen lassen, die Jungfrau tragen zu dürfen. Auch Widzelt war unter ihnen, der Tradition folgend. Zwischendurch gab es als Stärkung Dünnbier und Gebäck für die tatkräftigen Kerle und während die Messbuben eifrig die Weihrauchampeln schwenkten, segnete der Kaplan die Felder.

War das ein Trubel! Mit Klang und Sang schob sich der Zug mit geschmückten Ackerwagen und bekränztem Vieh langsam durch Wiesen, Äcker und Wald zurück zum Dom. Der Einmarsch in St. Marien glich einem Triumphzug.

Weil Keno noch zu klein war, um die Statue mittragen zu können, kam ihm eine andere Aufgabe zu. Er musste am Dom von St. Marien symbolisch die Jungfrau reinigen, was er mit großem Stolz verrichtete. Wie der Bub mit Wurzelbürste und Wasser der Jungfrau zu Leibe rückte, das war wirklich goldig und es gab wohl keinen, der nicht – zumindest insgeheim - darüber lachte.

Als der Abendwind kühl über die gesegneten Felder pfiff, trafen sich die Menschen in den Schänken. Sie frönten der Unterhaltung in jeder Form. Manche lieferten sich regelrecht einen Kampf um die besten Plätze an den Schanktischen.

Widzelt aber hatte bei der Prozession die Maid aus Kawen getroffen und vergnügte sich mir ihr. - Oda, so berichtete Widzelt wenig später, habe beteuert, kein Kind zu haben. Da schien es Foelke, als fiele ihr ein riesiger Felsbrocken vom Herzen.

Die Tage wurden derzeit deutlich kürzer. Seit längerem taumelten dürre Blätter zur Erde. Der heiße, trockene Sommer forderte seinen Tribut. Nun aber sammelten sich in gewaltigen Schwärmen Millionen von Zugvögeln. Zehntausende Gänse, Enten, Schwäne und andere Zugvögel rauschten ein. Viele Vogelarten blieben Winters hier und nahmen Quartier, so der Frost nicht zu heftig wurde und zum Weiterfliegen zwang.

Das Jahr neigte sich seinem Ende zu und Foelke nahm mit Hingabe das Welken der Natur wahr, den Duft des Herbstes. Der Herbst hat einen ganz besonderen Geruch nach Pilzen und Verwesen, nach reifen Äpfeln und Pflaumen. Gleichwohl genoss Foelke ebenfalls mit all ihren Sinnen das Wachsen des neuen Lebens unter ihrem Herzen und sah mit Freude ihren Leib sich runden.

Voller Tatendrang nahm Widzelt die umfangreichen Obliegenheiten seines Landes wahr. Dazu gehörte selbstverständlich auch die Prägung neuer Münzsätze. Das brachte ihn in eine prekäre Lage, aber er wollte und konnte Foelke nicht von der Planung ausschließen und so entschied er sich schweren Herzens, sie einzubinden.

Mit Kohlestift und Lineal bewaffnet, eilte er zu ihr und bat um einen Bogen Papier. Ja, den hatte sie noch. Interessiert fragte sie nach, für welchen Zweck er denn das benötige. Das Papier war sündhaft teuer und Foelke rückte es ungern heraus. Konnte er nicht die Schiefertafel nehmen?

Widzelt griente verlegen: „Es ist ein Graus! Wir müssen neue Münzen prägen lassen.“

„Setz dich.“

Sie wies auf den Binsenhocker neben sich. Aber er stellte einen Fuß darauf, den Ellenbogen aufs Knie gestützt, beugte sich zu ihr hinunter. Ganz nah war er ihr. Sie konnte die warme Ausstrahlung seiner Haut, seinen männlich-herben Geruch wahrnehmen. – Zu nah war das, viel zu nah. Diese Nähe bewirkte jene gewisse Intimität, die sie immer zu vermeiden suchte, aber er... Heilige Jungfrau, dachte Foelke, was hat er für lange Beine! Schöne lange Beine… und - oh Gott! - Unübersehbar sein Verlangen, sein Hunger nach mir…

Widzelt bemerkte ihren entsetzten Blick, nahm den Fuß herunter und lachte: „Was guckst Du so? Ich bin ein Mann, kein Kind. Wußtest du das nicht?“

„Äh, ja, natürlich, natürlich…, ich denke nach, Widzelt. Ich habe mir darüber auch schon Gedanken gemacht“, meinte Foelke.

„Über meine Männlichkeit?“

Ihre bezaubernden grünen Augen weiteten sich: „Äh, ja, nein, ich meine, ich denke…, die Münzen, meine ich. Die Münzabkommen mit unseren benachbarten Münzständen müssen erneuert werden, damit sie sich verpflichten, auf Nachahmungen oder Beischläge zu verzichten. Du wirst wohl erst einmal neue Münzen entwerfen müssen und dem Grafen vorstellen. Das heisst, Muster von den neuen Münzen..."

Widzelt seufzte, schlang die Arme um sie, küßte keck ihre Wange und sie fühlte, wie er ihren Zopf durch seine Finger gleiten ließ, ehe diese zart über ihren nackten Oberarm fuhren. Und wie ihr das Blut zu Kopfe stieg, da wurde ihr ganz heiß vor Verlangen nach ihm. „Wär ich ein wilder Falke“, sang er in ihr Ohr, „ich wollt in deinem Nacken die rotgoldnen Flechten packen und wollt mich schwingen auf. Ich trüge dich im Fluge hinauf in Himmelshöh’n ins Liebesnest so schön…“ Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Nacken. „So hell ich aber singe, mein Lieb sich meiner schämt und mir die Schwingen lähmt.“

Foelke erschauerte. Er besaß ein himmlisch schöne Stimme. Schon einmal war ihr eine ähnliche Stimme begegnet. – Riemenschneider? Nein, Angelo… Angelo, der schwarze Ritter… Ob er das Singen bei Angelo gelernt hat?

„Sich deiner schämt? Warum sollte ich mich deiner schämen? Du bist mein Liebster nicht.“

„Ich wäre es aber gern. Verlangen kann manchmal heftig sein“, flüsterte er an ihrem Ohr, „meinst du nicht auch?“

Mit einer raschen Bewegung warf Foelke den Kopf zurück: „Verlangen, Widzelt! Verlangen ist des Teufels Mistgabel. Ist es nicht so? - Lass das Widzelt. Ich bitte dich, lass das. Ich brauche…, ich habe… ich bekomme ein Kind, ein Kind von Ocko.  Zeit, Widzelt, ich brauche Zeit, ganz viel…“

„Sch…“ Er legte seinen Zeigefinger auf ihren Mund. „Gleichgültig, wieviel Zeit du willst, ich warte, bis…“ Er schickte sich an, seinen Finger zwischen ihre Lippen zu schieben. Schon schmeckte sie das Salz seiner Haut…

Da bellte auf dem Flur ein Hund.

Aufmerkend schüttelte Foelke seine Hand ab: „Widzelt! Ich verstehe dich nicht!“ fauchte sie mit blitzenden Augen. Deo gratias! Dem Himmel sei Dank, beinahe… Heilige Jungfrau, beinahe hätte ich etwas getan…, hätte er etwas getan… hätten wir…

Irritiert kramte sie nach alten Entwürfen von Ocko und fand nach einigem Suchen einen Satz Münzzeichnungen.

„Hier, Widzelt,“ ihre Stimme zitterte, wie er mit Genugtuung feststellte, „die Entwürfe hat Ocko noch gemacht. Ich weiss doch, dass du für dererlei Dinge keine Ader besitzt. Dafür braucht es eine ruhige Hand. Du kannst in Anlehnung daran, neue Münzen gestalten. Am besten ist es wohl, du gehst zum alten Münzmeister von Norden. Er soll dir Muster schlagen. Muntefering hat das für deinen Vater damals auch gemacht."

„Und dann?" Er schaute sie mit großen Augen an und um seinen Mund zuckte ein vielsagendes Lächeln.

Oh ja, sie wußte, was das zu bedeuten hatte. Er fühlte sich schon fast als Sieger. Sie ignorierte sein Mienenspiel geflissentlich, schaute rasch weg. Aber es fiel ihr beileibe nicht leicht. Der Junker besaß eine Ausstrahlung, der sie kaum widerstehen konnte. Sie lenkte ab: „Du musst dich damit an die Hanse wenden. Der Wendische Münzverein regelt das für uns, Widzelt. Du schickst Muster mit einem Begleitbrief dorthin und alles weitere machen sie für uns."

„Dank dir.“ Widzelt hauchte einen Kuß auf Foelkes Mund und zog ab. – Ein schönes Gefühl, geküsst zu werden. Ach, Ocko, du fehlst mir so sehr! - Sie fuhr zart mit den Händen über ihren schwellenden Leib.

Der Krieg hatte viel zerstört, was wieder aufzubauen war. Zudem war das neue Abkommen mit dem Grafen von Holland nicht so günstig wie der Lehnvertrag, den Ocko einst abgeschlossen hatte. Widzelt musste Leute unter Waffen halten. Das kostete ungeheuer viel Geld, denn es war nicht getan mit einer schnöden Axt. Er mußte die Kosten für Wurf- und Schusswaffen tragen, für Rammböcke und dergleichen. Um die anstehenden hohen Ausgaben schultern zu können, musste Widzelt dringend einen Ausweg finden.

Zuvörderst aber ging er daran, Graben und Burgmauern wieder herrichten zu lassen. Auch mussten die Bäche zurück in ihr altes Bett geleitet werden, damit das Wasser die Gräben füllen konnte.

Die Brustwehr, der obere Abschluss der Wehrgänge, musste ringsum erneuert werden, ebenso die zertrümmerten Tore. Überdies hatten die Burgmannenhäuser sehr gelitten unter Bombarde und Steinschleuder. Manche waren nur noch Schutt und Asche.

Gut, dass Fellenstein noch auf der Burg weilte, denn der kannte sich aus mit Bauwerken, schlichten wie auch prachtvollen. Er erhielt den Auftrag zum Ausbau der Wehranlagen und Verschönerung des Schlossgebäudes. Hatte Ocko auch großen Wert auf repräsentative farbige Verzierungen und Ornamente gelegt, so gab es doch immer noch genug zu verbessern.

Zusätzlich ließ Widzelt von Baumeister Fellenstein einen schönen Treppengiebel vor die Fassade setzen, solch einen wie er in Königsberg gesehen hatte.

Im Zwinger, dem Gelände zwischen Kernburg und Mauer, wurde ein Parcham, ein Burggarten, mit Obstbäumen, Rosen und Lilien angelegt. Auch verschiedene Kohl- und andere Gemüsearten sowie Kräuter für medizinische Zwecke wurden hier angebaut.

Das Beet mit den lila Herbstkrokussen - zur Safrangewinnung – musste umgesetzt werden, weil es zu wenig Sonne bekam. Eine Handvoll Zwiebeln hatte Ibn, der Arzneihändler, aus Spanien besorgt, und Ibn wusste auch, wie man sie anpflanzt und vermehrt. Er selbst hütete die Anpflanzung wie seinen Augapfel. Das war seine Passion, da durfte ihm keiner dreinreden. Im vergangenen Jahr hatte jemand all die Krokusse abgeknickt. Oh, da war Ibn nicht nur böse, sondern abgrundtief traurig. Er weinte sogar angesichts der Verwüstung und tagelang hörte man seine Schimpftiraden: „Krokusknicker! Krokusknicker! Ich bringe ihn um! Wenn ich den erwische! Wer war der Krokusknicker? Ich erwürge ihn!“

Keno lief damals mit einem Gesicht herum wie Drei-Tage-Regenwetter. Foelke wußte sofort, dass ihr Filius der “Krokusknicker“ gewesen war, aber Ibn erfuhr nichts davon und somit konnte er auch keinen Mord begehen.

Die neuerliche Gemüsezucht im Burggarten veranlasste Widzelt, sich rohe Gemüseblätter und -stücke, mit flüssiger Butter, Essig, Dill und anderen Gewürzen zubereiten zu lassen. Er liebte diese Speise, denn es erinnerte ihn an Italien und den Hof von Neapel, und er nannte diese von dort übernommene Zubereitung einen 'lukullischen' Hochgenuss. Foelke war nicht so begeistert davon. Sie meinte, das sei ungesund und aß lieber gekochtes Gemüse.

Auf einem anderen Abschnitt des weitläufigen Burggeländes ließ Widzelt einen kleinen Tiergarten einrichten, in dem er einen riesigen Braunbären hielt, aber auch Hirsche, Rehe und Wildschweine. Das war sehr praktisch, weil man stets auf das dortige Wild zugreifen konnte. Nebst Falknerei gab es dort einen Taubenschlag und Volieren für Pfauen und andere exotische Vögel.

Widzelt blieb wenig Muße zu Jagd und Vogelfang. Er ertrank nahezu in Arbeit. Er musste den Deichbau überwachen und dafür Sorge tragen, dass die Leute ihre Waffen ordentlich überholten oder auch neu anfertigen ließen, die Kontrolle der Vögte und Steuereintreiber, des Baumeisters und des Waffenschmieds, dazu kamen die Übungsstunden mit Focko Ukena und die häufigen Reisen durch seine Herrlichkeit und zum Haag. Sicher konnte er vieles delegieren, trotzdem blieb er in letzter Instanz selbst in der Pflicht.

Auch kosteten ihn die Gerichtssitzungen und alle übrigen Aufgaben, mit denen er sich befassen musste, unendlich viel Zeit. Der Graf hatte das Recht, einmal jährlich die Gerichtssitzung selbst zu führen, um schwierige Landesfragen zu klären. Er verzichtete aber darauf, so dass Widzelt - natürlich nach vorheriger Absprache – nahezu unumschränkte Gewalt ausüben konnte.

Außerordentlich lästig, manchmal aber auch urkomisch, waren für Widzelt die gerichtlichen Verhandlungstage. Überwiegend ging es dabei um Prügeleien, Grenzstreitigkeiten, Betrug und kleine Diebstähle, selten um etwas Größeres wie Totschlag oder Mord.

Einmal hatte ein Handwerker unerlaubt ein Schild aufgestellt. Das Schild wurde ausgegraben und weggebracht. Nun beschwerte sich der Mann darüber bei Widzelt.

‚Ja, du durftest das Schild nicht aufstellen', beschied ihm dieser, ‚denn es stand auf eines anderen Menschen Grund und Boden.’

‚Ich weiß, aber man hat es mir geklaut!'

‚Da hast du Recht, das durfte nicht geschehen. Aber woher sollte der 'Dieb' denn wissen, wo das Schild abzuliefern sei?'

‚Da hätte er doch nur dem Schild nachgehen müssen, das war ein Wegweiser.'

Widzelt lachte herzlich darüber und veranlasste, dass das Schild am nächsten Tag zurückgebracht wurde, aber aufstellen durfte der Handwerker es nur an anderer Stelle.

War Widzelt auch lediglich der bestallte Verwalter, so besaß doch er die Macht und kein anderer. Foelke, ja, die durfte auch mitreden, aber… eine Frau! Sie war mehr oder weniger nur für die Erziehung der Kinder zuständig und auch das mit Einschränkungen. Herzog Albrecht hatte Widzelt deutlich gemacht, dass kein anderer als er sein volles Vertrauen besaß, er und in gewisser Weise auch Ritter Ockos hinterbliebene Gemahlin. Widzelt solle diese aber leiten, so die Weisung des Herzogs, denn, sobald es sich um Familiengut handelte, galt stets der Vorrang der Schwertseite. Das war überall anerkannte Regel und so war es auch vom Herzog vorgesehen und auch Foelke akzeptierte diese Ordnung ohne jeglichen Einwand.

Der Herzog hatte Widzelt das alles gebührlich dargelegt und ließ verlauten, dass er schließlich aus einem belangreichen Geschlecht stamme. Das eröffne ihm “Möglichkeiten“. Widzelt hätte gern noch nachgefragt, welche Möglichkeiten sich denn wohl ergeben würden und welches “belangreiche“ Geschlecht der Herzog denn meine, das seines Vaters oder jenes seiner Mutter. Albrecht aber, der intuitiv wusste, welche Fragen Widzelt auf der Zunge brannten, vermied es, darauf einzugehen. Oder konnte er es gar nicht? Vielleicht war es gerade jetzt nicht opportun, Widzelt über seine mütterliche Herkunft aufzuklären? Diplomatisch geschickt unterdrückte der Herzog Widzelts Fragen, indem er mit dem Lehnbrief “winkte“. – Seine Gnaden war ein Fuchs! Es war immer wieder faszinierend, wie er seine Probleme meisterte und die Schwächen der Gegner als amtierender Graf von Holland, Hennegau und Seeland ebenso wie als Herr von Friesland und Herzog von Bayern nutzte. Diplomatie stand ihm ins Gesicht geschrieben. Manchmal äußerst delikat, wie klug er agierte. Ehe seine Gegner es überhaupt bemerkten, lagen sie im Hintertreffen und Albrecht konnte triumphieren. Das aber tat er dann eher unauffällig.

Bedauerlich für Widzelt, dass der Graf ihn herumrätseln ließ, gleichwohl aber stärkten dessen Worte Widzelts Ego. „Aus einem belangreichen Geschlecht…“ Das spukte von nun an in seinem Kopf herum. Oh ja, belangreich war sein Geschlecht. Ein Geschlecht eifriger Kreuzfahrer und Heerführer, welches nicht ohne Grund den Adler im Wappen trug und die Lilie der Mutter Gottes.

Noch war kein Lehnbrief ausgestellt und beschworen, denn da gab es diese kleine, aber gravierende rechtliche “Unstimmigkeit“: Widzelt war nicht lehnfähig! Das wusste er selbst und er wusste auch, dass er nur ein kleines Rädchen im großen Plan des Herzogs darstellte. Irgendwann aber würde er dieses zweckdienliche Dokument schon noch erringen, und wenn er ganz Friesland für den Herzog von Bayern unterwerfen musste!

Dem Herzog ging es jedoch nicht im Entferntesten um Widzelt, sondern lediglich um den Schutz seiner eigenen Interessen. Eine Hand wäscht die andere. Keno, der rechtmäßige Erbe, war zahlungsunfähig. Er war seit längerer Zeit den Zins schuldig geblieben, denn Folkmar Allenas Überfall auf Aurichhove hatte etliche Mittel geschluckt. Hinzu trat der Verlust an Besitztum in der Krummhörn, bedingt durch Ritter Ockos Tod.

Dazu hatte Triton, der „Strömende“, große Flutschäden an den Deichen verursacht. Im Reiderland war das Siel von Ockeweer herausgerissen worden. Eine gefährliche Sache!

Deicharbeiten erfolgten stets vom Frühjahr bis September durch die anliegenden Bauern. Aber dann mußten auch die Felder bestellt und die Ernte eingebracht werden. Eine Reihe von Hütten hatte Widzelt deswegen errichten lassen für die „Koyer“, angeheuerte auswärtige Tagelöhner. Koyer kosteten einiges an Geld, denn sie mussten nicht nur vom Landesherrn verpflegt werden, sondern bekamen für ihre schwere Arbeit auch gutes Entgelt.

Die moorastige Sohle des Deiches erhielt zunächst eine Schicht aus Weidengeflecht. Den notwendigen Klei holte man von weither. Er musste mit Schlickschlitten und flachbodigen Booten herbeigeschafft werden. Ebenso musste Sand für den Deichkörper herbeigeschafft werden und nicht zuletzt auch die Grasplaggen, um rasch eine schützende Außenhaut herzustellen.

Vielleicht hatte Satan seine Hand Spiel, denn als die größte Not überwunden war, suchten erneute Einbrüche und Überschwemmungen den Deichbau heim, so daß man sogar zeitweise die Arbeiten einstellen musste.

Darüber hinaus musste für das neue Schloss in Aurichhove die Staatstruhe geplündert werden und die neu errichtete Ockenburg bei Den Haag war schließlich auch nicht umsonst gewesen. Aber wo hätte Ocko sonst standesgemäß im Haag wohnen können? Die stolze Burganlage am Reichsweg zum Haag wäre ein guter Zwischenaufenthalt gewesen, aber Richter Hodenpijl, der Burgherr, sympathisierte augenscheinlich mit der Partei der „Hooks“ und die wiederum bevorzugte Wilhelm von Hennegau, Herzog Albrechts Sohn, und der stand in hartem Gegensatz zu seinem Vater. Aus diesen Gründen mußte Widzelt es sich gut überlegen, ob er die Einladung von Hodenpijl annahm, dort zu nächtigen. Widzelt durfte nicht durch einen unüberlegten Kontakt ins Zwielicht geraten, denn mit Herzog Albrecht konnte man sich’s leicht verscherzen. – Er brauchte ein repräsentatives Haus, das seinem Stand entsprach und das musste erst einmal gefunden werden. Alle Hofleute bewohnten rund um die Residenz des Herzogs ein nobles Stadthaus; wurde aber tatsächlich mal eines frei, dann ging es sofort in die Hände des nachfolgenden Beamten über. Fraglos brauchte Ocko eine standesgemäße Behausung in der Nähe der Administration, um seinen Aufgaben gerecht werden zu können und gelegentlich auch seine Familie mitnehmen und unterbringen zu können. Deshalb war es für ihn unumgänglich gewesen, die Ockenburg zu erbauen.

Zum anderen war seine Gnaden, der Herzog von Bayern, für Ritter Ockos Dienste in diplomatischen Missionen nach Frankreich bislang eine größere Summe schuldig geblieben. Insofern hatten sich die damaligen ehrenvollen Aufträge als großes finanzielles Verlustgeschäft entpuppt. Keno und seine Mutter befanden sich somit augenfällig in einer pekuniären Zwangslage, weil zu allem Überfluss darüber hinaus itzo noch das enorme Weihegeld für Bischof Heidenreich Wolf von Lüdinghausen (1381-92) entrichtet werden musste.

Alles Umstände, die Widzelt geschickt für sich zu nutzen gedachte, denn so lautete das Lehngesetz: “Erklärt sich kein Erbberechtigter aus der Verwandtschaft bereit, den schuldigen Dienst zu leisten, dann wird das Gut heimfällig.“

Das bedeutete, das Lehngut würde mit Gewißheit in die Hand des Grafen von Holland zurückfallen. Das galt es nicht nur auf jeden Fall zu verhindern, sondern beförderte Widzelt sogar in die überaus komfortable Lage, bequem seinen eigenen Anspruch geltend machen und auch durchzusetzen zu können. Mit ausreichend “Glück“ konnte es Widzelt sogar gelingen, diesen Anspruch gegen den rechtmäßigen Erben auch späterhin aufrechtzuerhalten, denn das Lehngesetz besagte ebenfalls: “Stirbt der Lehnnehmer, so fällt der Nachlass an die Verwandten“. Auch das hatte der Herzog bei ihrem letzten Zusammentreffen geäußert und dabei über Foelkes “reizende Naivität“ gewitzelt.

Wiederum gab es füglich auch Anlaß, minderjährige Erben zu schützen: "Stirbt der Inhaber eines Erblehens und hinterlässt als Erben ein Kind, das den schuldigen Zins und Dienst nicht zu entrichten vermag, und findet sich ein Anverwandter, der den schuldigen Dienst für das Gut leisten will, bis die Zeit des Erben kommt, so soll barmherzig gegen ihn verfahren werden, damit er nicht wegen seiner zarten Jugend sein Erbe verliere.“

Darüber blieb nachzudenken. Widzelts Finanzen waren nicht üppig genug, um die Entrichtung der fälligen Sterbefallsabgabe gegenüber dem Grafen sofort in voller Summe ausgleichen zu können, aber er konnte Graf Albrecht militärisch unterstützen und er konnte ihm vielleicht sogar jenes Lehngut verschaffen, welches dieser bisher nur urkundlich in Friesland besaß.

Zu diesem Zweck musste Widzelt allerdings eine größere Anzahl Helfer anheuern. Nun, das würde sich finden. Ad hoc hatte er schon eine fabelhafte Idee im Kopf. All das mochte letztendlich ausreichen, um den Herzog zu veranlassen, ihm den heiß begehrten Lehnbrief auszustellen. Und wenn das nicht helfen wollte, konnte er noch Fischereirechte verpfänden oder ein Stück Bannwald verkaufen.

„Herr von Norder-, Brookmer- und Auricherland“, klang das nicht grandios? Und mit Sicherheit konnte er noch einiges an Gütern in der Krummhörn zurückerobern und vielleicht das Harlingerland erringen, das Wangerland, das Rüstringerland. Da geriet Widzelt ins phantasieren, denn letzteres gehörte formell den Grafen von Oldenburg.

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