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Kapitel 12 - Widzelt als Feldherr

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Widzelt hatte vor Sechswochenfrist seine Mannen für die Strafexpedition nach Harlingen aufgeboten. Die Männer mussten mit Kniefall und Gelöbnis versprechen, dem Aufgebot zu folgen, und so versammelten sich diese verlässlichen Leute jetzt nach und nach auf den 'Wilden Äckern'. Jeder berittene Kämpfer hatte für sein Pferd, Ausrüstung und Futter selbst aufzukommen. Außerdem benötigte jeder Mann noch Schutzkleidung, eine lederne Gesichtsmaske, ein verstärktes Lederwams oder auch Kettenhemd, was sich aber nur die Reichen leisten konnten, sowie natürlich Waffen und Lebensmittel für sich selbst und die mitzuführenden Pferde.

Am Morgen des Aufbruchs stieg rot der Sonnenball aus wolligen Schäfchenwolken. Kraniche schwebten ein. Die eleganten Flieger landeten auf den Feuchtwiesen. Morgentau perlte glitzernd auf den Pflanzen. Von überall klangen Signale und verschreckten Vögel und Waldtiere. Klingendes Spiel erfüllte die Luft und doch, Entsetzen breitete sich unter der Bevölkerung aus. Es liegt in der Luft, wenn Unglück naht. Die Menschen fühlen es mit all ihren Sinnen.

Schon wieder Krieg? Aber warum brennen dann keine Feuerbaken?

Widzelt hatte das Ereignis zwar zuvor von allen Kanzeln, auf allen Märkten und öffentlichen Plätzen ankündigen lassen, aber trotzdem flüchteten die Menschen, erfasst von kaltem Grausen, in ihre Häuser. Daran konnten selbst Trommelwirbel und fröhlicher Pfeifenklang nichts ändern. Nur wenige Weiber, die Kinder fest an der Hand, lugten vorsichtig durch Zäune und Hecken, um heimlich von dort aus die kriechende Heeresraupe zu beobachteten. Werden sie plündern? Werden sie über uns herfallen?

Widzelt hatte gemeint, Foelke müsse dabei sein, wenn das Heer gen Harlingen auszöge, was sie denn auch, gleichwohl widerwillig, tat. Keno war nicht zu halten gewesen und sogar ausgebüxt zu den 'Wilden Äckern', um sich das Kriegsvolk anzusehen, so dass Foelke es sehr bedauerte, nicht mit den Kindern in Aurichhove geblieben zu sein.

Nicht lange, und sie standen auf den “Wilden Äckern“ Schulter an Schulter, fremde Söldner und Friesen. Sie alle erwarteten den Segen, denn heute sollte das Heer abziehen. Deo gratias! Denn das Kriegsvolk machte alles kaputt. Es zerstörte nicht nur die Felder, sondern wilderte, schlachtete, kochte und machte sonst was mit den Überresten, wenn sie nicht irgendwo im Graben landeten und Wölfe und Ungeziefer anlockten. In riesigen Wolken zeigten Brummer und sonstige Insekten schon von Ferne die Abfallhaufen an. Foelke fürchtete nicht ohne Grund eine Explosion an Ungeziefer. Schon im vergangenen Jahr hatte eine Zeckenplage unzähligen Rindern und Pferden das Leben gekostet. Als der Apotheker endlich eine stinkende Schmiere erfunden hatte, welche die Zecken abschreckte, waren schon etliche Tiere zu Tode gekommen – blutleer – ausgesaugt. Zum Glück konnte man die verendeten Tiere noch nutzbringend verarbeiten, wodurch der Schaden sich einigermaßen in Grenzen hielt. Die Felle wurden gefillt (abgezogen) und mit Urin und Eichenlohe gegerbt, das Leder fand reißend Abnehmer, und zwar nicht nur bei Sattlern, Schustern und Schneidern, sondern bei vielen anderen Handwerkern, denn Leder wurde in etlichen Gewerken verwendet wie zum Beispiel bei der Fertigung von Waffen, Rüstungen, Zelten, Wagen, Hausgerät und vielen weiteren Dingen... Das Fleisch der Tiere, wenn nicht mehr zum Verzehr geeignet, wurde im Viehkessel zu der heiß begehrten Seife gekocht, aus den Knochen wurde Leim und Knochenmehl gewonnen. Auch fand manches Stück Aas noch als Luder für die Jagd Verwendung und einige Abfälle dienten als Futter für Hunde, Hühner und Schweine. Der unverwertbare Rest wanderte in die Fillerkuhle. Dort wurde der Luderplatz von Rabenvögeln, Füchsen, Mardern und anderem Kleingetier aller Art gern besucht und also auch gereinigt. Was aber würde in diesem Jahr noch alles auf die Menschen zukommen? Das konnte bei Gott nichts Gutes sein und dabei stellte die zu erwartende Zeckenplage gewiß bei weitem das kleinste Übel dar.

Die Tamboure rührten ihre Trommeln und als die Trommelwirbel verstummten, wurde es mucksmäuschenstill.

Würdevoll betrat der Herr Feldkaplan das Feld, begleitet von zwei Meßbuben. So wie er sich aufreckte und gen Himmel blickte, sah man ihm an, dass er diese Pflicht und Schuldigkeit nicht zum ersten Mal erfüllte.

Ohne Umstände ergriff das Wort: „Herr, unserer Feinde sind so viele. - Herr, du bist unser Schild, du hebst unser Haupt empor. Ich rufe mit meiner Stimme zum Herrn, dass er uns erhöre und halte. Wir fürchten uns nicht vor vielen Hunderten, denn du schlägst unsere Feinde und zerschmetterst ihre reißenden Zähne.

Dein Segen komme über uns, Herr, und wir werden Frauen und Kinder, Schwache und Kranke verschonen in diesem Feldzug gegen den widerwärtigen Aybo Rambodisna!“ Effektvolle Pause – Jubel aus den Reihen des Kriegsvolkes. – „Ihr alle wisst, dass ihr sterben könntet und ihr seid trotzdem zur Stelle und bereit, Rache zu üben an Aybo Rambodisna. Der Herr wird euch schützen und regnen lassen über Aybo Rambodisna Feuer und Schwefel und Glutwind ihm zum Lohne geben. Gottes Gnade wird uns den Sieg schenken!"

Die Trompeter bliesen ihre Fanfaren - erneuter Jubel erfüllte die Luft. – Es folgte der Lobpreis Gottes, ehe der Feldkaplan die Kriegsteilnehmer zum Niederknien nötigte. Demütig folgten sie der Aufforderung, den Kopf über die zum Gebet gefalteten Hände geneigt. Zeremoniell segnete der Geistliche nun das versammelte Heer, zelebrierte zum Abschluss eine feierliche Messe und der Sommerwind wehte das gemeinsame 'Amen' weit hinaus über die 'Wilden Äcker' bis hin zu den wogenden himmelblauen Flachsblüten, die die Heeresraupe Gott sei Dank nicht zertrampelt hatte. Danach spendeten Kirchendiener jedem Kriegsteilnehmer die geweihte Hostie.

Mit weit tragender Stimme sprach der Feldkaplan ein letztes Gebet, bat demutsvoll um Gottes Beistand und Schutz: „Erhöre, Herr, unsere Bitte und segne uns, damit wir über die Grausamkeit des Aybo Rambodisna siegen."

„Erhöhöre! Erhöhöre! Erhöhöre!" ertönte das Nachbeten.

„Segne Herr, Heiliger Vater, durch Anrufung deines Namens und durch die Ankunft deines Sohnes, unseres Herrn, Jesus Christus, und durch die Gabe des Heiligen Geistes das Schwert, mit dem wir umgürtet sind, auf dass wir - mit ihm geschützt - durch keinen Kriegssturm in Verwirrung geraten, sondern in allem glücklich siegen und durch deinen Schutz immerdar unverletzt bleiben durch unseren Herrn Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir lebet und regieret in Einheit mit dem Heiligen Geist, Gott in alle Ewigkeit, Amen."

Anschwellend - wie das Brausen der Meeresbrandung - setzte sich das "Amen" durch die Reihen der Kriegsteilnehmer fort.

„So erhebet euch nun und lasset uns gemeinsam singen zum Lobe unseres Herrn!"

Bis ins Innerste bewegt, brauste Jubel durch die Heeresglieder und gemeinsam stimmten sie den Choral an: ‚Mitten im Leben sind wir im Tod…‘

Erfasst von den Wogen ihrer aufgewühlten Gefühle fiel auch Foelke mit ein in den Gesang. Schon mit den ersten Worten fühlte sie eine Sehnsucht in sich aufsteigen, eine Sehnsucht, „mitten im Leben“ zu stehen, voll im Leben, ganz und gar im Leben, am Leben zu sein. Etwas von diesem Gefühl, teilte sich ihr mit, als sie das Lied sang. Mitten im Leben zu sein, dieses wunderbare Glück zu spüren! Dieses Glück strömte durch ihren Körper. Ja, sie fühlte es genau: Sie befand sich voll im Leben, mit allen Sinnen, mit Kopf und Herz, mit jeder Faser ihres Leibes spürte sie das Leben. Sie horchte in sich hinein und konnte spüren, wie das Lied in ihr vibrierte und ihren Körper sanft zum Schwingen und das Blut in Wallung brachte.

Ihre Schwester Hebe, die Äbtissin, hatte ihr früher einmal erzählt, dass dieses Lied ursprünglich ein Komplet gewesen sei, ein Gebet der Fastenzeit. Jetzt kannte es jeder. Man sang es in vielen Lebenslagen, bei Prozessionen und wie heute vor kriegerischen Auseinandersetzungen. Manche sagten, dass man den Feinden damit Schaden „ansingen“ könne, vielleicht gar den Tod. Ja, und auch als Begräbnislied wurde es gesungen, genau wie damals, bei Ockos Bestattung. Da hatte sie das Lied leise, mit brüchiger Stimme geflüstert. Die Hölle war vor ihren Augen erstanden, drängte sich in ihre Sinne mit schwarzer Düsternis und roten Flammensäulen.

Ocko hatte sich vor der Hölle gefürchtet, geschürt von der Sorge und Liebe um sie und seine Familie, den Fortbestand der Häuptlingsherrschaft... Krieg, Mord und Folter, brennende Häuser und Kirchen, Feindschaft und Hass, das alles raubte ihm den Schlaf. Niemand konnte ihn aus seiner Not befreien und er suchte Hilfe bei Gott. Aber je mehr Ocko seine Taten zu entschuldigen suchte, je mehr er suchte, sich durch Schenkungen an die Kirche zu reinigen, desto mehr geriet er in den Bann der Furcht vor der Hölle: Schwefel, Feuer, Bratrost, unendliche Qualen... Die unselige Verkettung von Sünde und Hölle fraß ihn auf, ein ewiger Kreislauf von Angst und Reue. Der teuer erkaufte päpstliche Plenarablass brachte ein wenig Trost – und gute Handelsbeziehungen zum Vatikan. In diesen bösen Zeiten brauchte man das, um überleben zu können. Die Last der Sünden aber war übermächtig. Nicht lange half der Ablassbrief darüber hinweg. Unvermeidbar folgten wieder Angst und Reue…, die Blut besudelte Seele schrie nach Gnade. Die schrecklichen Bilder in seinem Kopf von gepeinigten, verstümmelten, zerhauenen Leibern, sie marterten ihn. Manchmal wusch er sich die Hände mit Bimsstein, scheuerte die Finger bis seine Fingerkuppen völlig glatt waren und das Blut aus den Poren trat. Und dann schienen sie ihm vom Blut der vielen getöteten Menschen klebriger als zuvor. Er war des Krieges überdrüssig gewesen. Vielleicht war Ockos Tod sogar Erlösung aus seiner Seelenqual?

Foelke kam plötzlich zu Bewusstsein, dass Tod und Höllenangst unentrinnbar ins Leben eingeflochten sind. Anfechtung und Leid müssen gelebt werden, ehe der Glaube über all die erbärmlichen, schrecklichen Dinge des Lebens siegen kann… Aber sie wollte fürderhin ohne Angst leben. Sie wünschte sich so sehr, das Leben bejahen und mit Freude genießen zu können. Die Kirchenväter aber schürten die Angst vor dem Fegefeuer über alle Maßen. Mehr und mehr offenbarte jede Predigt phantastische Schreckensbilder. Das war so geplant, weil die Menschen dann großzügiger in den Klingelbeutel spendeten. Foelke musste plötzlich lächeln, denn ihr fiel Ockos kecke Sentenz ein: „Wenn das Geld im Beutel klingt, die Seele aus dem Feuer springt.“ Manchmal fragte sie sich zweifelnd, ob die Priester wirklich glaubten, was sie verkündeten. Jetzt aber, in diesem Augenblick, wo das Lied zum Himmel stieg, verzerrte sich das Bild in ihrem Kopf. Sie befand sich in einer Art Schwebezustand und dachte: Mitten im Tode sind wir im Leben… Ich muss einen neuen Ablassbrief kaufen, damit ich seines Heils gewiss bin.

Das Lied steigerte sich derweil zu leidenschaftlichem Chor, und niemand zweifelte mehr daran, dass der Wind den Gesang fort und fort trug, bis in die unendlichen Höhen an das gnädige Ohr Gottes.

Widzelt aber reckte sein gewaltiges Schwert in die Höhe und ließ es effektvoll im Sonnenlicht aufblitzen, gleichzeitig proklamierend: „Zur Ehre Gottes! Amen!"

„Amen!" hallte es wider aus rauen Kehlen und Foelke dachte ketzerisch: Was hat dieser Überfall auf die Harlinger mit der Ehre Gottes zu tun? Der arge Potter will doch nur Altlasten beseitigen.

Glockengeläut durchwehte den Morgen, als Widzelt sich nach dem Gottesdienst von Foelke und den Kindern verabschiedete. Widzelt zog sie sanft an sich, küsste ihre Wangen und flüsterte, dass sie auf ihn warten möge: „Du wirst sehen, es dauert gar nicht lange und dann sind wir alle bald wieder zurück.“ Oh, wie süß sie nach Flieder duftet. Und wie ihr rotes Haar in der Sonne brennt! Was mag sie gerade denken?

„Bleib bei mir, Widzelt. Ich habe so viel verloren, ich möchte dich nicht auch noch verlieren“, flüsterte sie an seinem Ohr. Er glaubte, ihre Zunge an seiner Wange zu spüren... Oder irrte er sich? Waren es nur die heißen Tränen, die sie weinte?

„Achte auf dich, Widzelt. Potter ist gefährlich.“

Er sah, wie sie den Mund öffnete und mit der Zunge über die Lippen fuhr, sehr langsam, sehr sinnlich. Oh, so viel wollte er ihr sagen, wie sehr er sie begehrte und liebte. Jetzt, da sie ihn innig ansah, schien ihm die Gelegenheit günstiger denn je. Grün funkelten ihre Augen, smaragdgrün und Tränen schimmerten darin. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Berauscht von ihr, schluckte Widzelt hart. Da vernichtete Keno das heiße Gefühl der Zärtlichkeit in ihm, denn er zog respektlos an Widzelts Schwertgehänge, weil er nicht mit in den Krieg ziehen durfte.

„Du kannst nicht mit, Keno. Sie würden dich in Stücke hauen und überdies, du musst mich hier vertreten. Du musst deine Mutter und deine Geschwister beschützen. Wer sollte das sonst tun, wenn ich nicht da bin?" tröstete Widzelt den Buben. Der meuterte trotzig. - Seltsam, in diesem Augenblick wäre Widzelt tatsächlich lieber hier geblieben, an Foelkes Seite. Was alles konnte geschehen in seiner Abwesenheit? Darüber hatte er zuvor noch gar nicht nachgedacht. Er ließ sie zurück – sie und die Kinder - seine Familie – er ließ sie ohne wirklichen Schutz.

Die aufsteigende Sonne ließ die Erde dampfen, und als das Heer endlich aufbrach, Fahnenschwenker und Hornbläser voraus, schwebten dünne Bodennebel über den Kornfeldern, aus deren milchigen Schwaden rot und blau die Tupfen von Mohn- und Kornblumen leuchteten.

Widzelt und Focko Ukena, Seit an Seit ritten sie den ausgehobenen Brookmannen voraus. Ihre schweren Rappen trugen prächtige rote Schabracken mit dem Broek'schen Adler. Widzelt hatte seinem Friesen sogar die silbern blinkende Ross-Stirn auflegen lassen. So prächtig waren er und sein Ross anzusehen, dass es schien, als zöge er zum Turnier und nicht zu einer Strafexpedition aus.

Am Rande der staubigen Heerstraße drängten sich zurückbleibende Mütter mit ihren Kindern und anderes schaulustiges Volk. Kinder warfen Blumen vom Feldrain in die vorbeiziehende Karawane. Ausrufer verkündeten der Bevölkerung das ohnehin schon bekannte Ereignis.

Widzelts schöne Maimaid reichte ihm einen Strauß Feldblumen hoch und rief: „Widzelt! Komm in einem Stück zurück!“ und Focko Ukena scherzte schlüpfrig: „Ich weiß auch, welches Stück du meinst, Mädel!“

Manche Frau suchte ihre Tränen zu unterdrücken, andere heulten und kreischten, etliche jubelten und feuerten die Männer begeistert an: „Gebt ihnen eins aufs Haupt!“

„Verdrescht sie!“, schrie ein Hutzelmännlein und Foelke musste lachen.

„Sie soll'n in ihrem Blut verrecken!"

Es gab genug Leute, die sich freuten, Rache üben zu können für die eine oder andere Untat der Harlinger Friesen.

„Ja, ein Feindbild brauchen sie, einen, den sie hassen können, sonst gehen sie aufeinander los“, bemerkte der Feldkaplan belustigt. Da hob Widzelt den Blick und entgegnete lapidar: „Solange ich es nicht bin, auf den sie losgehen, soll‘s mir einerlei sein.“

Fröhlich winkten die tapferen Krieger und grölten ihr Kriegslied. Reiter und Fußvolk, Pferde, Esel, Ochsen und schwer beladene Wagen lärmten den Heerweg entlang, begleitet von aufgeregt kläffenden Hunden, die den Weg hin und zurück von der Tete des Heeres bis zu ihrem Revier dreimal doppelt zurücklegten. Tanzend - im Takt von Trommeln und Flöten - folgte der Tross dem Heer, ein stattlicher Haufen von Weibern und Kindern.

Die Turmbläser schickten den Ausziehenden einen Abschiedsgruß nach.

Hier, wo es eigentlich fast immer still war, hörte man das Gebrüll von Vieh und Mensch, das Klirren von Stahl und Knarren der Ochsenkarren, noch weitaus länger als der Tross oder dessen Staubwolke überhaupt zu sehen war.

Während Foelke Widzelt nachwinkte, rollten Tränen über ihre Wangen. Sorgenvoll sah sie ihn mit Focko Ukena an der Spitze seiner 'Flut' fortziehen, begleitet von einer Gruppe junger Reiter, den sogenannten ’Neureuthern’. Widzelt hatte die jungen Kerle gern in seiner Nähe, um sie besser kontrollieren und befehligen zu können. Erfahrungsgemäß war es immer schwierig, die jungen Leute auf den richtigen Pfad zu bringen. Sie bauten meistens zu sehr auf ihre Stärke, Wuchs und Aussehen als auf ihren Verstand.

Erleichtert wandte Foelke sich ab. Sie schluckte hart und lachte bitter. Wenn sie sich nicht sehr irrte, dann wollten sie wieder einmal alle totschlagen und berauben. Nichts ist doch für einen Söldner schlimmer, als ohne Beute heimzukehren.

Trotzdem, sie freute sich, dass nun endlich die gierige, fressende Heeresraupe aufgebrochen war. Kriegsvolk rief stets unangenehme Gefühle in ihr wach.

Ich bedaure die Menschen in Harlingen, die wegen eines einzigen Bösewichts mit Krieg überzogen werden..., dachte sie mitleidsvoll. Viele Unschuldige werden sterben, verlieren ihre Angehörigen, ihr Hab und Gut... Unselig ist es für uns, wenn unser Land hineingezogen wird in die Auseinandersetzungen fremder Mächte. Es ist eine endlose Spirale. Die Verknüpfung durch Allianzen zieht einen Krieg nach dem anderen nach sich. Wenngleich - Ocko hat das anders gesehen, er meinte, Allianzen stärken uns. – Oh, mein Widzelt, ich zähle die Tage, bis du wieder da bist und ich dich in die Arme schließen kann! Ich möchte in deinen Armen schlafen. - Pass auf dich auf, Widzelt... Ich brauche dich.

Unter der Wagenremise hatten Rauchschwalben ihre Nester angeklebt. Sie fütterten schon die zweite Jahresbrut. Am Wegesrand badeten Spatzen fröhlich im Sand.

Keno weigerte sich, in den Wagen zu steigen und peilte offenkundig nach seinem Pferd. Foelke erinnerte sich plötzlich daran, wie Widzelt heimlich ausgerissen war, um ins Ordensland zu ziehen. Das hat Keno jetzt vor... er denkt ans Ausbüxen. Ich muss es verhüten!

„Komm, Keno, führe bitte den Wagen.“ - Das klang sehr lieb. - „Ich fühle mich so unwohl... Bitte, bring uns sicher nach Aurichhove."

Widerstrebend kletterte Keno auf den Bock und spähte verstohlen zu seinem prächtigen Rappen hinüber.

„Na los, Keno! Was ist? Zu Hause wartet Kuchen auf uns", suchte Foelke ihren Sohn aufzumuntern. Intuitiv erwartete sie, dass Keno im letzten Augenblick doch noch vom Bock hüpfte, um mit seinem Pferd dem Heerhaufen nachzusprengen.

„Ich muss noch mein Schwert holen, Mutter“, wandte der Bub hastig ein und schwang sich tatsächlich vom Bock herunter.

Wieso muss ich nur solch einen gewitzten Sohn haben?’, fragte sie sich und suchte ihn zu hindern: „Halt, Junge, hiergeblieben!" – Zu spät. Schon rannte der Bub zurück zum Haus und Kaplan Embeco direkt in die Arme: „Wo willst du hin, mein Sohn?"

„Mein Schwert holen", schrie Keno und versuchte, sich loszureißen, was ihm aber gründlich mißlang. Embeco hob mahnend den Finger und sprach mit Keno, was Foelke allerdings nicht verstehen konnte. Sodann stupste der Priester den Jungen vor sich her ins Haus.

Aufmerksam hielt Foelke Ausschau nach ihrem Buben, während auf dem Dach der Remise ein Wanderfalke nach Beute Ausschau hielt.

Nach einer Weile kamen sie zurück, Keno und Kaplan Embeco. Ein schöner Mann, der Kaplan! Wäre er nicht Priester gewesen, Foelke hätte sich glatt in ihn verlieben können. Keno strahlte. In seinen Armen hielt er einen niedlichen weißen, schwarz gefleckten Welpen. Der Kaplan erklärte Foelke, dass der kleine Rüde ein Abkomme von Paladin sei und das Tier einmal so ähnlich werde wie dieser.

„So riesig? Oh, mein Gott! – Aber trotzdem, ich danke Euch, Embeco, sehr freundlich von Euch.“

„Ich werde ihn wieder Paladin nennen“, flüsterte Keno selig und grub sein Gesicht in das kuschelige Welpenfell.

Der Kaplan warf Foelke einen vielsagenden Blick zu: Das ist besser als Mord und Totschlag. Sie nickte dankbar und nahm die Zügel auf: „Ihr wisst, dass Keno den ’Paladin’ sehr vermisst hat?"

„Untrüglich, Burgfrau. Das war nicht zu übersehen. Als Paladin verendet ist, konnte niemand ein vernünftiges Wort mit dem Jungen reden. Erst der Vater, dann der Hund... Das klingt merkwürdig, ist aber in persona verständlich... Der Welpe wird dem Buben darüber hinweghelfen, dass er nicht auf Heerfahrt gehen darf, wo er sich doch so darauf gespitzt hatte, sein Können zu erproben. - Es ist besser, wenn er stattdessen fünf Ave betet."

„Das tut er“, versicherte Foelke und ließ die Pferde anziehen.

Süß schmetterten Buchfinken ihr Lied in die Stille. Goldenes Getreide, durchsetzt vom Blau der Kornblumen und purpur glühend von Mohn, dehnte sich in königlichen Farben. Sense und Rechen rauschten hindurch. Kinder stellten die Getreidebündel zu Hocken auf. Alles war wie immer, nur waren heute überwiegend Frauen, Kinder und alte Männer statt der jungen Kerls zu sehen. Es gab in diesem Jahr keinen Wederbaas (Meister / Obmann), der mit dreißig angeheuerten Schnittern oder mehr die Ernte besorgte. Die Bohnen mußten auch noch bis Oktober gepflückt werden und dann kam das Aufziehen und Trocknen der Bohnenschoten. Viel, viel Arbeit! Ob die Frauen mit den wenigen Erntehelfern das alles schaffen würden? Die gegenwärtige wirtschaftliche Zwangslage erforderte den Einsatz aller Kräfte, um eine Hungersnot zu vermeiden. Da drohte sich der Krieg gegen Aybo Rambodisna geradezu als Heimsuchung niederzuschlagen.

Quinkelierende Sprehen, dudelnde Lerchen, der Schrei des Habichts füllten die Bläue. Klee und Butterblumen, Mohn und Kornblumen, Ringelblumen und wilde Rosen blühten am Wegesrand und sanft wiegte sich der Weizen im Wind und wie herrlich es duftete! Wie frisch gebackenes Brot.

Die hohen Holunder neigten sich unter der Last ihrer roten, sich bereits schwarz färbenden Beerenbüschel. Einige Büsche waren schon abgeerntet. Ihr burgunderroter Saft, der kaum auswaschbar ist, wurde zum Einfärben des schönen Tuchs für die traditionellen Kleider der Friesinnen verwendet. Wenn die Doldenstände zu schwarzen Früchten herangereift waren, gewann man daraus Saft zur Bekämpfung von allerlei Erkältungskrankheiten. Gegorener Holundersaft diente zu einem zauberhaft duftenden Weingetränk. Foelke liebte diesen prickelnden Tropfen, besonders abends am Kaminfeuer, wenn die Wärme ihr entgegenschlug. Aber leider gab es diese Köstlichkeit ja immer nur für kurze Zeit.

Birken und Weiden beugten sich sanft im Sommerwind über ihr Gefährt und Foelke ließ die Pferde unter einer silbern zitternden Pappel anhalten. Sie fühlte sich müde, unendlich müde. Zu Hause würde sie sich die Pritsche in den Obstgarten bringen lassen und dann würde sie dort den ganzen Tag über unter dem aufgespannten Sonnensegel liegen, die Vögel beobachten, wie sie sich von Aufwind in den Himmel tragen lassen und sich am Vogelgezwitscher erfreuen. Die Tauben würden gurren und die kleinen Spatzen schilpen und im Sand baden und die Bienen... Ach, das würde schön werden, alles still und friedlich, aber jetzt musste sie sich zuerst einmal um ihre Kinder kümmern:

„Schaut, Kinder! Keno! Ocka! Schaut! Ein Meer von Margeriten, zart vom Tau betupft und die herrlichen roten Mohnblüten. Schaut nur, wie stolz die jungen Störche mit ihren Eltern in den Bruchwiesen waten. Und seht dort! Die Reiher und Wildenten. Ist das nicht wunderschön?"

Wie schön ist die Welt! Warum muss man sie um des Geldes und der Macht Willen mit Krieg verwüsten, statt Gottes Natur zu genießen? Gibt es nicht genug Naturkatastrophen, die alles zerstören? Muss der Mensch auch noch dazu beitragen und immer neue und schrecklichere Waffen erfinden, statt dafür zu sorgen, dass alle Menschen genug zu essen haben?

„Ja, ein gutes Jagdgebiet", schmollte Keno bockig und zog ein Gesicht. „Ich bin zehn Jahre alt - und ich verstehe nicht, warum ich nicht mit nach Harlingen darf.“

Sie umarmte ihren Sohn innig: „Ja Keno, fast erwachsen heißt das und das Schlimmste daran ist, dass Focko Ukena mitziehen darf, nicht wahr?“

Keno entzog sich ihr und maulte: „Ja, Mutter! Schön, Focko ist schon zwanzig, aber ich bin der Herr von Brookmer- und Auricherland… Das ist, das ist...“ Ihm fehlten die Worte.

„Du meinst, das ist geradezu ein Sakrileg, ja?“, warf seine Mutter freundlich ein.

„Weiß nicht. Aber auf die Jagd gehen darf ich doch auch und ich weiß, dass der Jäger das Tier zum Bluten bringen muss und... wozu habe ich denn den schönen Harnisch bekommen, wenn ich nicht mitziehen darf?“

„Du meinst den Knappenharnisch?“

„Aber Vater hat gesagt, wenn ich groß genug bin, dann darf ich…“

„Ach Keno“, fiel Foelke behutsam ein, „Bub, du willst Schwellen niederreißen. Du bist doch viel zu jung zum Töten… Glaub mir, das ist überhaupt kein bisschen spaßig.“

„Das will ich ja gar nicht, ich will bloß mit.“

„Nein, mein Junge. Keinesfalls! Krieg macht zu Menschenfressern und außerdem… Er passt dir noch gar nicht richtig, der Harnisch.“

„Bis zum nächsten Krieg bin ich aber rausgewachsen“, schmollte er weiter und Foelke hoffte, dass er bis dahin tatsächlich zum Mann geworden sein mochte.

Kenos Schwester streichelte vorsichtig den Welpen - mit einem Finger. Süß sah das aus.

„Geh weg, das ist mein Hund“, raunzte Keno unfreundlich und schubste sie weg.

„Aber sie wird ihn doch mal streicheln dürfen, Keno?"

„Naja, ein Mal, dann ist aber genug! Sie hat ja ihren Cid."

„Cid ist ein Kater! Das da ist ein Hund!" begehrte Ocka auf.

„Das weiß ich auch“, brummte Keno grimmig.

„Keno, es ist nur gut, wenn der Hund sich gleich an euch beide gewöhnt. Du wirst nicht immer für ihn da sein können und dann kann Ocka dich vertreten", warf Foelke ein und ließ den Wagen wieder anrollen. „Wir werden unsere Burgapotheke in Aurichhove aufzusuchen. Wenn Widzelt wieder heimkommt und er hat… vielleicht braucht er dann Heilkräuter, die es dann nicht gibt, um zu genesen..."

„Mutter, Widzelt ist noch nicht einmal dort", sagte Ocka naseweis.

Ja, dachte sie, ich fürchte um sein Leben. Er ist ein guter Kerl... Immer mehr sehe ich Ocko in ihm.

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