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Band III
ОглавлениеHistorischer Roman
Friesland
im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation
1389-1398
Gunda von Dehn
Im Osten dämmerte es leicht, schon bald würde die Sonne aufgehen. Foelke, Herrin von Norder-, Brookmer- und Auricherland, saß auf der Bettkante ihres Alkovens und weinte. Des Lebens Schmiede schuf ihr in der Vergangenheit ein schmerzliches Geschick. Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie, alt zu sein und bald zu sterben. - Verdammt!
Müde stand sie auf, öffnete die Kleidertruhe, nahm gedankenverloren ihr “Dodenlaken“ heraus, jenes Tuch in welches man sie dereinst einnähen würde, wenn man sie zu Grabe trug. Sie überprüfte die Nähte. Alles in Ordnung. Sie faltete das Laken erneut sorgfältig zusammen und wollte es wieder zurücklegen, da fiel ihr Blick auf den Bartkamm aus Elfenbein und vergoldetem Silber. Sie hatte das kostbare Stück bei dem Arzneihändler und Medicus von Aurichhove (heute Aurich) erworben. Der Sarazene aus Neapel bot manchmal besonders hübsche Kostbarkeiten aus seiner Heimat an. Es lohnte sich daher, gelegentlich in seiner Apotheke aufzuwarten. Foelke meinte sogar, dass Ibn sich allein für sie um außergewöhnliche Ware bemühe. - Sinnend nahm sie den neuen Bartkamm an sich. Tränen drängten sich erneut in ihre Augen, als ihre Gedanken zu ihrem ermordeten Gemahl schweiften. Bevor sie Ocko das prächtige Stück hatte schenken können, war er zu Tode gekommen. Sie liebte Ocko noch immer und ihre Sehnsucht nach ihm wuchs von Tag zu Tag. Sie dachte jeden Tag an ihn. Wie er starb, sie sah es hundert Mal am Tag.
Was tue ich eigentlich den ganzen Tag? überlegte sie. Nichts, nichts als weinen und trauern. Mir tut der Hals schon weh vom vielen Weinen. Ich rede ständig mit ihm. Ich vollziehe alles ständig nach. Ich muss etwas ändern in meinem Leben, sonst werde ich untergehen.
Zwei, drei Schritte ging Foelke näher zum Fenster, schaute hinaus in den prächtigen Garten. Das war seine Leidenschaft gewesen. Foelkes Gemahl hatte ihn nach italienischem Vorbild mit langen doppelten Reihen von Obstbäumen und symmetrisch angeordneten Blumenrabatten anlegen lassen, um die gewöhnlichen Gemüseanpflanzungen zu umrahmen. Einige steinerne Bänke luden hier und da zum Ausruhen ein und der Schöpfbrunnen in der Mitte des Gartens war gekrönt von einem eisernen Gestell, welches einen bronzenen Adler mit ausgebreiteten Flügeln trug. Das sah aus der Ferne so aus, als würde dort tatsächlich gerade ein prächtiger Adler landen. Dieser geradezu majestätische Anblick hatte Ocko stets mit Freude erfüllt.
Im Burggarten blühten jetzt wundervoll die weißen Rosen. Knechte hängten eilends Käfige mit Hähnen in die Bäume, um die Stare davon abzuhalten, Birnen und Äpfel anzupicken. In der Ferne sah Foelke eine Gruppe Reiter sich nähern. Oh ja, sie sollte hinausgehen an die frische Luft, aber sie verließ nur ungern ihre Kemenate, fühlte sich hier drinnen unter der mit grünem Blattwerk bemalten Decke wie unter einem Blätterdach, das sie vor der Welt da draußen beschützte. Aber heute mußte sich dem Volk zeigen, denn es war Mariens Geburtstag, der 8. September, Kirchweihentag in Marienhafe.
Fast auf den Tag genau war es jetzt einen Monat her, dass Foelkes Gemahl zu Tode gekommen war. Aus Sorge um sie war ihre Schwester damals vom Kloster Dykhusen aus angereist und einige Tage geblieben, um sich ihrer anzunehmen.
Foelke aber lebte seit diesem schrecklichen Unglück in einer fernen Welt. Sie sprach kaum und es schien, als lausche sie fortwährend nach Ockos Schritten, nach dem Klirren seiner Sporen, nach seiner Stimme, die nach irgendwem rief, der Stimme, die stets so klar und rein in der Halle nachgeklungen hatte. Manchmal glaubte Foelke, Ockos zärtliche Hand auf ihrem Federbett zu spüren, aber das konnte ja nicht sein und wenn sie hinschaute, dann war es auch nur Cid, der Kater ihrer kleinen Tochter Ocka, der es sich auf ihrem Bett gemütlich gemacht hatte. Das brachte sie stets zum Weinen. Bisweilen flatterte auch wohl vom Luftzug ein Pergament zu Boden und dann schaute sie in die Schreibstube, ob sie Ocko dort fände. So ging es viele Tage fort. Dann meinte ihre Schwester Hebe eines Tages, es ginge Foelke besser. Gern würde sie noch bleiben, aber es waren Nachrichten aus dem Kloster gekommen, die ihre Anwesenheit als Äbtissin dringlich erforderten und so reiste sie also zurück nach Dykhusen.
Selbstvergessen schloß Foelke den Deckel der Truhe, ehe sie ihn erneut aufschlug. Sie wußte, dass sich nun die Zeit dem Ende näherte, in der ihr Gemahl im Dom ausgestellt bleiben konnte. Tagtäglich kniete sie an Ockos Hochgrab und betete für sein Seelenheil. Natürlich wußte sie, dass dort nur die Rüstung mit der ausgestopften Stoffpuppe auf dem Paradebett lag, aber an diesem Ort der Stille fühlte sie sich ihm trotzdem nahe.
Die Estrade, unterstützt von einigen Pilastern, führte einige Stufen hoch, die Stützen waren umwunden mit kostbarem Samt und goldenen Tressen, an denen Wappen, kleine Heiligenstatuen und dergleichen hingen. Über all der Pracht spannte sich ein roter Baldachin. Dieses Hochgrab mit dem kostbaren Paradebett, es würde Foelke fehlen. Ockos Leichnam war längst in die Familiengruft der Basilika des Klosters Ihlow gesenkt worden und doch fühlte Foelke sich ihrem Gemahl hier im Dom von St. Marien näher als im Kloster, denn dort lasen die Mönche tagtäglich Seelmessen und an der Gruft beteten etliche Seelfrauen. Dadurch fühlte sie sich im Kloster Ihlow beträchtlich gestört in ihrer Andacht und kam sich irgendwie sogar überflüssig vor.
Jenes Quäntchen Ungewissheit, welches den Tod ihres Gemahls mit einem geheimnisvollen Schleier umgab, stritt tagtäglich mit wechselnden Mutmaßungen in ihr. Vielleicht war Ocko ermordet worden, aber Folkmar Allena, der mächtige Häuptling und Heerführer aus Groningen, den man angeklagt hatte, Verursacher des Mordes gewesen zu sein, konnte sich mittels Bahrprobe reinwaschen. Kein Zweifel blieb offen, denn ’frei von Schuld’ lautete das Gottesurteil. Dennoch stand eines fest, Folkmar Allena würde diese grauenvolle Demütigung, die ihm durch die Bahrprobe widerfahren war, nie im Leben verzeihen, Widzelt nicht, ihr nicht und selbst ihren Kindern nicht. - Vielleicht, diese Möglichkeit musste Foelke ins Auge fassen, war ihr Gemahl doch eines natürlichen Todes gestorben - einfach so, weil ihn das böse Geschehen rund um die Friedensverhandlungen mit Folkmar Allena aufgebracht und überreizt hatte, denn Folkmar hatte Bedingungen gesetzt, Bedingungen, die kaum erfüllbar gewesen waren. Immerhin - man sprach davon, dass Ocko sich ans Herz gefasst habe, bevor er in die Arme seines Widersachers Folkmar Allena gefallen sei. Hatte ihn vielleicht tragischerweise der Schlag getroffen? So etwas sollte es geben, dass Menschen einfach tot umfielen. Er war ja nicht mehr der Jüngste und seit längerer Zeit kränklich gewesen.
Wie beliebt Ocko bei seinen Unterassen gewesen war, hatte der Abt des Klosters Ihlow bekundet, als er mit allen Ehren direkt zu Füßen des Altars im edlen Erbbegräbnis der Familie beigesetzt wurde.
„Gott gönne unserem vortrefflichen hochwohlgeborenen Ritter, Richter und Häuptling eine süße Ruhe und an jenem Tag eine fröhliche Auferstehung zum ewigen Leben“, hatte der Abt gesagt, denn Ocko war nicht nur ein großer Gönner und Angehöriger der Stifterfamilie des Klosters gewesen, sondern hatte als ererbtes Recht Teil an der kirchlichen Jurisdiktion. Das war nicht immer leicht für ihn gewesen, denn Kirchenstrafen waren häufig grausam, besonders dann, wenn es um Ehebruch ging.
Wie gern hätte Foelke sich heute in ihrer Kammer verkrochen, wie sie es häufig seit Ockos Tod tat. Dort fühlte sie seine Seele mehr als anderswo. Ich kann nicht ohne dich sein, ich kann’s nicht, aber ich muss, dachte sie traurig und nun rannen unaufhaltsam Tränen über ihre bleichen Wangen und als sie nach ihrem Schnupftuch suchte, entglitt der Bartkamm ihren feuchten Fingern.
Ich liebe dich, Ocko, ich liebe dich so sehr und es nimmt kein Ende, dachte sie und bückte sich nach dem Kamm. Du hast mich allein gelassen. Ich bin krank vor Sehnsucht nach dir. Ich kann nicht ohne dich sein. Oh, mein Liebster, ich brauche dich so sehr! Was soll ich ohne dich tun? Ich fürchte mich ohne dich, ich fürchte mich vor dem Leben. Wie soll ich es meistern ohne dich? Nichts und niemanden gibt es, der dich ersetzen könnte...
Mit Bedacht legte sie Dodenlaken und Bartkamm zurück in die Truhe, klappte den Runddeckel erneut zu, ließ das eiserne Schloss einrasten, lehnte sich deprimiert an das reich verzierte Möbelstück.
Oh, hilf mir mein Gott! Ich flehe dich an! Ich brauche ihn so sehr! Warum hast du ihn mir genommen? Ich will ihn wiederhaben! Gib mir meinen Ocko zurück! Welch schwere Sünde habe ich auf mich geladen, dass du mich so grausam strafst? Keine Freveltat hab ich begangen. Sag an, warum strafst du mich dann so! Warum hast du mir das angetan? Ich kann, ich will nicht ohne ihn sein. Ich brauche ihn so sehr… Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht, ehe sie sich straffte: Ich kann unmöglich verheult zur Prozession gehen. Traurigkeit hilft nicht weiter – sie macht krank, nichts als krank. Ich muss endlich zu mir selbst finden, mich mehr einbringen. Sie sagen zwar alle, ich würde mich zu sehr in die Regierung einmischen, dabei tue ich es zu wenig. Ich habe die Pflicht, Ockos Erbe zu erhalten und zu mehren! Mir gebührt die Macht. Widzelt darf bis zu Kenos Mündigkeit nur Nutznießer sein und bleiben... nicht mehr und nicht weniger. Unserem Sohn geziemt die Krone der Macht. Ich muss und werde sie für Keno bewahren! Ein schweres Erbe, niemand wird uns helfen, alle würden Keno am liebsten zerfleischen, um selber die Macht an sich zu reißen!
Nicht nur als Landesherrin war Foelke gehalten, an der kirchlichen Prozession teilzunehmen, sondern auch aus Christenpflicht. Ach, und dabei fühlte sie sich halb tot vor Trauer und Müdigkeit. Der Vollmond hatte ihr den Schlaf geraubt und nicht nur er. Es waren die schrecklichen Gedanken, die sie nicht losließen. Wie kam es nur, dass sie immer ein strahlend hell erleuchtetes Tor vor sich sah und darin eine Gestalt, die sich langsam entfernte? Kaplan Embeco hatte gesagt, der Tod sei das Tor zum Licht am Ende eines mühsamen Weges. Trotz seiner manchmal überspitzten Ansichten, war der Kaplan ein sehr gebildeter Mann, dessen umfangreiches Wissen Foelke oft bewunderte. Vielleicht beherrschten seine Worte deswegen fortwährend ihre Gedanken? - Langsam beruhigte Foelke sich wieder. Sie summte ein Liebeslied vor sich hin und mit jedem Ton schien die Melodie sie emporzuheben; sie schwebte davon... in den Himmel... Sie lächelte sogar in süßer Erinnerung und sang plötzlich aus voller Kehle:
Bis die Distel traget Rosen,
bis der Mühlstein traget Reben,
so lang werde ich dich lieben,
bist auch fern von mir.
Ich weine mir die Augen blind
in Leid und peinvoll Jammer,
bist mein ganzes Glück hab dich ja so lieb,
sterbe bald vor Kummer.
Verloren ist mein ganzes Glücke,
ist mein ganzes Glück,
kommt nie mehr zurück,
kommt niemals mehr zurück.
Dein Name klingt in mir,
der Wind erzählt von dir.
Ich bin so allein
und kann nicht bei dir sein.
Bist nicht mehr bei mir,
Nacht ist Gast bei dir.
Tränen zeugt der Schmerz
in dem gebrochenen Herzen...
Vor ihrer Kammertür stand Widzelt, den Türgriff in der Hand. Wie oft hatte er dieses Lied schon gehört. Es spiegelte ihr ganzes Herzweh wider. In atemloser Stille lauschte er auf den Gesang, der sich emporzuschrauben schien bis in den Himmel - zu ihm - zu Ocko. - Wie wunderbar, ihre Stimme zu hören, hell und klar! Jeden dieser sauber intonierten Laute liebte er. Der Klang entwickelte sich, dehnte sich aus, erblühte, ging nicht nur ins Ohr, sondern bis tief in seine Seele.
Plötzlich aber brach ihre Stimme und ging über in Schluchzen, woraufhin Widzelt auf leisen Sohlen seinen Posten verließ. Er hatte sie abholen wollen, denn um fünf Uhr in der Früh sollte sich der Mysterienzug in Bewegung setzen und es war höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen. Unter diesen Umständen aber beschloss er, erst einmal vorauszureiten nach Marienhafe.
Auch er hatte sich verändert. Manchmal kannte er sich selbst nicht wieder. Er war ruhiger geworden, wurde seltener laut, und wenn doch, dann explodierte er geradezu. Sein Tonfall war manchmal überraschend hart, unsinnig hart sogar. Er verängstigte die Leute. Sie sanken manchmal vor Schreck auf die Knie, um ihn friedlich zu stimmen. Dabei wollte er ihnen doch gar nichts Böses. Übersteigertes Selbstbewußtsein, meinte der Kaplan. Ja, er hatte wohl Recht. Widzelt spürte selber, dass er wahnsinnig überheblich geworden war. Folkmar Allena hatte ihn in aller Öffentlichkeit sogar schon als „arrogantes Morsloch“ beschimpft. Als man Widzelt das zutrug, hat er nur kalt aufgelacht. Nein, das tat ihm nicht weh. Sein Kommentar lautete schlicht: „Selber arrogantes Morsloch. - Folkmar ist nichts als scheelsüchtig.“
Es gab eine Prophezeiung, an die Widzelt fest und unverbrüchlich glaubte. Diese Voraussage lautete in etwa so: Jener, der das Schwert in einem Kreuzzug überlebt, wird das nächste Haupt der Macht. Er hatte an einem Kreuzzug teilgenommen. Ja, und er war daraus heimgekehrt, trotz aller Kämpfe, Krankheiten und Anschläge auf sein Leben. Er glaubte, dass Gott ihm Schutz gewährte, weswegen er starr darauf beharrte, auf dem richtigen Weg zu sein. „Ich schaffe alles“, pflegte er zu sagen und irgendwie gelang ihm das sogar, allerdings weniger mit Gewogenheit als mit Gewalt. Er hatte viele Menschen getötet – im Krieg, das war sozusagen Selbsterhaltung, aber er hatte auch etlichen aus der Bredoullie geholfen. Genauso wie bisher, würde sein Leben fortschreiten: Hilfe leisten oder... töten! Das hatte man ihn von Kindesbeinen an gelehrt. Ob als Richter, Häuptling oder Feldherr, ob er Verträge abschloss oder seinem Grafen Fehdehilfe und Heeresfolge leistete, täglich sah er, dass alles, was er tat, unter diesem einen Aspekt stand: Helfen... oder töten!
Was aber hatte er bisher alles erreicht? Was hatte er wirklich und ehrlich mit saurem Schweiß erworben? Hatte er Gutes erreicht? – Hatte er Anerkennung gewonnen? Ansehen? Sicher, denn man schaute zu ihm auf. Beim Heiligen Georg! Das tat man sowieso, weil er dem belangreichen Geschlecht der tom Brook entstammte. Es musste etwas anderes sein, etwas, das nicht mit Krieg und Bluttaten zu tun hatte, etwas, wofür man ihm Dank schuldete... Dankbarkeit? Wer sollte ihm dankbar sein und wofür? Vielleicht die Oda, weil er sie aus dem brennenden Kawen gerettet hatte? Aber warum sollte sie das? Gehörte er doch zu jenen Kreuzlern, welche die Stadt zuvor angezündet hatten.
Die Geistlichkeit äußerte zu seinen Taten, dass er “Großes“ vollbracht habe, weil er dafür gesorgt habe, dass Heiden zu Gott finden konnten, zu seinem Gott... Götter verehrten die Menschen davor auch, nur nicht seinen, den einen und einzigen Gott. Niemand hat je diesen Gott gesehen oder doch? Er wusste es nicht mehr. Er wusste auch nicht mehr die Gründe, warum er das eine oder andere getan hatte. Jeder Mensch muss sich überlegen, warum er bestimmte Dinge tut. Auch er. Aber er wusste es einfach nicht mehr. In seinem Kopf dominierte seit Ockos Tod nur noch sie... Foelke. Er wollte nur das Beste für sie. Sie aber wollte nichts von ihm wissen. Warum nicht? Er war doch ein sehr ansehnlicher Mann. Viele junge Frauen bekamen glänzende Augen und rote Apfelwangen, wenn er sie auch nur eines Blickes würdigte. Vielleicht war es nur zu früh für Foelke? Vielleicht würde sie nach einer angemessenen Trauerzeit doch noch zu ihm finden? Gewiß, sie war vernünftig – aber nicht immer. - Vielleicht bedrängte er sie zu sehr und viel zu früh nach dem Tod ihres geliebten Mannes. Er hatte es verdient, wenn sie ihn abwies. Ja, das wusste er nun mit Sicherheit, dass sie Ocko über alles geliebt hatte. Das sprach aus jedem Blick ihrer verweinten Augen. Er aber wollte von nun an ihr Beschützer sein und nicht nur sie, auch ihre Kinder und alle Untersassen wollte er beschirmen. Ein Häuptling muss ein Schutzherr sein. Oft war es ihm unmöglich, diesem Anspruch gerecht zu werden, und doch war es ihm in Fleisch und Blut übergegangen, denn dafür hatten seine Lehrmeister gesorgt, manchmal mit beinharten Strafen. Nein, zurückziehen würde er sich nicht. - Sicher würde es ihm gelingen, sich auch mit jenen Untersassen auszusöhnen, die ihn bisher als “Thronräuber“ zurückwiesen. Jedoch, er wusste einfach nicht mehr, wie er diese Leute gewinnen konnte. Es schien ihm, als könne nur die Ehe mit Foelke ihn retten. Er wollte mit ihr darüber reden – bei Gelegenheit. Günstig war das sicherlich dann, wenn sie seine Hand nahm. Manchmal, wenn sie ihn brauchte, tat sie das, um irgendwelche Dinge zu besprechen. Das war das Schönste überhaupt, wenn sie seine Hand hielt. Dann schien es ihm, als stünde die Welt für einen Augenblick still und er fühle ihr gemeinsames Leben in ihren Händen pulsieren.
Es war einerlei, was er tat, er sah immer nur Foelke, Foelke, Foelke... Ihm war alles andere egal, er wollte nur sie! Sie war nicht immer einer Meinung mit ihm, wenn es um politische Dinge ging, aber sie war so wunderschön und Schönheit war ihm wichtiger als politische Übereinstimmung. Er schaue sie zu ambitioniert an, warf sie ihm vor. Ja und? Er liebte sie halt.
Sie brauchte Bedenkzeit, das war offensichtlich. Er aber musste Geduld lernen, um sie zu erobern. Mehr als jede andere Frau, die er irgendwann gekannt hatte, begehrte er sie. Er bewunderte ihr Temperament, das zuweilen durchbrach. Oh ja, er war wild entschlossen, sie zu gewinnen und hatte sogar seinen Beichtiger belogen und behauptet, sie lasse ihn völlig kalt. Ob er das geglaubt hatte? Da kamen ihm doch arge Zweifel.
Zuvörderst musste er sich erst einmal ablenken, zur Jagd gehen oder irgend etwas arbeiten, vielleicht auch mit den Baumfällern in den Wald ziehen und Bäume fällen oder im Morgengrauen mit den Fischern hinausfahren aufs Meer oder sich den Piraten anschließen, um auf andere Gedanken zu kommen. – Die Piraten, das war wohl die beste Ablenkung, die es geben konnte und er konnte sich gleichzeitig mit ihren Anführer befassen, was ohnehin notwendig war. – Zwei Fliegen mit einer Klappe! - Und dann, wenn er fest im Sattel säße, dann würde er Foelke heiraten können und dann würde sie gesunden, denn nichts tröstet mehr als innige Liebe, jene Liebe, die er für sie empfand.
Unversehens kam es dazu, dass seine geheimen Wünsche fast schon zum Wahn anschwollen. Sein Wohlergehen, so wähnte er, hing von einem einzigen Menschen ab, von ihr. Tag und Nacht sah er sie vor sich, träumte von ihren weißen Schenkeln, dem biegsamen Rücken, dem weichen Leib und dann ihre Brüste... die samtige Haut und ihr herrlicher Duft! - Zuweilen horchte er an ihrer Tür, betrat auch wohl heimlich die Kemenate und lauschte auf ihre Atemzüge. Ja, auch ihr Weinen hörte er manchmal durch die schweren Samtvorhänge ihres Himmelbettes hindurch und dann malte er sich aus, wie es wäre, sie in seinen Armen zu halten und zu trösten und... in sie einzudringen... Ob sie das glücklich machen würde? Würde sie wohlig schnurren wie ein Kätzchen oder stöhnen vor Lust und Leidenschaft, gar schreien vor Entzücken? In seinem Innern entstand ein Bild von ihr, wie sie jauchzte vor Erregung. - Lauter Wahnvorstellungen, nichts als Geistesverwirrung. War es das? Möglich. - Davon aber war er überzeugt: An jenem Tag, an dem sie sich miteinander vereinten, würde er neu geboren werden!
Manchmal erschrak Widzelt vor sich selbst und seiner Erregtheit. Dann rannte er Hals über Kopf ins Badhaus und goss sich einen Eimer kalten Wassers übers Gemächt. Oh nein, so konnte, so durfte es nicht weitergehen! Diesen lüsternen Gedanken musste er Einhalt gebieten. Er durfte nicht dulden, dass seine Phantasie mit ihm durchging. Das konnte nur ein böses Ende nehmen, denn das wusste er ganz genau: ein falsches Wort zu Foelke, und seine lieblichsten Träume landeten auf einem stinkenden Misthaufen. Nur ein einziges falsches Wort konnte ausreichen, sein Leben zu ruinieren! Pflegte er damit nicht den Gesetzesbrechern die Hölle heiß zu machen? „Wisse“, drohte er zuweilen, „und behalte es gut in deinem Kopf: ich habe es in der Hand, dein Leben restlos zu zerstören. Ein falsches Wort und du kriegst kein Bein mehr an Deck!“ Nein, das war beileibe keine harmlose Einschüchterung, denn Widzelt gebot beinahe gottgleich über Leben und Tod und manch einer hatte es schon tief bereut, seine Warnung unbeachtet gelassen zu haben.
Trotz all der Macht in seinen Händen fürchtete er ihren strafenden Blick wie das Fegefeuer. Wenn er Foelke zu nahe trat, dann würde sie ihn mit nicht enden wollender Abscheu schlagen. Aus diesem Grunde musste er unbedingt das Trauerjahr abwarten und drum musste er fort von hier, fort von ihr... Aber wohin?