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Kapitel 6 - Ratssitzung
ОглавлениеWidzelt hatte den alten Rat “erprobt“, beim Gelage und Knobeln, beim Boßeln, in Wettspielen, bei Wortgefechten und Fingerhakeln. Es war derselbe Rat, den noch Ritter Ocko bestellt hatte. Die Männer waren ungestüm, von leidenschaftlicher Natur und ziemlich raubeinig. Sie hatten auf Widzelts Wohl getrunken und kräftig gefeiert. Der gegenseitige Eid war geleistet. Sämtliche Vertreter aller Gemeinden hatten Widzelt gehuldigt. Somit gab es keinerlei Widerstand, dass man ihn als Verweser nicht anerkannt hätte, zumindest traten keine sichtbaren Feindseligkeiten ans Licht. Widzelt gefielen diese zielbewussten Ratsherren. Vielleicht war es auch jene friesische Sinnesart, die auch ihm zu eigen war. Er fühlte große Übereinstimmung und selbst, wo das nicht der Fall war, wusste er gut mit den Räten auszukommen. Das fiel ihm leicht, denn dafür brauchte er nur aus seinem erbeigenen politischen Gespür zu schöpfen.
Um vorderhand das Einverständnis der Ratsmitglieder zu dem Vertrag mit dem Herzog von Bayern zu erlangen, rief Widzelt nun erneut den Rat zusammen. Dieser Staatsrat bestand aus Angehörigen der Elite, die das Recht besaßen, das Richteramt auszuüben. - Die Neubesetzung des Rates - einmal jährlich - hatte Ritter Ocko bislang selbst vorgenommen und so wollte Widzelt es künftig ebenfalls halten. Wenn der bisherige Rat abtrat, wurde er zum ruhenden Rat, um nach einem Jahr erneut die Amtsgeschäfte zu übernehmen. Der Wechsel war aus finanziellen Gründen notwendig, denn der Rat arbeitete völlig unentgeltlich. Die Ratsmitglieder bekamen lediglich die entstandenen Kosten erstattet. Deshalb war es sehr wichtig, dass den Ratsherren genügend Zeit blieb, um sich ihrer eigenen Geschäfte widmen zu können. Sobald das Kollegium wechselte, war der scheidende Rat verpflichtet, ausführliche Rechenschaft über seine Amtsführung abzulegen. Verfehlungen wurden nicht geduldet – meistens jedenfalls nicht. Ritter Ocko hatte das Ratskollegium mit zwölf gleichberechtigten Ratsherren besetzt und ihnen entsprechende Aufgaben übertragen, bei denen Widzelt es vorerst auch beließ, um überflüssige Unruhe zu vermeiden. Dazu gehörte die Einstellung von Bediensteten wie beispielsweise Burgknechte zur Abwehr von Angriffen, Torwächter, Pfeifer, Schildwachen; daneben die Kontrolle und Aufnahme neuer Gemeindemitglieder;
Ausübung der Ordnungsgewalt;
Kontrolle der Marktpreise und Güte von Nahrungsmitteln;
Überwachung von Maßen und Gewichten;
Verwaltung und Führung von öffentlichen Einrichtungen wie Ratswaage, Ratskeller, Brauhaus, Badestube, Brunnen, Wege- und Straußenbau usw.;
Eintreibung direkter und indirekter Steuern wie Kopfsteuer, Bedesteuer (= Kirchenzehnt) nebst Ungelt - sprich Geldstrafen und nicht zuletzt auch Wegegeld und Verwaltung des Zollwesens. Hinzu kam das umfangreiche Deichwesen. Als Oberdeichgraf war der Häuptling der oberste Vogt unter den Deichgeschworenen. Er führte die Oberaufsicht über das Deichwesen und zeichnete gegenüber dem Grafen Albrecht von Holland verantwortlich für alle anderen Deich- und Strandvögte (Grefe bzw. Gräfer).
Daneben mußte der Rat überprüfen und darauf achten, dass seine Mitglieder, die ja verschiedenen Landesteilen und Kirchspielen angehörten, mindestens 20 Jahre zählten.
Dem 1. Ratsherrn kam es zu, dem Häuptling die im Rat nach dem Mehrheitsprinzip gefassten Beschlüsse vorzulegen und die Schlüssel der Tore zu hüten. Daneben fungierte er als Richter.
Jeder Ratsherr musste nicht nur dem Hause tom Brook Treue schwören, sondern auch den Eid leisten, Gesetze und Verträge zu lesen und einzuhalten. An drei Tagen in der Woche kam der Rat zusammen. Wer die gesamte Zeit anwesend war, erhielt dafür 4 Pfennige. Das war nicht eben viel für 3 Tage Ratsarbeit, denn für einen einzigen Pfennig konnte man 4 Heringe kaufen.
Alle Angelegenheiten, die der Rat behandelte, wurden in einem Protokollbuch festgehalten, auch die jeweilige Stimmenanzahl von Zustimmung oder Ablehnung einer Sache. Verschwiegenheit war oberstes Gebot. Wer eine im Rat behandelte Sache heimlich preisgab, wurde ausgestoßen und durfte nie wieder in den Rat zurückkehren.
Und dann gab's da noch den Kämmerer, denn Ritter Ocko hatte im Schloß eine Kammer eingerichtet, in der Urkunden und wertvolle Gegenstände aufbewahrt wurden, vor allem der Münzschatz des Landesherrn. Für diese Schatzkammer haftete der Kämmerer buchstäblich mit seinem Kopf.
Die Schatzkammer stand gleichwohl auch wohlhabenden Untersassen zur Verfügung, die dort ein verschließbares Fach mieten konnten, um ihre Wertgegenstände zu deponieren, wenn sie beispielweise auf Reisen gingen. Auch Kirchen und Klöster boten dies an, aber die Möglichkeit, im Schloss etwas Wertvolles in Verwahrung zu geben, war so gut angenommen worden, dass die sechs für solche Zwecke im Prunksaal eingebauten Schränke schon bald nicht mehr ausreichend gewesen waren und Zuwachs bekamen.
Der zusammengerufene Rat tagte – wie immer - im Prunksaal. Selbstverständlich führte Widzelt den Vorsitz im Rat.
Einfallendes Sonnenlicht ließ die Goldfransen am Baldachin rot aufblitzen wie lauter Feuerzungen. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Widzelt, als er sich neben Foelke unter dem roten Baldachin im Häuptlingsstuhl niederließ. Es war, als ginge eine Wandlung in ihm vor. Sehr hoheitsvoll saß Widzelt da, und seine Hände ruhten reglos auf den Armlehnen mit den Adlerköpfen und ihren angriffslustig aufgesperrten Schnäbeln.
Neben ihm stand der vornehme Waffenständer mit Widzelts Schwertgehänge und dem Wappenschild. Er erinnerte sich noch, wie Fellenstein und er durch den Wald gewandert waren, um einen linksdrehenden Baum zu finden. Gar nicht so einfach, denn die meisten Bäume sind rechtsdrehend. Claus Fellenstein hatte aber strikt darauf bestanden, weil ein linksdrehender Baum sich besser spalten, drechseln und formen ließ. Das Ergebnis seiner hervorragenden Schnitzkunst war dieser wundervolle Waffenständer, vervollkommnet von einem sich aufschwingenden, gekrönten Adler. Links des Häuptlingsstuhles befand sich eine Madonna mit dem Jesuskind und dahinter prangte an der Wand das Broek’sche Panier mit dem aus Goldfäden gestickten Adler.
Lärmend strömten die Ratsherren in den Saal, nahmen Platz auf den rundum an den Wänden sich aufreihenden Bänken mit den hohen Rückenlehnen. Als alle zugegen waren, huschte als letzter Kaplan Embeco in den Saal. Auf leisen Sohlen begab er sich stillschweigend ans Schreibpult.
Dieses Schleichen, dachte Widzelt, ich kann's nicht leiden! Embeco stand ihm als Schreiber und persönlicher Ratgeber zur Seite. Ob das mit Widzelt und Embeco glatt gehen konnte? Zwischen beiden Männern gärte mühsam unterdrückter Hader. War Foelke der Grund auch unklar, so wollte sie doch ein wachsames Auge darauf haben. Völlig nichtsahnend, bemerkte sie nicht, dass sie selbst der Grund war, weil nämlich Kaplan Embeco die Meinung vertrat, dass Widzelt ihr, der jungen Witwe, nachjage. Wo blieben Anstand und Moral? Gehörte es sich nicht, der Hinterbliebenen zumindest ein Trauerjahr zu gönnen? Darum scherte Widzelt sich offenbar wenig. Desungeachtet buhlte er deutlich und für jedermann sichtbar um die junge Witwe. Das aber konnte Embeco beim besten Willen nicht leiden, da schwoll ihm der Kamm.
Llässig ordnete Widzelt seine Kleider und lehnte sich bequem zurück. Tatsächlich, dieser Häuptlingsstuhl schien magische Kräfte zu haben. Widzelt fühlte, sprach und gab sich wie der rechtmäßige Regent! Kurz und herrisch unterrichtete er den Rat von seinen Plänen. Dabei vermied er jedoch – vorerst - jenen scharfen Ton, welcher Ritter Ocko bei manch wackerem Ratsmitglied leidlich unbeliebt gemacht hatte. Dennoch hatten kleine wie auch mächtige Leute seit langem Ockos Weitblick erkannt und verstanden. Nun aber mussten sie sich plötzlich mit dem Verweser des Landes arrangieren und manchem wurde dabei flau im Magen.
Widzelt suchte Gefolgsmänner und signalisierte Verständnis für die damalige Ablehnung, die man Ritter Ocko zu Beginn seiner Regierung entgegengebracht hatte. Der damalige Dollpunkt war das Lehen gewesen, denn niemand würde sich ungezwungen in Lehnabhängigkeit begeben. Obgleich diese Sache mittlerweile vollständig geklärt war, rollte Widzelt die Vorgänge nochmals auf, dies auch, um seine eigene Position besser zu festigen.
Als unumstößliche Tatsache stand fest, dass Friesland zum unmittelbaren Königslehen zählte. Jenes Lehngut, welches Ritter Ockos Vater zu eigen gewesen war, gehörte zum Königslehen Friesland. Das Königslehen Friesland war einst vom Kaiser an das Haus Geldern verpfändet worden.
Da zu jener Zeit, als Ritter Ocko sein eigenes Erbe antrat, der Geldern’sche Erbfolgekrieg tobte, verhinderte diese politische Situation eine Vertragserneuerung mit dem Hause Geldern. Durch den Tod von Graf Rainald von Geldern war das Lehngut derzeit zurückgefallen in die Hand von König Wenzel. Manch rechtschaffener Untersasse von Ritter Ocko glaubte nun aus diesem Anlaß heraus, das Lehnjoch sei damit abgeworfen worden und man brauche nie mehr einem Lehnherrn zu Diensten zu sein. Welch gravierender Irrtum! Im Gegenteil, das Lehngut drohte vom König eingezogen und gänzlich neu vergeben zu werden.
Erschwerend wirkte sich das Zögern von König Wenzel aus, der den Ausgang des Geldern’schen Erbfolgekrieges abzuwarten gedachte. Wenzel reagierte häufig sehr zögerlich, was politische Entscheidungen anbelangte. Statt zu regieren, bevorzuge er die Jagd, so sagte man landauf landab.
Die Streitigkeiten in und um Geldern zogen sich schier endlos hin. Der Geldern’sche Erbfolgekrieg war schon zur Zeit von Kaiser Karl IV. (+ 29. 11.1378) ausgebrochen und tobte bereits seit 1371.
Nach 10 Jahren Machtkampf übertrug König Wenzel das auf ihn zurückgefallene Lehngut der Grafen von Geldern endlich auf den Herzog von Bayern und genehmigte ebenfalls die erneute Übertragung der Erblehens auf Ritter Ocko, was schließlich am 1. April des Jahres 1381 geschah.
„Man darf nicht vergessen, dass Herzogs Albrecht von Bayern damals der Schwiegervater unseres Königs war. Da hat Albrecht also ein sehr gewichtiges Wort für uns eingelegt“, erklärte Widzelt seinen Ratsherren. Manch einer der wackeren Zuhörer kämpfte bereits mit lähmender Müdigkeit und drum gab es auch keinerlei Widerspruch, was Widzelt ausnehmend erfreute. Drum spendierte er noch einige Humpen Bier, ehe er seine Darlegungen fortführte:
„Ritter Ockos Schritt wurde seinerzeit von einigen seiner Untersassen missverstanden“, erklärte er gefällig. „Ja, lacht nur und hört: Ocko pflegte das folgendermaßen zu kommentieren: ‚Da gibt’s ‘n großen Chor von Stimmen, die alle anders singen.’ Damit meinte er damals jene Häuptlinge, die ihre Freiheitsbestrebungen lautstark skandierten. Wie wir alle wissen, riefen allen voran die Attena von Dornum nach Lehnfreiheit. Und warum?“ Widzelt legte eine bedeutungsvolle Pause ein, ehe er gönnerhaft fortfuhr: „Wer weiß nicht, dass ihnen das verlorene Macht zurückgebracht hätte! – Mancher hat sich damals wohl gefragt, ob nicht tatsächlich die Gelegenheit mehr als günstig gewesen sei, Freiheitsansprüche zu stellen. Vielleicht war es so, wenngleich dies nicht ohne Blutvergießen hätte vonstatten gehen können, denn das Lehen Ostfriesland war an den Grafen von Holland gefallen und der galt als mächtigster Kriegsherr weit und breit. Ich frage euch also: Ist es daher nicht allemal besser gewesen, dass Ritter Ocko diesen aussichtslosen Kampf vermieden hat?“
Müdes Nicken rundum.
„Seht ihr? Ihr stimmt mir zu. Zweifellos, denn übermächtig ist der Zwang gewesen. - Das wißt ihr alle. - Durch Folkmar Allena, der die Schlacht bei Loppersum verloren hatte, ebenso wie durch den Grafen von Holland höchstselbst. Das hat Herzog Albrecht damals laut genug geäußert und seine Heerscharen standen längst jenseits der Ems, bereit zum Angriff. Es wäre mehr als Sorglosigkeit gewesen, diese Drohung zu missachten.“
Der Kaplan kaute überdrüssig an einem Daumennagel, den Ratsherren fielen vor Langeweile fast die Augen zu. Widzelt aber ließ sich nicht berirren. Mit stoischer Ruhe verfolgte er sein Ziel. Nach weiteren langatmigen Ausführungen zur gegenwärtigen Lehnsituation fand nun das gleiche Spielchen vor Widzelts Augen statt wie anno dazumal unter Ritter Ocko. Opposition, Widerrede, Einspruch, Für und Wider... Ein ewiges Geplänkel von nutzlosen Begründungen, Entgegnungen und Einwänden. Drum zog sich die Ratssitzung nahezu ewig in die Länge. Stunde um Stunde verrann mit schier endlos scheinenden Wortgefechten, die in ihrer Sinnlosigkeit schon wieder komisch wirkten. Es war zum Verzweifeln. Musste nicht eigentlich jeder dieser klugen Ratsherren wissen, dass es nur diesen einen Weg gab, um Ströme von Blut zu vermeiden?
Foelke bemerkte voller Unruhe, wie Widzelt seit längerem zerstreut auf seinem Stuhl hin- und herrutschte.
Teufel! Er hatte wohl zu viel Bier getrunken. Hinausgehen konnte er nicht. Das hätte man als Beleidigung angesehen. Er konnte und durfte keineswegs den Saal verlassen, das geboten Sitte und Brauch, und außerdem würde er dann womöglich wichtige Dinge verpassen. Eine Sitzung war eine Sitzung im wahrsten Sinne des Wortes, zumindest für ihn, den Ruwart und Stellvertreter des unmündigen Häuptlings. Verzweifelt fasste Widzelt eine Unterbrechung der Sitzung ins Auge.
„Ach was“, rief er plötzlich laut in den Saal, „ihr Herren werdet doch wohl Keno, Ritter Ockos minderjährigen Sohn, als legitimen Erben bestätigen!“
Das stützte der Rat einhellig ohne Ausnahme und ohne jeglichen Einwand.
„Kommen wir somit zum Schluß. Es führt kein Weg daran vorbei, Herzog Albrecht, den Grafen von Holland als Herrn anzuerkennen. Wollt mir bitte folgen, edle Herren!“, vertrat Widzelt vehement seinen Standpunkt.
Da stimmte ihm der Kämmerer plötzlich zu und wie durch ein Wunder folgten ihm alle anderen Ratsmitlieder. – Aber vielleicht verspürten auch sie lediglich das drängende Bedürfnis, das heimlich Örtchen aufzusuchen, ehe sie sich vollpieseln würden?
Gleich wie, Junker Keno möge seinem Vater unter Vormundschaft seiner Mutter und Widzelt nachfolgen, beschied der Rat. Die Lehnmannschaft solle weiterhin den Charakter des Kronvasallen besitzen, so lautete der Beschluß.
Ein mokantes Lächeln zuckte um Widzelts Lippen, als er den Ratsspruch vernahm. Das konnte er nicht unterdrücken. - Ha! Genau das war sein Bestreben gewesen! Er triumphierte innerlich: “Kronvasall!“ Damit würde er im Dienste des Herzogs allzeit zu ’Rat und Hilfe’ verpflichtet sein und in dieser Eigenschaft künftig also auch an der Ausübung der gräflichen Hoheitsgewalt mitwirken dürfen, sofern der Graf das wünschte. Jetzt musste er nur noch geschickt mit dem Herzog verhandeln.
Endlich konnte er erfolgreich und guten Gewissens die Ratssitzung schließen. - Eilends suchte er das ’heimlich‘ Örtchen auf, um sich Erleichterung zu verschaffen. ‚Solch ausgedehnte Sitzungen bringen mich um’, dachte er und ‚nein, so kann es nicht weitergehen. Da muss dringend Abhilfe geschaffen werden.’ Umgehend beschloss er, geeignete Maßnahmen zu ergreifen.