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Kapitel 5 - Versöhnung mit Folkmar Allena

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Die Bestattungskosten für Ritter Ocko waren immens gewesen. Die sieben Tage andauernden Trauerfeierlichkeiten hatten ein gewaltiges Loch in die Staatskasse gerissen. Aber nun schien es wieder aufwärts zu gehen in Widzelts Herrschaftsgebiet.

Auch hatte der Krieg viel zerstört, was wieder aufzubauen war, und wenngleich Widzelt sich mit Folkmar Allena ausgesöhnt hatte, war diese Sache noch lange nicht vom Tisch, denn Folkmar bekam seine angestammten Güter, die Ritter Ocko ihm vor zehn Jahren nach der Schlacht bei Loppersum abgenommen hatte, noch immer nicht zurück.

Zunächst einmal gab Folkmar sich damit zufrieden, von der Missetat, Ockos Tod mittel- oder unmittelbar verschuldet zu haben, freigesprochen zu sein. Doch blieb das Faktum bestehen, dass er damals sein ritterlich Wort gegeben, Schutz und Freies Geleit versprochen hatte und dass er als Feldherr persönlich dafür verantwortlich zeichnete und haftete. Trotz dieses Gelöbnisses aber war das verhängnisvolle Unglück geschehen. Ein Wortbruch, der gewöhnlich Wehrgeldzahlung und weitergehende Entschädigungen nach sich zog. Schon allein aus diesem Grunde war der vor Ockos Tod geschlossene Friedensvertrag nichtig, abgesehen davon, dass der Vertrag nach Ockos Tod ohnehin hätte neu besiegelt werden müssen.

Mochte Ritter Ocko auch die Rückgabe von Ländereien versprochen haben, Widzelt sah nun keinerlei Veranlassung, den in der “Schnappe“ geschlossenen Vertrag auch nur ansatzweise zu erfüllen. Im Gegenteil konnte Folkmar sich glücklich schätzen, nicht obendrein noch Kriegsentschädigungen leisten zu müssen.

So musste Folkmar Allena trotz des ursprünglich so erfolgreichen Angriffs auf Aurichhove unverrichteter Dinge wieder abziehen. Wer ihm das eingebrockt hatte, blieb allen ein Rätsel. Dennoch, Folkmar meldete neuerlich Ansprüche auf das Erbe seiner Frau an und berief sich - mit Recht - auf das damalige Urteil des Landesfriedensgerichts, nach welchem Ritter Ocko sachfällig geworden war.

Der Osterhusener Verwandte stellte also immer noch eine latente Gefahr dar für die - noch leicht schwächelnde - Regierung mit Widzelt als Verweser an der Spitze. Dem musste man Rechnung tragen und dies gleichwohl eingedenk der Tatsache, dass Folkmar Allena sehr wohl wusste, dass Ritter Ocko ihn nach der verlorenen Schlacht von Loppersum gnädig davonkommen ließ, indem er ihn nur des Landes verwiesen, nicht aber hingerichtet hatte. In Italien wäre Folkmar kurzer Hand dem Schultheißen und seinen Vollstreckern übereignet worden. Ein altes römisches Sprichwort besagte: 'tötest du einen Feind, dann kommt er nicht wieder, verbannst oder arretierst du ihn, musst du damit rechnen, dass er sich rächt'. Eines war so sicher wie das ’Amen’ in der Kirche: Folkmars Söhne würden ihren Vater ebenfalls gerächt haben.

Überdies hatte Ocko sich gescheut, einen so nahen Verwandten hinrichten zu lassen. Immerhin war Folkmar ja der Gemahl seiner Brudertochter Adda. Daneben – und auch das war nicht unerheblich - war Folkmar der mächtigste Häuptling diesseits der Ems gewesen, bevor Ocko ihm die halbe Krummhörn abgejagt hatte. Dessen ungeachtet nannte Folkmar Allena einen gewaltigen Gebietsanteil der Drenthe und des Groningerlandes sein Eigentum und er konnte auf eine überaus einflussreiche Verwandtschaft zählen. Infolgedessen war es opportun gewesen, darüber zu befinden, ob eine Hinrichtung tatsächlich von Nutzen sein würde, einmal ganz abgesehen von den Verwerfungen jenseits der Ems, die das ausgelöst hätte. Im übrigen empfand er es geradezu als plump und keineswegs ritterlich, Widersacher einfach hinzurichten, um sie loszuwerden.

Ritterlich hatte Ocko sich immer verhalten. “Ritterlich“, dieses Wort, das Höflichkeit, gerechte Gesinnung, Treue, Offenherzigkeit und Großzügigkeit verband, es traf zu auf Ocko. Diese Eigenschaften hatte er sich nicht zuletzt auch am Hof der Königin Johanna von Neapel erworben. - Wohl versuchte Widzelt ihm darin nachzueifern, dennoch war Ocko nicht sein großes Vorbild. Offenbar von anderem Kaliber, trat Widzelt vielmehr in die Fußstapfen des alten Häuptlings von Brookmerland, Keno Hilmerisna.

Ob Ocko seine Milde bereut hat, als Folkmar plötzlich mit Heereskraft vor seinen Toren stand? Foelke wusste, dass ihr Gemahl das wohlbedacht hatte. Die ewige Blutrache, wo ein Mord den anderen nach sich zieht und nicht zuletzt die damit einhergehenden Kriege, wie Ocko es in Italien erlebt hatte, ließen ihn damals von der brutalen Hinrichtung Folkmars Abstand nehmen. Die Konsequenzen daraus waren ihm jedoch durchaus bewusst gewesen. Er wollte seine eigene Familie schützen. Das hatte für ihn höchste Priorität. Keine Frage, dass Folkmar Allena eines Tages seine Güter einfordern würde. Das bedeutete nichts anderes als eine banale Selbstverständlichkeit. Nachdem aber zehn Jahre ins Land gezogen waren, ohne den kleinsten Anhaltspunkt auf einen Rückgewinnungsversuch seitens Folkmar Allena erkennen zu können, schien es Ocko, als bestünde keine Gefahr mehr. Träge und müde geworden, spielte sicher auch sein fortschreitendes Alter eine gewisse Rolle, und vor allem die ständigen Schmerzen, unter denen er litt. Er aß zu viel, bewegte sich wenig, machte kaum Waffenübungen, betätigte sich nicht einmal mehr als Lehrmeister in der Kampfkunst. Häufig quälten ihn auch Schmerzen, die von alten Kriegsverletzungen herrührten. Das steife Knie, der zerquetschte Fuß oder auch andere fortschreitenden Zipperlein fesselten ihn oft tagelang ans Bett. Der Schwung war dahin. Aus ihm war ein Bücherwurm geworden, der den ganzen lieben langen Tag dasaß und las. Aber das tat er mit Vergnügen. Notwendigerweise erfüllte er andererseits aber auch, soweit möglich, die in ihn gesetzten Erwartungen, und er empfing auch allerhand Leute; wenn es sein musste, sogar im Bett. Wenn seine Gesundheit es zuließ, reiste er manchmal sogar zur Ockenburg, um dort nach dem Rechten zu sehen, und von dort aus weiter zum Herzog nach ‘s-Gravenhage oder dem Bosch (Hertogenbosch). Wie er Foelke enthüllte, sind diese Reisen damals rechte Tortouren für ihn gewesen.

Infolge seines Lehnvertrages mit Herzog Albrecht glaubte Ocko, sein Land gebührend geschützt zu haben. Auf den überraschenden militärischen Überfall und der damit einhergehenden Belagerung von Aurichhove durch Folkmar Allena war er deswegen nicht gehörig vorbereitet gewesen. Vor diesem Hintergrund war seine Entscheidung die einzig richtige gewesen: Frieden schließen, statt sinnlos Verwüstung und Tod hinnehmen.

Folkmar Allena hatte sich in den vergangenen Jahren zu einem berühmten Feldherrn gemausert. Wäre es zum Äußersten gekommen und Folkmar hätte das ’Griechische Feuer‘ eingesetzt, es wäre ein grauslicher Kampf geworden. Dieses Gemisch aus Salpeter, Schwefel, Ammoniaksalz, Harz und Terpentin kannte Ocko zur Genüge. Es wurde im Nahkampf in flüssiger Form eingesetzt, wobei es fauchende Flammen aus den Kupferrohren schoss. Diese Flammenwerfer verbrannten grausam Mann und Maus. - Erfahrungsgemäß wurde das ’Griechische Feuer‘ auch als Sprengmischung verwendet und in handgerechte, dünnwandige Tonkrüge gefüllt, die man etwa 100 Fuß (ca. 30 m) weit werfen konnte. Die Krugöffnung wurde mit einem Leinwandverschluss verstopft, der in Schwefel getauchte Schnüre festhielt. Die Schnüre hingen in den Topf hinein und wurden kurz vor dem Wurf angezündet.

Im Krieg gegen Bernabo Visconti musste Ocko erleben, was diese schreckliche Waffe anrichtet. Herzog Otto von Braunschweig hatte sich ihrer bedient und Ottos Vetter, ’der zweite Otto von Montferrat‘ war ein Meister in der effektiven Handhabung dieser Waffe gewesen. - Ocko wollte diese explodierenden Geschosse nie einsetzen. ’Ein wahrer Ritter benutzt solch unchristliche Waffen nicht‘, hatte er wiederholt geäußert. ’Und außerdem: Krieg ist die Hölle – immer!’ Das warf ein helles Licht auf seine Beurteilung hinsichtlich der Krieg führenden Parteien in Italien. Er war froh und glücklich, dem einigermaßen gesund entronnen zu sein.

Schlimm genug, was Folkmar Allena mit seinen Wurf- und Schleudermaschinen angerichtet hatte. Mit seinem 40 Fuß hohen Tribok wurden gewaltige Steine und in Töpfe gegossene Bleimassen gegen die Mauern von Aurichhove katapultiert. Folkmars Hagelschütz konnte gleichzeitig Dutzende Steine über die Mauer befördern und mit der kleineren Balliste schleuderten seine geübten Kanoniere faustgroße Steine direkt auf die Schlossfenster. Welch ein Glück, dass diese schmiedeeiserne Gitter besaßen!

Am Schlimmsten - nach den Exkrementen, die mit den Schleudermaschinen über die Mauern befördert wurden, waren die Bienenkörbe gewesen. Wütend schwirrten die gereizten Tiere aus den geborstenen Körben und stachen solange auf die belagerten Burgmannen ein, bis diese in keine Rüstung mehr passten. Die widerlichen Exkremente hatten nur tagelanges Reinigen erfordert, die Bienen aber unzählige Menschenleben gekostet.

Der mittlerweile trockengefallene Wassergraben stellte ein weiteres Problem dar. Folkmars Söldnertruppen beschäftigten sich bereits damit, den Graben zu verfüllen, um verschiedene Übergänge zu schaffen. - Mein Gott, zehn Pferdelängen war der Graben breit und die Angreifer wollten ihn zuschütten.

Wer kannte diese Prozedur nicht? Zuerst nahm man Erde, Stroh, Holzbündel, Baumzweige, ausgerissenes Gebüsch und wenn das nicht ausreichte, griff man auf Stiere, Kühe, Kälber, Schafe und anderes Schlachtvieh zurück. In Italien hatte Ocko miterlebt, wie sogar Gefangene bei lebendigem Leibe in die Gräben geworfen wurden, um einen Übergang zu erzeugen.

Ja, es war richtig gewesen, den Krieg zu beenden, denn Folkmars Söldner hätten den Bauern Saatgut und Vieh geraubt, die landwirtschaftlichen Wagen, Werkzeuge und Pflüge zu Waffen umgeschmiedet und zu guter Letzt das ganze Land mit der Brandfackel durchlaufen.

Zeitgleich war damals der Bischof von Münster und jetzige Stuhlinhaber von Utrecht, Florenz von Wevelinghofen, gegen die Groninger marschiert. Widzelt fragte sich deshalb, ob der Bischof die Gunst der Stunde, das heißt die Abwesenheit des wichtigsten Heerführers der Groninger, zu seinem Vorteil nutzen wollte oder ob er rein zufällig zur selben Zeit gegen Groningen marschiert war. - Womöglich göttliche Fügung? – Dann, deo gratias! – Möglich aber auch, dass verabredet gewesen ist, dass Ocko den Angriff des Bischofs auf Groningen von diesseits der Ems flankieren sollte, um die Groninger in die Zange zu nehmen.

Widzelt erinnerte sich:

Ocko hatte ihn einen Monat zuvor beauftragt, die Leute aufzubieten und eine Waffenkontrolle durchzuführen. Dem Junker ging plötzlich ein Licht auf: Dann war ja Folkmar Allenas Überfall auf Aurichhove eine überaus kluge Vorgehensweise gewesen! Welch ausgefuchster Winkelzug!

Der überfallartige Angriff schloss Ockos Heeresscharen hermetisch ein. Damit verhinderte Folkmar jegliche Unterstützung durch Ocko, die dieser dem Herzog bei dessen Kampf um Groningen hätte leisten müssen.

Gab es für den Erzbischof von Utrecht vielleicht noch einen weiteren Grund gegen Groningen zu marschieren? Denkbar schien Widzelt auch das: Vielleicht wollte der Bischof von Utrecht Ritter Ockos Herrlichkeit durch einen Angriff auf Groningen entlasten? – Erzbischof Florenz von Wevelinghofen hatte immer in einem hervorragend guten Verhältnis zu Ocko gestanden. - Aber nein, entschied Widzelt bei sich, eher unwahrscheinlich! - Wie aber kam es dann zu dem Angriff auf Groningen? Widzelt zermarterte sich das Hirn, um die Zusammenhänge auseinanderzudividieren:

Als Bischof von Münster hatte Florenz von Wevelinghofen dem Utrechter Erzbischof buchstäblich seinen Stuhl “unterm Hintern weggekauft“. Gegen eine große Geldsumme wich Arnold II. von Horn auf den Bischofsstuhl von Lüttich aus. Das bedeutete für Arnold von Horn aber im Grunde nur eine Heimkehr zu seinen Wurzeln, dem Hause Brabant.

Ein geschickter Schachzug, meinte Widzelt. Das müsse er sich merken! Aber Foelke lachte nur darüber. Er werde kaum die Möglichkeit haben, einen Bischofsstuhl zu kaufen. Das wolle er auch nicht, es gehe ihm lediglich um nützliche familiäre Stränge.

Jedenfalls wurde somit das mächtige Haus Brabant Inhaber eines sehr belangreichen Bischofsstuhls. Dem Hause Brabant entstammte ja auch Margarethe, Gemahlin von Kaiser Ludwig dem Bayern und Mutter des Herzogs Albrecht von Bayern. Sie hatte anno 1345 den Hennegau samt Holland und Zeeland an das Haus Bayern gebracht. Herzog Albrecht und Arnold von Horn waren also ebenfalls miteinander verwandt.

Florenz von Wevelinghofen entstammte indes dem Hause Hochstaden, das heißt, seine Wurzeln fußten in einer Nebenlinie der Ezzonen, jenes mächtigen rheinischen Pfalzgrafengeschlechtes, welches von Alters her über zahlreiche Außenposten in Friesland, Westfalen und den Rheinlanden verfügte. Als Grafen von Werl, die ebenfalls der Sippe der Ezzonen entstammten, stellten sie überdies in Friesland lange Zeit die Grafen.

Die Translation von Florenz von Wevelinghofen (+1393) hatte Albrecht von Holland tatkräftig unterstützt, was ihm dieser mit Gewissheit gut vergelten mochte. Zweifellos war dieser selbstbewusste, arrogante Kriegsherr dem Grafen von unschätzbarem Nutzen.

Konnte es anders sein, als dass der Graf von Holland den Erzbischof von Utrecht Florenz von Wevelinghofen unterstützte? - Wohl kaum. - Die Freiheitsbestrebungen der Groninger tangierten den Grafen von Holland ebenso wie den Erzbischof von Utrecht, und zwar in übergroßem Maße sogar, denn der Graf gedachte, seine verbrieften Rechte in Friesland mit Gewalt durchzusetzen. Hierzu gehörte auch die reiche Handelsmetropole Groningen mit seinem fruchtbaren Umland. Unter diesen Umständen war es sehr wahrscheinlich, dass der Wittelsbacher Graf von Holland und der Erzbischof von Utrecht eine Allianz geschlossen hatten, um die Groninger endgültig zu unterwerfen. Das alles geschah genau zeitgleich mit Folkmar Allenas Angriff auf Ritter Ocko in Aurichhove. Gewiß war es kein Zufall, dass Groningen gerade jetzt ohne seinen wichtigsten Kommandanten dastand. Für die Groninger Miliz, die ohne Folkmar Allena nahezu hilflos war, spitzte sich die Lage daher zusehends zu, denn... das ist seit Urzeiten Faktum: das stärkste Heer hat immer Recht! Schreckliche Dinge warfen ihre schwarzen Schatten voraus, weil sich die städtische Miliz nur mühsam gegen die scharfen militärischen Angriffe verteidigen konnte. Die Groninger sandten darum flugs nach Aurichhove zu Folkmar Allena, um dessen Beistand einzufordern. Dieser folgte hurtig dem Ruf und eilte mit seinen Söldnern zu Hilfe und dies nicht zuletzt, um seine eigenen, gewaltigen Güter im Groningerland vor dem Zugriff des Grafen zu retten.

Widzelt vermutete, dass auch Potho von Pothenstein, der gegenwärtige Bischof von Münster, seine Hände im Spiel hatte, denn auch er entstammte ja dem bayerischen Pfalzgrafengeschlecht und war somit stammverwandt mit dem Grafen von Holland. Es war nicht zu übersehen: Albrecht von Holland hatte alle belangreichen Positionen mit Verwandten besetzt. Solche strategischen Schachzüge vollführte der Herzog von Bayern so geschickt wie kein anderer.

Foelke kommentierte diese Sachlage verhältnismäßig spitzzüngig. Es sei im Grunde für den Herzog wohl eher schwierig, Männer für belangreiche Posten zu finden, die keine verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Wittelsbachern hätten.

Davon abgesehen: Diese Stränge leisteten erfahrungsgemäß hervorragende Arbeit. Auf diese simple Art und Weise wurden die Groninger durch den Wittelsbacher quasi eingekreist und zwar durch den Erzbischof von Utrecht, den Herzog von Bayern persönlich und diesseits der Ems durch den Bischof von Münster und natürlich durch Widzelt selbst, der sich dazugesellte und als Verweser in Ritter Ockos Erbe eingetreten war. Er hatte von nun an die Anliegen seines Lehnherrn, nämlich die des Grafen von Holland wahrzunehmen.

Widzelt besaß etliche Anverwandte, verstreut über die ganze Grafschaft von Herzog Albrecht. Ernsthaft beabsichtigte er, dieses verwandtschaftliche Netz besser zu nutzen und stärker auszubauen als dies unter Ocko geschehen war. Zweifellos versprach dieses Netz mit Sicherheit auch eine gewisse Erweiterung und Festigung seiner eigenen Macht. Dennoch vegetierten Widzelts verwandtschaftlichen Stränge mehr oder weniger im Verborgenen dahin. Obwohl zu den vormaligen Herren aus dem flandrischen Gebiet gehörend, blieben sie unerkannt und unbenannt. Niemand brachte sie ans Licht, niemand grub sie aus, auch Widzelt nicht. Gab es sie überhaupt noch in den Köpfen der Menschen? Gewiß doch.

Seit Widzelts Ahnherr, Kene aus dem WesterBrook von Groningen, anno 1260 seinen Wohnsitz auf den Gerichtshof an der Riede im Land an der Maar, dem Brookmerland, verlegt hatte, verblaßten viele der verwandtschaftlichen Stränge jenseits der Ems, die um viele Ecken herum vom Hennegau (Belgien) hierher führten. Sie lebten weniger gegenwärtig wie vordem, als Gilles II. de Trazegnies (+ 1204) noch Connétable des Grafen von Flandern gewesen war. Aber Widzelt besaß eine Auflistung der Ahnen, nicht zuletzt, weil diese auch wichtig für Eheschließungen war. Man musste schließlich wissen, wann man den Dispens des Papstes benötigte, um heiraten zu dürfen.

Als Kind konnte er seine Vorfahren herunterbeten, weil man es ihm eingehämmert hatte. Ad hoc wußte Widzelt immer noch fast alle Namen sogar mit zugehörigem Wappen. Manches vergißt man nicht so leicht.

Einer seiner berühmten Vorfahren war Gilles de Trazegnies le Brun. Er begleitete König Ludwig den Heiligen, auf dem 6. Kreuzzug nach Ägypten und stieg auf zum Heerführer und Connétable von Frankreich in Diensten von Karl von Anjou, dem Bruder des französischen Königs.

Gilles le Brun war Heerführer in der Schlacht bei Benevent (1266) gegen Manfred von Sizilien gewesen. Er hatte die Truppen von König Karl von Anjou geführt.

Wann der Connetablé starb, wußte Widzelt nicht genau, nur dass es wohl in etwa anno 1272 gewesen war, weil Gilles le Brun - genau wie Ockos Bruder Ihmel - einen tödlichen Reitunfall gehabt hatte, und Ihmel war 100 Jahre später verunglückt. Schon merkwürdig, wie manche Vorkommnisse einander gleichen.

Auch Gilles Bruder Othon (=Otto) III. de Trazegnies war Kreuzfahrer gewesen wie sein Vater und dessen Vater auch schon. Es war zur Tradition geworden im Hause de Trazegnies - eine blutige Tradition... Nach der Heimkehr von den Schlachtfeldern des Kreuzzuges heiratete Otto III. eine Frau aus dem Hause Wedergrate bei Kimsweerd in Friesland jenseits der Ems.

Oh ja, berühmte Edelmänner brachte das Geschlecht Trazegnies hervor. Othon III. de Trazegnies erbte das Amt des Connétable der Grafen von Flandern. Nach dem Tode seiner Mutter Mathilde de Alleu von Neigem (+1219) wurde Otto III. Herr von Meerbeke und Neigem. Mit Otto begann das Haus van Wedergrate als Abkommen des Hauses Trazegnies. In seinem Testament nannte Otto sich erstmals Herr van Wedergrate.

Widzelt wußte auch, dass die Burg von Donia bei Kimsweerd als Lehngut der Herzöge von Brabant zurück auf jene Zeit datierte.

Stets war man sich sehr genau des hohen Ranges der Familie und ihrer Abstammungslinien bewußt, zu denen auch der Allena- und der Cirsena-Clan zählte.

Jetzt zeugte nahezu nur noch das grandiose Adler-Wappen vom hohen Ansehen der Sippe. Den herausragenden Unterschied zu den übrigen Sippschafts-Wappen stellten allerdings die 3 Kronen dar, welche die tom Brook zusätzlich im Wappenschmuck führten.

Seine Familie wieder der ihr zustehenden Macht zuzuführen, das war Widzelts größter Traum. Zur Erreichung dieses Zieles gehörte ebenfalls die Eheschließung mit Ockos hinterbliebenen Frau, um eine vollkommene Legitimation zu erreichen.

Er rieb sich zufrieden die Hände: Zweifellos, Ritter Ockos Tod hatte ein vorläufiges Ende in der Auseinandersetzung mit Folkmar Allena herbeigeführt. Keineswegs aber wurde dadurch der von Ocko vorgezeichnete Pfad zum Aufstieg verstellt und diesen Weg wollte Widzelt nun mit Druck voranschreiten. Standen ihm nicht alle Möglichkeiten offen, wenn er erst einmal fest in Diensten seiner gräflichen Gnaden wurzelte?

Zuvörderst zog Widzelt Kenisna tom Brook erst einmal durch die Lande – durch seine Lande, auf Nebenwegen, incognito, versteht sich! Dafür ließ er sich sogar im Kloster Marienthal eine Tonsur rasieren, einen Mönchshaarschnitt verpassen und das restliche Haar mit Henna rot einfärben. Diese Verkleidung als Mönch mit dem Bart, den er sich nun wachsen ließ, tarnte ihn so gut, dass selbst der Abt ihn erst erkannte, als er die Stimme hob. Das zeigte Widzelt, dass er daran noch arbeiten musste. Wenn er seine Stimme gut im Griff hatte, werde ihn niemand mehr erkennen, so wähnte er.

Widzelt wußte genau, dass er den Beistand seiner Untersassen benötigte, um sich gegen Keno, den legitimen Erben, durchsetzen zu können. Gegenwärtig befand er sich durchaus in einer kritischen Phase. Das bedeutete, stets auf der Hut zu sein! Da gab es etliche ernst zu nehmende Bedrohungen zu beachten. Schloss man ein Bündnis gegen ihn? Favorisierte man Keno zu sehr? Widzelt musste unbedingt herausfinden, ob man ihm wohlgesonnen entgegenkam, und er musste sich seiner Untersassen sicher sein. Falls er ihnen nicht vertrauen konnte, so war es um so notwendiger, sich auf seine natürlichen Verbündeten, den Hauptleuten und Drosten seiner Liegenschaften und Besitztümer verlassen zu können. Ja oder nein, für oder gegen ihn, das würde nicht nur seine weiteren Überlegungen und Schritte beherrschen, sondern weitreichende Konsequenzen für seine Zukunft haben.

Aber das wollte er ja nun herausfinden. - Herrlich aber waren Sonnenschein und Wärme. Manchmal trieb ihm die Schönheit ringsum sogar die Tränen in die Augen. In der Nähe des Meeres fegte der Wind den Nebel allerdings oft unangenehm kalt durch die Kleidung. Dann suchte er sich möglichst rasch eine schützende Unterkunft.

Das Schlimmste auf seiner Reise schien Widzelt neben den Unbillen des Wetters das Maultier, auf dem er reiten musste. Dreißig edle Pferde zu Hause im Stall und er saß auf einem widerspenstigen Maultier und das Lasttier, welches seine Ausrüstung trug, war ein bockiger, schreiender Esel.

Auf dem mühsamen Weg von Dorf zu Dorf stellte er jenen Leuten, die ihm unterwegs begegneten, viele Fragen, und wenn er im Wirthaus sass und das karge Mahl zu sich nahm, dann setzten sich wohl hin wieder ein oder zwei Knechte zu ihm oder auch eine freundliche Magd, die er ausfragen konnte. Die ländliche Bevölkerung schien recht brav und Widzelt als Nachfolger von Ritter Ocko wohlwollend oder zumindest nicht ablehnend gesonnen zu sein.

Man half einander auf dem Lande. Das war Tradition – uralt – seit tausenden von Jahren gepflegt und so kam man dem armen Mönch mit den leeren Taschen stets freundlich entgegen. Auch mit Rat und Tat stand man ihm gefällig bei. Widzelt fand ebenso Unterschlupf auf adeligen Höfen wie bei redlichen Bauern und Hirten, die ihn selbstredend beherbergten. Als er jedoch eines guten Tages in Amersfoort im Wirtshaus „Zum silbernen Mond“ einkehrte, wo er auch zu nächtigen gedachte, erkannte ihn ein Höfling aus dem Haag und machte großes Trara. Von da an war es vorbei mit Widzelts Schleichwegen, denn, wohin er auch kam, erzählte der geschwätzige Kerl stolz von dem Häuptling von Brookmerland und dessen Mummenschanz.

Das blieb Widzelt nicht verborgen und er warf das Mönchsgewand ab und trat offen als Häuptling auf, nahm sich ein gutes Pferd, sammelte sich einen zuverlässigen Tross samt Spielmann, mit dem er von einer Ocken-Burg zur andern reiste, bis hinauf nach Brüssel.

Dem Herrn sei Dank, ging es nun fröhlich singend rasch voran. Es blieb Widzelt sogar noch Zeit für das, was sein Herz am meisten begehrte: das Vergnügen der Liebe. Er frönte der Lust und die höchste aller Freuden war es für ihn, einer schönen Frau rührig einzuheizen und das Weib in seinen Armen gurren zu lassen vor Vergnügen. Das fuhr ihm heiß in alle Glieder und voller Lust küßte er seine Nymphe auf den Rosenmund. Wo immer er Gelegenheit fand, ergriff er die Gelegenheit, bei Tag und Nacht und niemand brachte ihn davon ab. Und kosteten ihn seine lustvollen Rangeleien auch so manches Geldstück, so wollte er diese doch voll auskosten nach allen Regeln der Liebeskunst.

Wenn die „Vergnügungsfahrt“ anderntags dann fortgesetzt wurde, besang der Spielmann frisch und frei zum Gaudi des Trosses in losen Versen das Rumsen und Bumsen mit lockigen Schätzchen und groben Klötzchen. Das war ein lustiges Reisen und jeder fand es auf höchst angenehme Weise schlüpfrig.

Nachdem alle Brook’schen Besitzungen abgeklappert waren, entließ Widzelt seine Begleiter, nahm sich ein Schiff und reiste wieder heim.

Dort wurde er schon händeringend von Foelke erwartet, denn seit der bestandenen „Bahrprobe“ von Folkmar Allena war die Welt eine andere geworden. Als Landesherrin fühlte Foelke sich schier überfordert, denn ihr Folkmar Allena stellte Forderungen, denen sie nicht gerecht werden konnte, ohne zuvor Rücksprache mit Widzelt genommen zu haben.

In den verflossenen Jahren hatte Folkmar Allena sich zu einem der mächtigsten Kriegsherrn entwickelt, dem es im letzten Februar sogar gelungen war, die königliche Festung bei Groningen zu erobern. Nein, er durfte keineswegs unterschätzt werden und es war besser, ihn zum Freunde als zum Feinde zu haben.

Jedoch blieb nach wie vor ungeklärt, wer letztendlich in dem unseligen Krieg zwischen Ocko und Folkmar gesiegt hatte. Das brannte Foelke auf der Seele. Gesiegt und doch verloren, so stellte sich ihr das Bild von Folkmar Allena dar.

Widzelt indes, legte die Sache in allen Punkten anders aus. Für ihn hatte der Anverwandte aus dem Groningerland auf der ganzen Linie verloren. Der mächtigste Heerführer aus dem Groningerland musste sich Widzelts Wünschen unterwerfen. Welch eine Genugtuung!

Hatte Folkmar Allena sich damals in schamloser Weise seiner Würde begeben, indem er, im Staube kriechend, seine Ehre zurückeroberte? Oder war dieser Akt der Selbstüberwindung ein meisterlicher, vielleicht sogar genialer Schachzug gewesen?

Beide Männer konnten großen Erfolg erzielen und doch trug Folkmar Allena lediglich einen temporären Sieg davon, während Widzelt über ihn triumphierte, indem es ihm gelang, Folkmar seinen Willen aufzuzwingen.

Verschärfte das die Lage? Wie sollte Foelke nun auf die neuerlichen Forderungen ihres Schwippschwagers reagieren? Konnte es Widzelt vielleicht gelingen, dies zu nutzen, um bei gemeinsamen Interessen diesseits und jenseits der Ems eine erquickliche Zusammenarbeit zu erreichen? Schwierig, äußerst schwierig, zumal Widzelt den Prämonstratensern zugetan war und Folkmar Allena den Zisterziensern die Hand reichte, Mönchsorden, die einander heftig bekriegten. Würde es möglich sein, das Gift zu entziehen, das sich ständig neu zusammenbraute?

Allerdings, Widzelts Reise zu den brook’schen Gütern und Burgen jenseits der Ems bis hinauf nach Ukkel konnten dem Junker über so manche Ungereimtheiten die Augen öffnen. Fleißig hatte der Junker jede Gelegenheit genutzt, um belangreiche Gespräche zu führen. Dennoch dauerte es begreiflicherweise einige Zeit, bis er sich überlegt hatte, wie er es planvoll fertigbrächte, Folkmar Allena auf seine Seite zu ziehen, ohne auch nur einen Deut (= geringste holl. Münze) von seiner eigenen Macht hergeben zu müssen. Die gegenwärtige Situation drängte allerdings und bis zur Einigung durfte nicht mehr allzuviel Zeit verstreichen, sonst würden seine Pläne gnadenlos im Sumpf versinken. Wichtig blieb indes, dass die Lage sich für Widzelt noch ein klein wenig günstiger fügen musste, um Folkmar Allena vollständig überzeugen zu können.

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