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Kapitel 2 – Die Prozession
ОглавлениеAls Foelke mit ihren Kindern auf dem Kirchhof von Marienhafe eintraf, erwartete man sie bereits ungeduldig, denn ohne die Burgherrin konnte die ehrwürdige Prozession anläßlich der Feier zu Mariens Geburtstag nicht beginnen.
Das Standbild der Jungfrau Maria funkelte in der aufgehenden Sonne, köstlich geschmückt mit Perlenschnüren, polierten Edelsteinen und goldenen Ketten. Auch Ocko hatte Erkleckliches gestiftet, wie es einem Landesherrn zukam.
Wieder stiegen Tränen in Foelke auf. Solche Momente ließen oft eine Tränenflut aus ihr hervorbrechen. Dafür sorgten auch die vielen freundlichen Worte, mit denen man sie allenthalben bedachte. All die gut gemeinten Zusprüche verstärkten nur noch das Gefühl der Verzweiflung in ihr. Es schien ihr, als stünde sie vor dem Trümmerhaufen ihres Lebens, einem riesengroßen, rauchenden Trümmerhaufen...
Gewiss, sie hatte ja noch ihre Kinder, aber auch die würde man ihr bald wegnehmen und ins Kloster oder in die Ritterausbildung stecken. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Als der Festzug sich endlich in Bewegung setzte, war sie nur noch ein verzweifeltes Häufchen Unglück mit rot geweinten Augen und verquollenem Gesicht.
Zuerst einmal wurde die Prozession um den Kirchhof herum geführt. Das beruhigte Foelke, und es ging ihr bald besser, denn nun zogen sich die Menschen von ihr zurück und beschäftigten sich fürderhin mit ihren eigenen Problemen.
Der Schatten der erwachenden Bäume legte sich über den Blütenteppich am Wegesrand. An der Südseite des Domes fiel Foelkes Blick auf den Steinfries. Dieser Fries, er erzählte eine faszinierende Geschichte aus alten Zeiten. Nach dem Brand des Domes anno 1386 hatte Ocko den Fries neu anfertigen lassen. Bisweilen hatte er ihr die Bedeutung der einzelnen Teile erklärt. Einmal sogar, Ocko hatte zufällig seine schöne Laute dabei, einmal sogar hatte er wie ein Barde die Geschichte vorgetragen. Sie hatten im warmen, duftenden Gras gesessen, umgeben von leuchtenden Butterblumen und gemeinsam hatten sie viel gelacht und gesungen… die Bienen summten, die Sonne lachte auch… So unendlich glücklich waren sie gewesen, dass sie geglaubt hatte, das Glück werde niemals enden. Noch heute ging sie gerne barfuß im Gras spazieren und dachte an diese schöne Zeit. - Das waren köstliche Stunden! Er war all mein Glück. - Ocka war noch ein süßes, kleines Mädchen, pflückte Blümchen und lief ständig hinter Keno her, um sie ihm zu schenken… Ja, man muss für alles zahlen – auch für das Glück...
Wieder musste sie gewaltsam die Tränen zurückdrängen und konzentrierte sich eisern auf den Fries an der Kirche. Der war nach dem schlimmen Kirchenbrand noch nicht ganz wieder fertiggestellt, aber der Steinmetz Fellenstein und seine Gesellen arbeiteten fleißig daran.
Ocko hatte eine ganz bestimmte Vorstellung gehabt, die er Fellenstein beschrieben und so gut wie möglich aufgemalt hatte. Er wollte eine bildliche Darstellung der wichtigsten Kreuzzüge, damit seine Untersassen davon lernen konnten. Irgendwo, an irgendeiner Kirche in Italien hatte er solch ein eindrucksvolles Relief gesehen. Ihm war nur nicht mehr genau erinnerlich gewesen, wo er das gewesen war, vielleicht in Genua oder Sestri Levante. Einschränken konnte er die in Frage kommenden Orte immerhin und so hatte er eigens Meister Fellenstein nach Italien geschickt, damit er sich dort nach diesem Relief umsah. Über ein Jahr war der Steinmetz unterwegs gewesen und als er zurückkam, hatte er eine Fülle von Zeichnungen und Plänen im Mantelsack. Foelke war begeistert und entzückt gewesen und Ocko nicht minder. Jetzt, nach Ockos Tod, ließ Widzelt diese Pläne nach und nach Wirklichkeit werden.
Der Fuchs mit dem Lachs im Fang. Der Lachs, das keltische Symbol der Weisheit. Wer davon isst, wird allwissend, hat die Wicca Hertje mir einst erzählt. Ocko hat herzlich darüber gelacht und mir erklärt, dass der Fuchs den Papst symbolisiert, aber einen allwissenden Papst habe er noch nicht erlebt. - Ach, und da ist der Drache... Der Drache bringt den Löwen zu seinen Jungen. Der Schwanz des Drachen umschlingt sehr lose - wie in einer Schutzgeste - einen reich gekleideten Menschen mit Kopfbedeckung. Der Mann trägt ein dreiviertellanges Gewand mit Umhang, eine Mischung aus Kaufmanns- und Adelskleidung. Arme und Hände des Mannes sind freudig erhoben oder abwehrend? Nein, abwehrend wohl eher nicht, denn dann wären die Hände aufrecht dargestellt worden.
Der vom Schweif des Drachen umschlungene Mann symbolisiert die begeisterten Deutschen, die Kaiser Friedrich nach dem Friedensvertrag mit al-Kamil bejubeln (18. Febr. 1229). Der Drache steht als Symbol für den Kaiser. Und Ocko sagte, dass damit der zweite Friedrich, gemeint ist. Der Fries bedeutet, dass der Kaiser nach überwundenen Schwierigkeiten sein hohes Ziel erreicht hat. – Der Drache bringt den Löwen. – Der Löwe steht als Symbol für al-Kamil, den man den„König der Wüste“ nennt. – Der Drache hat den Löwen vorsichtig gefasst, so wie Katzen dies mit ihren Jungen zu tun pflegen. Der Drache, Kaiser Friedrich also, bringt al-Kamil, den „König der Wüste“, zu seinen Jungen, die ihm erfreut entgegensehen. Die Löwenkinder symbolisieren die Städte Bethlehem, Nazareth und Jerusalem. Kaiser Friedrich II. vereinte diese Städte zum Königreich Jerusalem und alle - Christen wie auch Mohammedaner - erhielten Zugang zur Stätte ihres Glaubens. Dennoch blieben die Städte im Besitz von al-Kamil, denn es wurde lediglich ein zehnjährigen Waffenstillstand geschlossen.
Diesen, in den Augen des Papstes, bizarren Vertrag symbolisiert die merkwürdig instabile Brücke, über die der Drache schreitet, und die zur Löwenhöhle hin absinkt. Der Papst belegt den Kaiser mit dem Bann, brandmarkt ihn als Ungläubigen, schließt ihn sogar von der Kirche aus.
Dieser Fries ist eine Würdigung der Großtaten von Kaiser Friedrich, hat Ocko mir erklärt. Der Kaiser stellte eine Verbindung her zwischen dem Kaiserreich und dem neuen Königreich Jerusalem, also auch zu Kaufleuten und Adel. Zwischen Kaiser Friedrich II und al-Kamil gab es einen Vertrag, der für beide Seiten sehr gewinnbringende Handelsgeschäfte nach sich zog. Vielleicht ärgerte auch das den Papst? Auf dem folgenden Bildstein zieht der Drache, Kopf und Schweif geschmückt mit Akanthusblättern, von dannen. Die Akanthusblätter sind ein Synonym für die „Federn“, mit denen man sich nach einem Sieg schmückt. Die Körperhaltung des Drachen strahlt Zufriedenheit aus. Der Akanthus ist eine distelähnliche Pflanze, die in wärmeren Ländern wächst. Seine symbolische Bedeutung bezieht sich auf die Stacheln. Der Akanthus zeigt an, dass eine Aufgabe vollendet gelöst wurde, hat Ocko mir erklärt.
Fuchs und Esel, Wolf, Schaf, Dachs und andere Tiere sind zu sehen, ja, sogar ein Affe, den Abt symbolisierend. D er Dachs ist ein außerordentlich kluges Tier. Manche Leute tragen sogar einen Geldbeutel aus dem Kopf eines Dachses mit sich, weil das zu einem gescheiten Umgehen mit Geld verhelfen soll. – Ich werde nie Ockos Lächeln vergessen, als er mir sagte, dass der Fries nicht nur vergangene Geschehnisse widerspiegeln soll, sondern auch die Enttäuschung und Unzufriedenheit der Menschen über die Vertreter Gottes auf Erden. Weil das aber nicht unverhüllt geschehen dürfe, habe man den Großen dieser Welt bestimmte Tiere zugeordnet. Der Fuchs stellt den Papst dar, der Esel den Lehrer des Bischofs, das Dromedar steht für die Sarazenen, die den Leichnam Kaiser Barbarossas in die Kathedrale von Palermo begleitet haben. - Merkwürdig, der Esel mit der Schaufel… der Lehrer des Bischofs als Totengräber…
Der Mysterienzug kam eine Weile zum Stehen. Mit der Klapper wurde das Signal für das Absetzen der Mysteriengruppe gegeben. Noch einmal tauschten die Träger. Jeder durfte die Träger ablösen, und jeder wollte die Ehre haben, einmal das Mysterienbildnis tragen zu dürfen. Fröhlich hüpfte der bucklige Ubbo zwischen den Trägern umher und foppte sie. Die anderen Träger verjagten ihn allzeit, wenn er näher kam, denn um das Mysterienbild mittragen zu können, war er zu klein geraten.
Foelkes Blicke glitten weiter hin über den Steinfries: Der Leichenzug. - Im Angesicht der Kaiser- und Königskronen, die Barbarossa einst getragen hat, lesen zwei Füchse die Totenmesse, ein Hinweis auf das Schisma der Ost- und Westkirche. Hinter ihnen läutet der Abt als Affe mit eingezogenem Schwanz das Totenglöcklein - wie doppeldeutig.
Der Kessel zum Kochen des Leichnams... Fuchs und Dachs - Papst und Kanzler - tragen den Kessel. Ja, diese beiden haben Kaiser Friedrich um Macht und Geldes Willen verfolgt.
Foelkes Gedanken schweiften ab: Oh, Ocko war so wunderschön – fast vollkommen, hätte er nicht diese Kriegsverletzungen gehabt… Als ich Ocko das erste Mal sah, verliebte ich mich in ihn. So sehr liebte ich ihn, dass ich am liebsten in ihn hineingekrochen wäre. - Sie belächelte ihre Gedanken. - Und jetzt... Ocko ist tot, für immer verloren, aber die Liebe bleibt mir, unsere Liebe. Das Leben geht weiter... Wenn er gefunden ist... Wenn der Mörder endlich gefunden ist, dann kann ich Rache üben! Blutige Rache! - Bei allen Heiligen, was habe ich für grauenhafte Gedanken! An solch einem Tag! – Mein Gott, es ist alles so schrecklich!
Erneut rannen Tränen über Foelkes Wangen. Sie wischte sie unbewußt mit dem Handrücken fort, warf noch einmal einen Blick hinauf zum steinernen Tierfries.
Die Grablegung. Ziegenböcke bereiten den Kaiser für die Grablegung vor. Ziegenböcke! Symbole für den heidnischen Kriegsgott Teutates. Die Symbolik soll das angebliche ’Heidentum’ des vom Papst als Antichristen geschmähten Kaisers aufzeigen. Ein Heide war er sicher nicht, aber Innozenz hat ihn exkommuniziert, denn Friedrich liebte die Sarazenen und beherrschte ihre Sprache in Wort und Schrift, ganz zum Entsetzen des Papstes. - Und sieh mal einer an: Der neue Kaiser steht schon bereit. - Erneut rasselte die Klapper, die Männer setzten das Mysterienbild wieder auf. - Nur natürlich, dass der Fries auf der Südseite des Doms angebracht ist. „…und dem König im Süden untertan“ heißt es in unseren Willküren, den freiwilligen Gesetzen. Auf der Seite zur aufgehenden Sonne, der Seite des Orients, befinden sich Kreuzritter und Marienbildnis. Auf der Nordseite heidnische Drachen, Ritterkämpfe und römisches Akanthusblattwerk.
- Die Prozession setzte sich wieder in Bewegung. - Ein neues Steinbild. Löwe und Schwein: Friedrich und sein Kanzler. Sie stehen einander vertraut, ja einvernehmlich gegenüber. Das Schwein war in alten Zeiten ein heiliges Tier und gilt bis zum heutigen Tage als Glücksbringer.
Der geflügelte Lukasstier. Lukas, der Physikus und Gefährte von Paulus. Hatte nicht Kaiser Friedrichs Leibarzt versucht, den Herrscher zu vergiften? - Ja, so war es. Der Papst hatte den Arzt für den Mord am Kaiser gedungen. Friedrich übte erbarmungslose Rache an ihm. Ocko erzählte mir, dass er geblendet und grauenhaft gefoltert wurde, bis er, um weiteren Qualen zu entgehen, mit aller Macht mit dem Kopf gegen die Wand gerannt ist… Nicht lange mehr hat Friedrich danach regiert. - Nach des Kaisers Tod befahl der Papst hasserfüllt: „Rottet aus Namen und Leib, Samen und Spross dieses Babyloniers!“ Und er wählte sich Karl von Anjou, seine Rache zu vollziehen und beschenkte Anjou im Vorhinein mit der Krone Siziliens.
Ein Schwan auf dem Fries, das Sinnbild der Liebe, der heilige Vogel, der die Menschen bezaubert. Er symbolisiert Konradin, den ’schönsten Jüngling unter der Sonne‘. Der Papst ließ ihn töten.
Prinz Konradin vor Gericht. Karl von Anjou läßt Konradin, der nach verlorener Schlacht in Gefangenschaft gerät, im Auftrag des Papstes verhören. Der Jüngling weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Er wird nicht als Kriegsgefangener, sondern als Verräter an der Krone behandelt, obwohl doch ihm die Krone zusteht. Das grausame Urteil: Tod durch Enthauptung. - ‚Neapel seh’n und sterben’, hat Ocko ironisch gesagt. ’Für Konradin traf das zu. Er war ein naives Schäfchen, ein Jüngling von fünfzehn Jahren, der glaubte, ungestraft in die Fußstapfen seines mächtigen Großvaters Friedrich II. treten zu können.'
Karl von Anjou triumphiert. Konradin, der letzte Staufer, durch den Tyrannen Karl von Anjou findet er den Tod. Auf dem Marktplatz von Neapel wird er öffentlich enthauptet. Karl von Anjou, der Urgroßvater von Königin Johanna von Neapel, hat das getan, der Großvater jener Königin, der Ocko lange Zeit gedient hatte. Warum tat er das? Ich habe ihn gefragt und er erklärte mir, dass Keno, einer seiner Ahnen, König Karl von Anjou auf den 6. Kreuzzug nach Ägypten gefolgt sei.
Wenig später sei er von König Karl zum Connétable ernannt worden und habe anno 1266 Karl von Anjou in der Schlacht bei Benevent als Heerführer gedient, wo er französische Truppen kommandierte.
Drei Jahre später habe Köng Karl sogar dafür gesorgt, dass Keno über das Rheiderland gebieten konnte. Seither habe seine Familie eine besonders enge Bindung zum Hause Anjou. Ja, Karl von Anjou sei ein brutaler Herrscher gewesen und sogar noch nach dem Tode des Papstes Innozenz habe sich Karl von Anjou als Rachearm der Kirche verstanden, wollte er doch das Kaiserreich von Konstantinopel erneut aufbauen… - Ocko meinte sogar, das Karl von Anjou wohl Ambitionen gehabt habe, selber dort zum Kaiser ausgerufen zu werden. Davon wurde aber nichts...
Im Takt der gemessen rhytmischen Anacata der Träger schwankte das Mysterienbild durch das Land an der Maar. Unter strahlend blauem Himmel zog der gottgefällige Zug eine schier endlose Staubfahne hinter sich her. So musste es wohl auch in südlichen Ländern sein. Wie oft hatte Ocko davon erzählt, vom blütenschweren Duft der Natur, von Kastanienwäldern und endlosen blauen Hügelketten…
Der Klang der Glocken, wenn im ganzen Land Dankgottesdienste abgehalten werden. So ist es auch nach Ockos Sieg von Loppersum gewesen. - Foelke ächzte. Italien wäre wohl nichts für sie. Sie litt unter der stechenden Sonne, unter Hitze, Staub und Durst. Dabei ging es ihr noch gut, wenn nur die Füße nicht so weh täten, wohingegen die Träger des Mysterienbildes nicht nur schwer tragen mussten, sondern obendrein noch mit dem heißen Wachs der vielen brennenden Kerzen bekleckert wurden. - Jedoch, bei aller Anstrengung bewegten Musik und Gesang die Herzen zu innerer Einkehr und Betrachtung. Nicht wenige weinten sogar vor Ergriffenheit. Da fiel es gar nicht mehr auf, dass Foelke um ihren geliebten Ehemann weinte.
Georgsfeld! – Ist es hier gewesen, wo sich in alten Zeiten viele tausend Kreuzfahrer unter dem Banner des Schutzheiligen der Ritter, dem Heiligen Georg, versammelt haben? Wo sie Absolution und Segen für das gefahrvolle Unterfangen erhielten? Damals ist der Dom von Sankt Marien noch eine Baustelle gewesen. Nun ja, jetzt ist er es immer noch oder schon wieder. Ein Dom wird niemals fertig. Stets gibt es etwas auszubessern, anzubauen, neu zu gestalten. Der Dom, ein Abbild der göttlichen Schöpfung, die sich ja ebenfalls ständig verändert und erneuert… Wie mächtig das Gotteshaus aufragt! Mit Recht ist es Ockos ganzer Stolz gewesen.
Nun wurde das Mysterienbild zurückgetragen zum Dom von Sankt Marien. Kies und Muschelgrus knirschte unter den Füßen. Schon neigte sich der Tag, Abenddämmerung brach an. Die untergehende Sonne überschüttete das nahe Wäldchen mit rosigem Licht. Das grüne Blätterdach hüllte den Waldboden in Schatten. Über den Wiesen breiteten sich schüttere Nebelschleier aus, prächtig glitzernd im mystischen Licht der letzten Sonnenstrahlen.
Der Zug bewegte sich zum neuen Hafen von St. Marien. Leuchtfeuer und Fackeln wurden entzündet, das Marienbildnis auf ein Schiff geladen und zur Leybucht hinausgefahren. Manche schwammen hinterher, um das Mysterium zu berühren. Wer bis zum Wasser vordringen konnte, warf Blumenkränze hinein. Der Weihbischof segnete das Volk, das sich an Land drängte.
Zu guter Letzt kehrte das Schiff zurück. Nun brachte man das Mysterium aufs Land und wieder zum Dom. Durch die Turmeingangshalle zog die Prozession in St. Marien ein. Steinerne Engel und Evangelisten schauten von den Gewölberippen herab auf den Festzug.
Dort, die Stifterfigur mit dem Dom im Arm. Maria von Brabant, die Gemahlin von Kaiser Otto IV. - Ocko äußerte damals, der Dom sei seinerzeit zur Erinnerung an den Kreuzzug gegen die Stedinger Bauern mit etlichen Ritterfiguren bestückt worden. Ketzer seien die Stedinger gewesen, so hieß es, aber sie hatten tapfer vor Damiette gegen die Heiden gekämpft. Ein kleines Völkchen zwischen Hunte und Weser, gegen welches anno 1234 das Kreuz gepredigt wurde. Zehntausend Stedinger - Männer, Frauen und Kinder - zogen einer Übermacht von 40.000 Mann entgegen. Das erbitterte Ringen kostete vielen tausend Kreuzfahrern und Stedingern das Leben. Die Eroberer haben in Stedingen abscheulich gewütet, schlimmer als wilde Tiere. Es wurde geplündert, gebrandschatzt, gemordet, vergewaltigt und zuletzt loderten die ganze Küste hoch die Scheiterhaufen, auf denen tausende angebliche Ketzer verbrannt wurden. Das Stedinger Land stand förmlich in Flammen. Wenn Ocko davon gesprochen hatte, dann traten ihm Tränen in die Augen. Er, der Ritter, der in mehr als vierzig Schlachten gefochten hatte, er weinte um die Stedinger, die der Erzbischof von Bremen Gerhard von Oldenburg-Wildeshausen um nichts anderes als Macht und Zins verfolgt hatte.
Fraglos war der Kreuzzug gegen die Stedinger für den Staufer Friedrich II. ein wichtiger Schritt gewesen. Er, der die Reichsacht über die Stedinger verhängt hatte, lag ständig im Streit mit dem Vatikan. Ein bedeutendes Ereignis war dies natürlich auch für das gesamte Heilige Römische Reich, besonders für das Haus Brabant und seine Anverwandten: Geldern, Cleve, Jülich, Wesemale, Bethune, Holland, Oldenburg, Ravensberg und viele andere Fürsten und Edelherren. Das Heer bestand im Grunde völlig aus der Oldenburger Verwandtschaft und deren Anhang. Da lohnte es sich, eine zentrale Stätte zum Gedenken an die eigenen “Heldentaten“ zu errichten, und natürlich zur Abschreckung für die ewig aufmüpfigen Friesen. Ocko hatte sich deshalb entschlossen, einige der bei dem Brand zerstörten lebensgroßen Ritterfiguren durch Heilige zu ersetzen.
Fackeln und Kerzen leuchteten in der Dunkelheit des Domes. Kühle nahm die Prozession auf. Rasch verbreitete sich der Wohlgeruch des Weihrauchs aus den eifrig geschwenkten Ampeln. Eine Fülle frischer Feldblumen lag am Fuße des Hochgrabes. Die Bevölkerung liebte es, dort Blumen niederzulegen. Mitten darin prangte ein großer Busch weißer Rosen. Weiße Rosen, Ockos Lieblingsblumen. Im Angedenken an ihn hatte Foelke die Rosen dort niederlegen lassen, noch vor Beginn der Prozession. Sie zögerte einen Moment, warf einen langen Blick auf das Hochgrab:
Tag für Tag komme ich hierher, liege betend auf den steinernen Stufen zu deinen Füßen. Du bist nicht da drin in der eisernen Hülle, ich weiß es und doch bete ich zu deinen Füßen. Manchmal hänge ich verzweifelt am Gitter, rüttle an dem fest verschlossenen Türchen, möchte das eiserne Gitter überwinden... Ich kann es nicht, darf es nicht. Welche Qual... Ich sehe dein Gesicht vor mir, aber es ist nicht wirklich, es ist voller Blut... Ach, du bist ja nicht da... Ich sehe nur die prächtige Kleidung, nur die gefalteten Hände, nein, es sind ja nur die eisernen Handschuhe über dem Schwertknauf mit der daran hängenden weißen Seidenkordel mit dem Ordensknoten. Ich sehe dein zerbrochenes Siegel auf der Brust mit dem fürstlichen Adler. Ja, du warst ein Fürst, ein außerordentlicher Mann. – Standest du nicht gleich hinter dem König in der Adelshierarchie mit dem Adlerwappen? - Ach, was habe ich nur für dumme Gedanken. - Der weiße Ordensmantel mit dem Zeichen deines Ritterordens, dem Ordre de cavalieri del Nodo, dem Orden der Ritter des Knotens vom Heiligen Geist. Er ist zur Seite gerutscht. Merkwürdig, ein Lichtstrahl fällt genau auf den Platz des Herzens, dorthin, wo der Mantel mit den aufsteigenden Flammen bestickt ist, zum Lobe des Heiligen Geistes. Unter dem Ordenszeichen der eingestickte Schriftzug: „Se Dieux plaist“. – Der Knoten aus weißer Seide an der Kordel, dem Zeichen der Trauer um den Tod Christi. Oh, dürfte ich doch auch dieses Zeichen der Trauer tragen, meiner Trauer um dich, meinen geliebten Mann... Manchmal glaube ich, dass du atmest, höre sogar deine Stimme, dein Stöhnen... Aber du erhebst dich nicht... Wie auch? Du bist ja gar nicht da, nur eine kalte Hülle aus Eisen liegt da, eine schimmernde Rüstung... aber doch ist es mir, als atme sie deine Seele… Es schaudert mich manchmal. Ich will nicht daran denken! Es ist an der Zeit, dass ich nach Aurichhove zurückkehre. Du bist im Himmel, ich aber muss den Blick nach vorne richten... Ich muss aufwachen, denn du bist nicht mehr bei mir. Über die Mittagszeit – wie Hitze und Dürre – hat es sich schlicht ergeben. All deiner Sorgen bist du nun enthoben, Schmerz und Glück, Ruhm und Niederlage – sie sind zerstoben im Sommerwind. Genieße den Frieden der Ewigkeit, ohne Pflichten, ohne Schmerzen, ohne... das Glück unserer Zweisamkeit...
Foelke beißt sich auf die Unterlippe und versucht krampfhaft, an etwas anderes zu denken, aber es gelingt ihr nicht, denn ihre Gedanken wirbeln durcheinander und sie kann es nicht hindern, dass sie immer wieder zurückkehren zu Ocko.
Ich hätte dich besser hier aufbahren lassen sollen, hier im Dom... Nein, doch nicht... Da ist ja die schreckliche Bahrprobe in der Klosterkirche von Ihlow gewesen und … dein Leib ist geplatzt. - Es war schauerlich. Aber... Kaiser Karl der Große ist während der Bestattungszeremonie auch geplatzt. Der Kaiser soll aber so fett gewesen sein, weil er so verfressen war, deswegen also... Das warst du ja nicht. Du bist ganz normal gewesen, etwas dicker als früher vielleicht, aber ganz normal... Es war nur die sommerliche Hitze, die das gemacht hat. Vielleicht wäre der Leichnam hier im Dom ausgetrocknet? Dann... Du wärest dann ein Heiliger! Die Unverweslichkeit des Leibes gilt als Zeichen der Heiligkeit. – Ach nein, dein Leib war wegen der sommerlichen Hitze ja so rasch faulig geworden. Aber hier im Dom wäre es damals ja bedeutend kühler gewesen. Gleich wie, du warst kein Heiliger und wolltest es auch nie sein.
Ich werde dein ritterliches Bildnis in Stein hauen lassen und dann stellen wir es in eine der freien Nischen am Querschiff. - Die Pause, die endlose Pause. - So viel hattest du noch vor, so viel wolltest du ändern und bessern. Deiche bauen, Moore entwässern, Ackerland schaffen... und deine Alma mater... Das war dein grösster Traum, aber du wußtest auch, dass es aussichtslos war...
Seine Gnaden, der Herzog Albrecht von Bayern, verlangte von dir, für ihn in den Krieg zu ziehen. Jene friesischen Lande solltest du helfen zu unterwerfen, die dem Herzog als Lehen zuerkannt sind und die ihm die Huld verweigern... das Groningerland jenseits der Ems ebenso wie Östringen, Overledinger-, Moormer- und Lengenerland diesseits der Ems… Du hättest dem Ansinnen des Herzogs Folge leisten müssen… Der Lehneid verlangte das, aber du warst krank und von Schmerzen geplagt. Hättest du das überhaupt vermocht? Das werden wir niemals erfahren, denn dann kam der Angriff von Folkmar Allena auf unser neues Schloss von Aurichhove und unsere Unterwerfung, sonst hättest du vielleicht … Ach was denn? Ob die Groninger davon erfahren haben? Davon, dass du in den Krieg eingreifen solltest? Mein Gott, dann gibt es einen Verräter im Hause des Grafen… Verräter gibt es überall, warum nicht auch dort? – Du wolltest keinen Krieg mehr… wolltest nicht mehr töten! Es machte dich krank. Krieg verändert den Mann, sagtest du, Krieg entmenschlicht jeden von uns. Man tut Dinge, für die man sich zutiefst schämt, Dinge, die man normalerweise niemals tun würde, grausame Dinge. Krieg zerstört lebenswertes Leben und entwurzelt Menschen. Unendlich viele Menschen leiden darunter, die überhaupt nichts damit zu tun haben. Das Abschlachten muss endlich aufhören! Das verdammte sinnlose Sterben in Kriegen, die eigentlich nicht die Kriege dieser jungen Menschen sind. Am Ende eines jeden Krieges entsteht ein riesiger Totenacker. Wird die Gier der Mächtigen jemals ein Ende nehmen? Ist sie unersättlich? Wann wird man je verstehen?
Du wolltest dich freikaufen, du hast es mir gesagt, nicht geschworen, aber gesagt. Du hast es mir gesagt. Hast du mich getäuscht? Wolltest du mich nur schonen? Gab es trotzdem geheime Kriegsvorbereitungen? So geheim, dass selbst ich nichts davon erfahren durfte? Jedenfalls nicht hier, nicht in Aurichhove und auch nicht auf der Olde Borg. Wenn, dann auf einem unserer Landsitze in der Grafschaft Holland … Ich muss Ockos Vogt danach fragen; Gelderen wird es wissen.
Wenn es tatsächlich so gewesen ist, dass Ocko mit dem Herzog gegen Groningen ziehen sollte, dann ist Folkmar Allenas Angriff auf Aurichhove nicht schiere Rache für die Niederlage bei Loppersum gewesen, sondern eine Kriegsmaßnahme, die den Groningern den Rücken freihalten und helfen sollte, ihre Freiheit zu bewahren. Hat man Ocko deswegen ermordet? Weil er dem Herzog bei der Niederwerfung von Groningen behilflich sein sollte? Vielleicht hat Ocko mich belogen und der Herzog hatte ihm ein Bürgermeisteramt für Groningen zugesagt? Wollte Ocko solch ein Amt denn überhaupt haben? Möglich, weil seine Vorväter ja auch in Groningen regiert haben. Wurde mein lieber Mann ermordet, um solchen Machtzuwachs zu hindern? Ocko besaß den Ruf eines mächtigen Kriegsherrn. Ihm hätten die Groninger Schieringer kaum standhalten können. Dafür war er zu gewieft, nein, ihm wären sie nicht gewachsen gewesen.
Aber wer? Wer ermordete ihn? Wer tat es? Folkmar Allena hat keinen Vorteil von Ockos Tod und die Bahrprobe hat erwiesen, dass er daran unschuldig ist...
Ein Groninger, irgendein Groninger wird es gewesen sein, einer von den Schieringern... sicher... Oder vielleicht ist Ocko doch ganz gewöhnlich gestorben? Einfach so? Das kommt vor…
Die Töne der geborstenen Glocke von St. Marien erinnerten sie an den Glockenschlag von St. Lamberti, damals, als Ocko vor den Toren seines Schlosses in Aurichhove sein Leben aushauchte, als er die letzten Worte stammelte: ’Bruder … Widzelt … Truhe‘
Was das nur zu bedeuten hat? Warum musste Ocko gehen? Ob sein Auftrag erfüllt war? Tief durchdrungen war er vom Glauben, von seiner Sendung. Er schöpfte aus der Quelle seines Glaubens. Auch ich muß das tun. Die Kraft des Glaubens wird mir helfen, hat Embeco gesagt. Ocko habe sein Leben eingesetzt und das Leben habe er gewonnen. Hat er das? Das Leben gewonnen? Aber er ist tot… - Ach, wer bin ich, die Wege des Herrn in Frage zu stellen? - Oh, Ocko fürchtete das Fegefeuer, nichts fürchtete er mehr als das Fegefeuer... Habe ich alles getan, seine Leidenszeit dort zu verkürzen? Die heiligen Messfeiern gelten als wirksamstes Mittel. An seinem Todestag werden alljährlich drei Tage lang Messen gelesen. Habe ich genug davon gestiftet? Ich muss noch mehr tun! Ich werde das Spital besser einrichten und immer zum Jahrtag Seelwecken für die öffentliche Armenspeisung austeilen. Ich muss Ockos Seelenheil der Nachwelt ans Herz legen. Ich werde Geld stiften für die Muschelbrüderschaft, damit sie Wallfahrten machen zu Ockos Seelenheil... nach Jerusalem oder Santiago di Compostela. Rom oder Aachen? Nein, nicht Rom und Santiago, da ist Ocko selbst gewesen...
Ach, ich glaube, ich selbst muss auf Wallfahrt gehen. Das wird das Beste sein. Eine Pilgerfahrt nach... Ja, wohin eigentlich? Es fällt mir so schwer, von hier wegzugehen. Vielleicht genügt auch ein näherer Wallfahrtsort? Ich werde Kaplan Embeco fragen... Kerzen, Kerzen, grosse Kerzen muss ich stiften und ein Ewiges Licht... - Ich will nur deinen göttlichen Willen ausführen, nur deinen Willen, Herr.
Der Gedanke kam ihr, eventuell ein neues Kloster zu stiften. Klöster seien gut für die Gemeinschaftseinrichtungen des Landes, hatte Ocko ihr früher einmal erklärt. Die Familie habe nicht zuletzt auch aus diesem Grunde etliche Klöster unter ihren Schutz gestellt, und das nicht nur diesseits, sondern auch jenseits der Ems, und sie habe in der Vergangenheit des öfteren Teilhabe und monetäre Mitwirkung an so manch einer Klosterstiftung gehabt.
In der Familienchronik fanden sich etliche Hinweise darauf. Kaplan Embeco war gehalten, dem Nachwuchs all das nachdrücklich zu vermitteln. Das gehörte zur speziellen Bildung, wobei die Chronik stets zum Pflichtlehrstoff aller Familienangehörigen zählte. Die Annalen bargen umfassende und manchmal sehr überraschende Erkenntnisse. Jedes Familienmitglied musste sich dieses Wissen um der Familienehre Willen aneignen, da gab es kein Pardon. Ja, nach ihrer Einheirat in die Familie hatte auch Foelke sich damit befassen müssen. Da gab es sehr, sehr viel zu lernen. Der tiefe Einblick in das uralte Geschlecht der tom Brook beinhaltete üblicherweise gleichermaßen unterhaltsames wie auch langweiliges Wissen.
Foelke straffte sich. Ihr Blick suchte nach ihren Sprößlingen, streifte einige leicht angetrunkene Männer, deren Augen schon recht glasig wirkten. Sie winkte ihren Kindern. Sie rannten fröhlich herbei. Ocka brachte ihrer Mutter ein Sträußchen Gänseblümchen und Foelke dankte lachend, küsste ihre Lütte und steckte sich die Blumen in den Ausschnitt.
Ein Messdiener hielt schon die Tür zum Seitentürmchen auf, in welchem eine enge Wendeltreppe zur Patronatsloge hinauf führte. Foelke verschwand mit den Kindern im Seitenschiff.
Aufregend für die Kleinen, die hohen Stufen auf allen Vieren zu erklimmen. Das ging hopp, hopp. Foelke konnte kaum folgen. Die Kinder waren schon lange oben, während Foelkes Blick - und sie selbst auch - die Treppe weiter hinauf wanderte. Sie hörte Ockos 'kleines Hexlein' jauchzen vor Freude, weil sie zuerst oben angekommen war. Nun, das hieß nicht, dass sie schneller als ihr Bruder gewesen wäre, sondern nur, dass Keno sie nicht hatte überholen können auf dem schmalen Weg nach oben. Die Kinder rannten schon in die Patronatsloge, spielten Haschen um die großen Häuptlingsstühle herum. Für sie war es ein toller Spaß, die Wendeltreppe hinaufzuklettern, während Foelke sich keuchend an die Wand lehnte, als sie endlich das dritte Stockwerk erreicht hatte. Die Wendeltreppe führte nun in engeren Windungen innerhalb der Turmmauern weiter bis ganz hinauf auf den Turm. Einmal erst ist Foelke dort hinaufgestiegen, zusammen mit Ocko. Wäre er nicht dabei gewesen, sie wäre wohl nicht wieder hinunter gekommen.
Ocko... Wir haben über unser Land geschaut bis weit hinaus auf die See. Wir sahen die Segel sich wiegen und uns pfiff der Seewind um die Ohren. Und wir haben gelacht und uns geküsst...
Tränen stiegen in Foelke auf, trübten ihren Blick. Zum Glück musste sie jetzt nicht höher steigen, sonst wäre sie womöglich noch gestolpert.
Durch die neue Verglasung der schönen Fensterbogengewölbe schickte die untergehende Sonne letzte feurige Strahlen auf den Backsteinboden der herrschaftlichen Patronatsloge. Erschöpft ließ Foelke sich in ihrem Stuhl dicht an der Brüstung zum Hauptschiff nieder und faltete die Hände im Schoß. Von hier aus konnte sie die Kirche gut überblicken.
Der Gang zum Grab bedeutet mehr für mich als Gebet und Zwiesprache. Er ist für mich ebenso ein Besinnen auf die Vergänglichkeit dieser irdischen Welt. Versinnbildlicht es nicht die Hinführung auf meine eigene Sterbestunde?
Ocko erzählte mir mal, dass es auf der Insel Ischia im Mittelmeer in der Krypta von St. Immacolata Totenräume gibt, in deren Wänden sich in Stein gehauene Sitze befinden, auf denen die toten Nonnen ruhen, und an der Stirnwand thront die Äbtissin, verwesend im Kreis ihrer toten Mitschwestern. Die Novizen aber haben die tägliche Pflicht, den Totenkonvent zu besuchen. Diese klösterliche Unterweisung lehre sie die Vergänglichkeit der irdischen Welt. - Ja, auch ich habe gelernt... die Vergänglichkeit des Lebens, die Unausweichlichkeit des Todes. Sein Hinscheiden offenbart mir die Unwesentlichkeit des Leibes. Alles, was zählt, ist die unvergängliche Liebe... Eines Tages werde ich Ocko in der Krypta beisetzen lassen, damit er ein Teil seines Domes ist, den er so geliebt hat... Sein Dom, den er reichlich ausgestattet hat, sein Dom, errichtet von seinen Vorfahren, irgendwann vor hundert Jahren oder mehr… Eines Tages, wenn dein Mörder gefunden ist, werde ich deine Patronatsrechte, dein Vorrecht unter diesem Dach bestattet zu werden, in Anspruch nehmen… Nein, nicht das Backsteingrab vom Kloster Ihlow soll deine letzte Ruhestätte sein. Irgendwann, vielleicht ist es ja schon bald, wirst du hier am Altar ruhen.
Die beiden Kinder lehnten sich auf die steinerne Brüstung. Entzückend sah die Kleine aus in ihrem roten Kleidchen, geschmückt mit lauter kleinen goldenen Glöckchen an den Ärmeln, von der Schulter bis hinunter zu dem Spitzenbesatz an den Handgelenken. Ocka war sehr gewachsen in letzter Zeit und auch Keno hatte einen mächtigen Schub bekommen. - Meine süßen Kinder. – Alles an euch erinnert mich an ihn. Es trifft mich mit ungeheurer Wucht, dass er vor mir gegangen ist.
Während Widzelt aus der Tür des anderen Seitentürmchens heraustrat, kämpfte Foelke schon wieder mit den Tränen.
„Ocka, Keno! Kommt her zu mir! Setzt euch ordentlich hin, wie's sich gehört!" rief Widzelt verhalten und ließ sich in Ockos Lehnstuhl fallen. „Herkommen, Kinder, ihr könntet hinunterfallen!“
Ein liebes Lächeln stand in seinen Augen als er Foelke ansah, ein Lächeln, als ob für ihn die Sonne aufginge. „Wie kühl es hier ist - kein Wunder bei den zehn Fuß starken Mauern... Geht's dir gut, meine Liebde?"
Sie bemerkte sein Lächeln kaum und nickte geistesabwesend. - Die Fenster hat Ocko gestiftet und mit dem Heiligen Georg bemalen lassen. Sein roter Mantel leuchtet wie Rubin... Das ist sein Gesicht... Ocko... mein geliebter Mann. Er tötet den Drachen, das Sinnbild des Bösen... den Krieg... „Das wahrhaft Böse lebt für die Ewigkeit“, hat er gesagt, „das kann man nicht töten.“
„Du trägst den Mezzaro, den Ocko dir aus Genua mitgebracht hat. Er kleidet dich gut, Foelke. So sind deine Augen noch grüner, geheimnisvoll wie die tiefe See... Er kleidet dich wahrhaft gut."
Widzelt berührte leicht den schwarzen Seidenmezzaro. Sie zuckte zusammen und barg ihr Gesicht in den Händen. Oh ja, er konnte nicht anders, als sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. - Ach, wie verloren sie wirkt in ihrer Seelennot. Sie braucht ihn so sehr...
Die Wärme seiner Hand durchdrang ihr Kleid, beschützend und lindernd empfand sie das. Sie stöhnte leise auf, aber nicht, weil er sie berührte, nein, nicht deswegen. Es war ihre Sehnsucht nach Ocko.
Widzelt fühlte sich wie ein hungriges Tier, aller Freiheit beraubt, gefangen im Pferch ihrer Trauer. - Gefährlich, sie zu berühren und doch… Wie sie duftet! Ihr Körper in meinen Händen, meinen groben Händen. Sie könnten sie zerbrechen oder streicheln... - Er betrachtete sie einen Augenblick, sie bebten leicht, seine Hände. Nein, grob waren sie eigentlich nicht, eher schlank und feingliedrig trotz der täglichen Waffenübungen. Sein Blick wandte sich zu ihr. - Gleichgültig, dass sie den weiten Mezzaro trug, er sah doch ihre Schenkel sich abzeichnen. Mehr denn je fühlte er sich zu ihr hingezogen. Ja, er musste sie ihr sagen, diese magischen drei Worte: Ich liebe dich! Die wahre Liebe kann nichts trennen, das wollte er ihr sagen, aber er durfte es nicht, denn sie liebte immer noch ihren Ocko – immer noch, obwohl er seit langer Zeit erlöst war von irdischen Mühen und Plackereien.
Als sie ihr tränennasses Gesicht zu ihm hob, sehnte er sich jäh nach ihrem Kuss. Wie gern hätte er sie an sich gerissen, ihr Gesicht in beide Hände genommen und geküsst und mehr noch, hier im Angesicht der Christusstatue. Sie, seine wahre, seine einzige Liebe. Ihren herrlichen, wunderbaren Körper in seine Arme schließen, ihre warme Haut an seinem Leib fühlen. Konnte es Schöneres geben? Amore, amore, amore, ah... - Aber ihr dunkler Blick ließ ihn inne halten vor ihrer Trauer. Er wagte es nicht, diese zerbrechliche Frau zu küssen. Nichts Schöneres gibt es als sie. Nichts, nichts, nichts... Ich gäbe mein Leben für sie, dachte er. Was aber ist, wenn der Herzog mehr verlangt? Sich selbst zu opfern, ist einfach. Erst, wenn man jemanden opfern muss, den man liebt... Wenn ich sie meinen Zielen opfern müßte. Würde ich es tun können?
Bedächtige Worte kamen über ihre Lippen: „Ja, das hat Ocko auch einmal zu mir gesagt.“
„Was hat er gesagt, Liebde?“
„Der Mezzaro, dass er mich gut kleidet. Ocko, er schaut auf uns herab... Ich erinnere mich noch, wie er des Morgens aufwachte, sich hellwach aufsetzte und sagte: 'Krieg ist unrecht. Ich will keinen Krieg mehr führen müssen... nie wieder.' Ich fragte ihn, wie er gerade jetzt darauf käme. Er schaute mich an mit merkwürdig in die Ferne gerichteten Augen und ich dachte 'er hat eine Erleuchtung erfahren' und dann antwortete er still: ‚Ich hatte einen Traum, einen wunderbaren Traum..., irgendjemand hat mich berührt und es mir gesagt..., ich glaube, es war ein Engel...‘ Diesen Traum hat er auf das Fenster dort malen lassen. Siehst du den Engel, der seine Schulter berührt?"
Widzelt blickte kurz auf die Fenster und antwortete leise: „Ein großer Traum... Er hat mir davon erzählt. Er wollte ein befriedetes Friesland... Er wusste genug vom Krieg, um sich nach Frieden zu sehnen."
„Ja, das wusste er und er sagte: Mit Eintracht mag ein Land bestehen, das durch Zwietracht müsste untergehen. - Und du, Widzelt? Was sagst du dazu?“
„Ich habe in meinem Leben schon so viel Blut fließen sehen, Foelke. Das reicht für zwei Leben. Ja, so ist es, aber... man muss die Menschen manchmal zwingen… Das sagt auch der Graf von Holland...“
„Herzog Albrecht? Wieso?“ Sie war plötzlich hellwach. Ihre Blicke kreuzten sich.
„Ah, er will seine Herrschaftsansprüche auf Friesland gewahrt wissen und wir sollen ihn tätig dabei unterstützen.“
„Gewahrt wissen? Widzelt, wie meint er das?“
„Ach, gewahrt wissen, eben…, durchsetzen... Foelke, dies ist nicht der rechte Ort. Ich erkläre es dir später.“ Er nahm sein Stirnband ab, schüttelte die Haare zurück, schob das Band wieder über seinen üppigen Schopf und dann lachte er ein breites Verlegenheitslachen.
Foelke begriff, was er damit meinte und dachte: Pervers! Die Großen dieser Welt wollen uns einreden, Krieg sei ein amüsantes Spiel! Das alles ist ein gigantischer Betrug! Wer sich Waffen anschafft, will sie auch benutzen! Sie machen nicht Halt vor Weibern und Kindern, um der eigenen Macht Willen. Bereitet es ihnen gar Spaß, Menschen zu töten?
„Ich liebe dich, Widzelt“, sagte sie leise „weißt du das?“
Er lachte neckisch: „Ja, aber wann?“
Die Messfeier nahm ihren Lauf, aber Foelke konnte sich nicht recht darauf konzentrieren. Ihre Füße stachen und sie zog sich heimlich die Schuhe aus.
Unterdessen gingen ihre Gedanken wieder auf Wanderschaft: Christus am Kreuz... Er starb gewaltsam, Ocko auch. - Sie sah Ocko vor dem Altar knien und den Heiligen Eid ablegen, und sie sah sein ruhiges Gesicht, leuchtend in gläubiger Ehrfurcht vor Gott. Selbst seine warme Stimme hatte sie noch im Ohr: „...Gottes Vorsehung hat mich mit dem Ritterschwert umgürtet, um die heiligen Stätten zu schützen...“
Aus dem Kirchenschiff schwang kraftvoll das Evangelium herauf und Foelke dachte daran, dass Ocko damals selbst das Johannis-Evangelium verlesen hatte, und der Kaplan dankte Gott, dass er Ocko mit seiner Gnade erleuchtet habe und für uns alle bessere Tage angebrochen seien als wir sie bis dahin gesehen hätten. Und Ocko küsste das ’Heilthum’, den silbernen Arm der Jakobus-Reliquie, der jene Fragmente des Jakobus-Armes in sich barg, den Friesen einst aus dem Heiligen Land mitgebracht hatten.
Tränen rannen jetzt unaufhörlich über Foelkes Wangen... Ocko! Wo bist du? Ich brauche dich, ich liebe dich... Warum kannst du nicht auferstehen? - Krampfhaft faltete sie wieder die Hände und betete stumm: „Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm. Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach. Heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken und meine Seele ist erschrocken. Wende dich, Herr, und rette mich; hilf mir um deiner Güte willen! Ich bin so müde vom Seufzen; ich schwemme mein Bett die ganze Nacht und netze mit meinen Tränen mein Lager. Meine Augen sind trübe vor Gram. Herr Jesu Christ, erhöre mich. Schaffe mir Recht, Herr, nach meiner Gerechtigkeit und Unschuld. Herr Jesu Christ, erhöre mich! Ich will dich preisen ewiglich.“
Foelkes leises Schluchzen ließ Widzelt ihre Hand nehmen. Ich bin bei dir, bedeutete das, ich beschütze dich.
„Ja, Widzelt, du bist Licht in meinem Leben", sagte sie bebend und schaute ihn an. Wie süß er aussieht mit seinem zusammengebundenen Haar – und seine Augen... oh Gott, ich könnte...
Liebevoll betrachtete er sie und fragte: „Ich erinnere dich an Ocko?“
„Deine Augen, deine Haut, deine Hand… Er hatte auch so schöne, langgliedrige Finger wie du.“
Widzelt berührte kurz seine Lippen mit dem Zeigefinger: „Ssst…“
Sie waren einander zugekehrt und sein Mund, sein hübscher Mund mit dem dunklen Oberlippenbart beängstigend nah. Sie spürte seinen warmen Atem im Gesicht. Aus seiner Kleidung stieg der frische Duft von See und Salz und sie konnte in seinen Augen das Begehren lesen, übermächtiges Begehren...
In Demut senkte er plötzlich den Kopf, küsste stumm jeden einzelnen ihrer zarten Finger: Ich liebe dich, süße Foelkedis. Ich will bei dir sein, ich will dich beschützen auf jedem Schritt deines Lebens bis ans Ende deiner Tage. Ich will, dass du glücklich bist, dachte er zärtlich.
„Ach, schau mal, guck! Ein Zicklein ist da unten“, rief Ocka und zerstörte damit Widzelts weiche Gedankengänge.
„Wenn es da nur nicht hinmacht“, bemerkte Keno wichtig.
Beide Kinder schauten interessiert hinunter ins Kirchenschiff, von wo der Psalmengesang zu ihnen hinaufschwang. Als der letzte Ton verklungen war, beklagte Keno sich entrüstet bei seiner Mutter:
„Hörst du das, Mama? Ocka singt immer Hallelulja.“
„Ja, ich weiß. Lass sie.“
„Aber sie soll nicht Hallelulja singen.“
„Warum nicht?“
„Weil es Halleluja heißt.“
„Ach, sie ist doch noch so klein. Lass sie. Sie lernt es schon noch.“
Er zog einen Schmollmund und kaute beleidigt an einem Fingernagel. „Siehst du, Mama, jetzt hat die Ziege da hingemacht.“
Damit war die bedrohlich emotionale Stimmung zwischen Widzelt und Foelke endgültig vernichtet. Dem Himmel sei Dank, dachte Foelke erleichtert.
Kaplan Embeco hielt sie auf, als sie den Dom verlassen wollten. Sein langer Blick in ihre Augen zeugte von Mitleid.
„Er ist schön, der Flügelaltar, den du gestiftet hast, meine Tochter“, sagte er.
„Ja?“
„Ja, sehr schön sogar.“
„Ich habe…“ Foelke brach ab, Tränen in den Augen.
„Wir haben…“ Widzelt stockte. Auch ihm kam es schwer über die Lippen.
„Was habt Ihr, Junker?“
„Wir haben ihn aufwendig arbeiten lassen, damit man ersehen kann, dass die Feier der Heiligen Messe das wirksamste Mittel zur Abkürzung der Leidenszeit im Fegefeuer ist.“
Foelke schluchzte heftig.
„Deine Grundfesten sind erschüttert, meine Tochter, du bist namenlos verzweifelt. Jesus Christus spricht: Seid getrost und unverzagt, alle, die ihr des Herrn harret. - Schau zurück an den Anfang, Foelke", sagte Embeeco leise und nahm verständnisvoll ihre Hand. Sie war so kalt, so wärmebedürftig...
„Das tu ich ja, deswegen bin ich so traurig", ächzte sie.
„Du denkst an die Mitte deines, eures Seins, Burgfrau. Das macht dich so traurig. Denke an den Anfang und an das Ende, nicht nur an die Mitte deines Seins. Christus hilft dir, das Durcheinander deines Denkens zu ordnen. Er wird deinen Blick weiten und du wirst wieder Hoffnung schöpfen, denn er ist das A und O des Lebens. Durch Jesus Christus, unseren Herrn, ist dein Leben lebenswert. Du wirst gebraucht, meine Tochter. Wir alle brauchen dich... Beschließe, dass du glücklich bist! Andere glücklich machen, das ist das wahre Glück! Was ist das Glück, das du dir selbst bereitest, wenn du andere unglücklich machst? Siehe, meine Tochter, dein Leid ist nur der Liebe Preis. Jesus Christus spricht: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende."
Da brannte ihr Herz und sie entzog dem Kaplan rasch ihre Hand und umarmte weinend ihre Kinder. Oh Gott, er fehlt mir so sehr, schluchzte sie verzweifelt.