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II.

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Ein herr­li­ches frei­es Le­ben hat­te jetzt für Jo­han­na be­gon­nen. Sie las, träum­te und trieb sich ganz al­lein in der Um­ge­gend her­um. Bald wan­del­te sie lang­sa­men Schrit­tes traum­ver­lo­ren längs der Stras­se, bald hüpf­te sie wie ein jun­ges Reh durch die zahl­rei­chen klei­nen wildro­man­ti­schen Tä­ler. Der star­ke wür­zi­ge Duft, den die Blu­men im Gra­se aus­ström­ten, war ihr der liebs­te Par­fum, und stun­den­lang lausch­te sie, von den­sel­ben um­ge­ben, dem ein­schlä­fern­den Geräusch der in der Fer­ne rol­len­den Bran­dung.

Zu­wei­len, wenn sie bei der Bie­gung ei­nes Ta­les plötz­lich am Ran­de des grü­nen Ra­sen­strei­fens den bläu­li­chen Schim­mer des Mee­res be­merk­te, über wel­ches sich ein leich­ter Dunst­schlei­er la­ger­te, kam es über sie wie die Hoff­nung auf das Na­hen ir­gend ei­nes ge­heim­nis­vol­len Glückes.

Sie lieb­te die Ein­sam­keit in die­ser süs­sen er­qui­cken­den Fri­sche der Land­luft mit ih­rer ma­je­stä­ti­schen Ruhe. Oft sass sie so lan­ge auf dem Gip­fel ei­nes Hü­gels, dass die Ka­nin­chen ihre Furcht ver­gas­sen und sich lus­tig zu ih­ren Füs­sen tum­mel­ten.

Dann eil­te sie wie­der wie von ei­nem leicht­be­schwing­ten Lüft­chen ge­tra­gen an die Küs­te. Gleich den Fi­schen im Was­ser und den Schwal­ben in der Luft ge­noss sie in vol­len Zü­gen die Freu­de der frei­en Be­we­gung.

Über­all brach­te sie klei­ne Erin­ne­rungs­zei­chen an, je­ner Art von Erin­ne­run­gen, die bis zum Tode fest­wur­zeln. Es war ihr, als ver­steck­te sie ein Teil­chen ih­res ei­ge­nen Her­zens an all’ den ver­bor­ge­nen Plätz­chen die­ser stil­len Tä­ler.

Mit Lei­den­schaft ba­de­te sie in der See; kräf­tig und mu­tig wie sie war, dach­te sie an kei­ne Furcht und tauch­te häu­fig tief un­ter. Das kla­re blaue Was­ser, wel­ches sie schau­kelnd auf sei­nem Rücken trug, tat ihr mit sei­ner er­qui­cken­den Fri­sche un­end­lich wohl. War sie weit ge­nug vom Ufer, so leg­te sie sich auf den Rücken, kreuz­te die Arme über der Brust und starr­te traum­ver­lo­ren zum azur­far­be­nen Him­mel em­por, an dem pfeil­schnell die Schwal­ben oder wei­ße Mö­ven vor­über­schos­sen. Nur von Wei­tem hör­te sie das Mur­meln der Wel­len am Stran­de und das un­be­stimm­te Geräusch des vom Was­ser ge­streif­ten Kie­ses. Dann dreh­te sie sich oft rasch um und teil­te jauch­zend mit kräf­ti­gen Ar­men die Flut.

Hin und wie­der, wenn sie sich all­zu weit vor­ge­wagt hat­te, fuhr wohl ein Fi­scher mit sei­ner Bar­ke her­aus, sie zu­rück­zu­ho­len.

Bleich vor Hun­ger, aber er­leich­tert und ge­kräf­tigt, ein Lä­cheln auf den Lip­pen und mit ei­nem Strahl des Glückes in den Au­gen kehr­te sie dann ins Schloss zu­rück.

Der Baron sei­ner­seits war mit großen land­wirt­schaft­li­chen Un­ter­neh­mun­gen be­schäf­tigt. Er woll­te neue Ver­su­che an­stel­len, Ver­bes­se­run­gen ein­füh­ren, neue Ma­schi­nen an­schaf­fen, sei­nen Vieh­be­stand durch frem­de Ras­sen ver­voll­komm­nen. Ei­nen Teil des Ta­ges brach­te er in Ge­sprä­chen hier­über mit sei­nen Päch­tern und Nach­barn zu, wel­che meis­tens un­gläu­big zu sei­nen Plä­nen mit den Ach­seln zuck­ten.

Zu­wei­len fuhr er auch mit den Fi­schern von Yport auf die See. Nach­dem er die Grot­ten, Quel­len und Hü­gel der Um­ge­bung hin­rei­chend ken­nen ge­lernt hat­te, woll­te er auch ’mal wie ein ein­fa­cher Fi­scher rich­tig fi­schen.

Wenn eine güns­ti­ge Bri­se weh­te, wenn die Bar­ke mit ge­bläh­tem Se­gel über die Wo­gen da­hin zog und auf je­der Sei­te über den Mee­res­grun­de die große Lei­ne schlepp­te, der die Scha­ren von Ma­kre­len fol­gen, dann hielt er mit auf­ge­regt zit­tern­der Hand die klei­ne Schnur, de­ren Zu­cken so­fort an­zeigt, dass ein ge­fan­ge­ner Fisch zap­pelt.

Im Mond­schein fuhr er aus, um die Net­ze auf­zu­neh­men, die man tags zu­vor aus­ge­wor­fen hat­te. Er er­götz­te sich an dem Knar­ren des Mas­tes und er­quick­te sich an dem fri­schen küh­len­den Hau­che des Nacht­win­des. Wenn er dann lan­ge ge­kreuzt hat­te, um die Bo­jen wie­der auf­zu­fin­den, in­dem er sich nach ei­ner Felss­pit­ze, nach dem Da­che ei­nes Kirch­turms und dem Leucht­turm von Fe­camp ein­rich­te­te, mach­te es ihm ein Haupt­ver­gnü­gen, das ers­te Auf­leuch­ten der Son­ne zu be­trach­ten, de­ren Strah­len den schlei­mi­gen Rücken der Ro­chen und den fet­ten Bauch der See­zun­gen auf dem Bo­den der Bar­ke ver­gol­de­ten.

Bei je­der Rück­kehr er­zähl­te er aufs Neue mit Be­geis­te­rung von sei­nen Aus­fahr­ten. Müt­ter­chen ih­rer­seits schil­der­te dann, wie viel­mal sie die lan­ge Pap­pel-Al­lee auf- und ab­ge­gan­gen sei. Sie hat­te die zur Rech­ten nach dem Pacht­hof der Couil­lards zu ge­wählt, weil die an­de­re links nicht son­nig ge­nug war.

Weil man ihr emp­foh­len hat­te, einen »rich­ti­gen Spa­zier­gang« zu ma­chen, war sie ganz er­picht dar­auf. So­bald die fri­sche Mor­gen­luft et­was nach­ge­las­sen hat­te, stieg sie, auf Ro­sa­li­ens Arm ge­stützt, die Trep­pe hin­ab, in einen Man­tel und zwei Shawls gehüllt, auf dem Kop­fe einen dich­ten Hut, über den sie noch ein ro­tes Tuch ge­schla­gen hat­te. Dann be­gann sie eine end­lo­se Rei­se auf ge­ra­der Li­nie im­mer zwi­schen der Um­zäu­nung des Schloss­ho­fes und den ers­ten Sträu­chern des Bos­quets. Den lin­ken Fuss, der et­was an­ge­schwol­le­ner war, schlepp­te sie hier­bei nach, und es hat­ten sich in Fol­ge des­sen auf der gan­zen Stre­cke des We­ges zwei Strei­fen ge­bil­det, der eine vom Hin- und der an­de­re vom Zu­rück­ge­hen, auf de­nen das Gras völ­lig ab­ge­stor­ben war. An je­dem Ende die­ser Pro­me­na­de hat­te sie eine Bank an­brin­gen las­sen, und alle fünf Mi­nu­ten mach­te sie Halt, in­dem sie zu ih­rer gu­ten ge­dul­di­gen Beglei­te­rin sag­te: »Wir wol­len uns set­zen, lie­bes Kind, ich bin et­was müde.«

Und bei je­dem Halt leg­te sie auf eine der Bän­ke bald das Kopf­tuch ab, bald einen Shawl, dann den an­de­ren, fer­ner den Hut und schliess­lich den Man­tel, so­dass Ro­sa­lie auf ih­rem frei­ge­blie­be­nen Arm ein ganz an­sehn­li­ches Packet zu tra­gen hat­te, bis man zum Früh­stück ins Schloss zu­rück­kehr­te.


Nach­mit­tags be­gann die Baro­nin ih­ren Spa­zier­gang aufs Neue, nur et­was we­ni­ger has­tig und mit grös­se­ren Ru­he­pau­sen. Sie leg­te hin und wie­der wohl auch ein Schlum­mer­stünd­chen ein, wel­ches sie auf ei­ner Chai­se­longue ver­brach­te, die man nach draus­sen ge­rollt hat­te.

Sie nann­te das »ihre Übung« ma­chen, wie sie auch stets von »ih­rer Hy­per­tro­phie« sprach.

Vor zehn Jah­ren hat­te sie einen Arzt we­gen ih­rer Be­klem­mun­gen ge­fragt, und die­ser hat­te je­nes Wort zum ers­ten Male ge­braucht. Ohne den Aus­druck rich­tig zu ver­ste­hen, hat­te sie seit­dem sich das Wort »Hy­per­tro­phie« völ­lig zu ei­gen ge­macht. Hart­nä­ckig ließ sie den Baron, ihre Toch­ter und Ro­sa­lie nach ih­rem Her­zen füh­len, des­sen Schlag nie­mand mehr ent­de­cken konn­te; so sehr war es durch die Fett­bil­dung ih­res Ober­kör­pers ver­deckt. Da­ge­gen lehn­te sie es ener­gisch ab, sich von ei­nem zwei­ten Arz­te un­ter­su­chen zu las­sen, aus Furcht, die­ser könn­te ir­gend ein an­de­res Übel ent­de­cken. So blieb sie da­bei, je­der­zeit von »ih­rer« Hy­per­tro­phie zu spre­chen, so­dass man glau­ben konn­te, es sei dies ihre be­son­de­re Krank­heit, ihre Spe­zia­li­tät so­zu­sa­gen, auf die nie­mand an­de­res ein An­recht hät­te.

Der Baron sag­te »die Hy­per­tro­phie mei­ner Frau« und Jo­han­na sprach von »Ma­mas Hy­per­tro­phie«, wie wenn man von den Klei­dern, Hü­ten oder dem Re­gen­schirm der Baro­nin ge­spro­chen hät­te.

Sie war in ih­rer Ju­gend sehr hübsch und schlan­ker wie ein Schilf­rohr ge­we­sen. Nach­dem sie der Rei­he nach mit al­len Waf­fen­gat­tun­gen des Kai­ser­rei­ches ge­tanzt hat­te, las sie ei­nes Ta­ges »Co­rin­ne«, wor­über sie zu Trä­nen ge­rührt wur­de. Von da an stand sie ganz un­ter dem Ein­flus­se die­ses Ro­mans.

In dem Mas­se wie ihre Tail­le an Um­fang zu­nahm, wur­de der Schwung ih­rer See­le im­mer poe­ti­scher. Je mehr ihre Fett­lei­big­keit sie an das Pols­ter fes­sel­te, umso häu­fi­ger schwelg­te ihre Fan­ta­sie in al­ler­lei zärt­li­chen Aben­teu­ern, de­ren Hel­din sie war. Ei­ni­ge der­sel­ben wur­den von ihr be­son­ders be­vor­zugt und kehr­ten in ih­ren Träu­me­rei­en öf­ters wie­der, wie ein Mu­sik­stück, des­sen Me­lo­die ei­nem un­auf­hör­lich durch den Kopf summt. Alle die blu­men­rei­chen Ro­man­zen, in de­nen von Ge­fan­ge­nen und Schwal­ben die Rede war, ver­an­lass­ten sie un­will­kür­lich zu wei­che­ren Re­gun­gen; selbst ge­wis­se Lie­der von Beran­ger lieb­te sie we­gen des Schmer­zes, der sich trotz al­ler Lus­tig­keit dar­in aus­sprach.

Stun­den­lang konn­te sie so in ih­ren Träu­me­rei­en ver­lo­ren da­sit­zen; und der Auf­ent­halt in Peup­les ge­fiel ihr des­halb aus­ser­or­dent­lich, weil er ih­ren ro­man­ti­schen Ide­en, so­wohl durch die Wäl­der der Um­ge­gend, als auch durch die Hei­de­flä­chen und na­ment­lich durch die Nähe des Mee­res, stets wie­der die Wer­ke Wal­ter Scot­t’s ins Ge­dächt­nis rief, mit de­nen sie sich seit ei­ni­gen Mo­na­ten be­schäf­tig­te.

An Re­gen­ta­gen schloss sie sich in ihr Zim­mer ein, um ihre so­ge­nann­ten »Re­li­qui­en« durch­zu­stö­bern, näm­lich die al­ten Brie­fe, die sie von ih­ren El­tern, von ih­rem Man­ne als Bräu­ti­gam emp­fan­gen hat­te, und aus­ser­dem noch ei­ni­ge an­de­re. Die­sel­ben wa­ren in ei­nem Schreib­tisch aus Ma­ha­go­ni ein­ge­schlos­sen, an des­sen Ecken sich bron­ze­ne Sphynx­fi­gu­ren be­fan­den. Wenn Ro­sa­lie die Brie­fe ho­len soll­te, so pfleg­te die Baro­nin mit ei­gen­tüm­li­cher Be­to­nung zu sa­gen: »Bring mir die Schieb­la­de mit mei­nen Ju­gen­derin­ne­run­gen, Kind!«

Die Zofe öff­ne­te dann den Schreib­tisch, nahm die Schieb­la­de her­aus und stell­te sie auf einen Stuhl ne­ben ihre Her­rin, wel­che den In­halt lang­sam Stück für Stück durch­las, wo­bei hin und wie­der sich eine Trä­ne aus ih­rem Auge stahl.

Bei den Spa­zier­gän­gen muss­te Jo­han­na zu­wei­len Ro­sa­lie er­set­zen und Müt­ter­chen er­zähl­te ihr dann von ih­ren Ju­gen­derin­ne­run­gen. Das jun­ge Mäd­chen fand sich selbst dar­in wie­der; sie war er­staunt über die Ähn­lich­keit ih­rer Ge­dan­ken und die Gleich­heit ih­rer Wün­sche. Bil­det sich doch je­des Herz ein, al­lein vor al­len an­de­ren un­ter dem Ein­druck je­ner Emp­fin­dun­gen ge­seufzt zu ha­ben, un­ter dem schon die Her­zen der ers­ten Men­schen hö­her schlu­gen, und un­ter dem die Her­zen der letz­ten Men­schen und na­ment­lich Frau­en hö­her schla­gen wer­den.

Ihr Spa­zier­gang voll­zog sich eben­so lang­sam wie die Er­zäh­lung, wel­che hin und wie­der von Be­klem­mun­gen un­ter­bro­chen wur­de. In sol­chen Pau­sen schweif­ten Jo­han­nas Ge­dan­ken der an­ge­fan­ge­nen Ge­schich­te vor­aus; ihr Herz schwelg­te in zu­künf­ti­gen Freu­den und Hoff­nun­gen.

Ei­nes Nach­mit­tags, als sie auf der Bank am Ein­gang der Al­lee sas­sen, be­merk­ten sie plötz­lich am Ende der­sel­ben die be­leib­te Ge­stalt ei­nes Geist­li­chen, der auf sie zu­kam. Er grüss­te schon von Wei­tem, nahm eine lä­cheln­de Mie­ne an, grüss­te auf drei Schritt noch­mals und rief ziem­lich laut:

»Ah, die gnä­di­ge Frau Baro­nin! Wie geht es denn?« Es war der Dorf­pfar­rer.

Die Mama, die in der Zeit der Phi­lo­so­phen ge­bo­ren und von ei­nem ziem­lich un­gläu­bi­gen Va­ter wäh­rend der Re­vo­lu­ti­ons­zeit er­zo­gen war, be­such­te die Kir­che nie­mals, ob­schon sie die Geist­lich­keit mit ei­ner Art re­li­gi­ösem In­stinkt der Frau­en ganz gern hat­te.

Sie hat­te bis da­hin ih­ren Pfar­rer, den Abbé Pi­cot, ganz ver­ges­sen und er­rö­te­te jetzt un­will­kür­lich. Sie ent­schul­dig­te sich, dass sie sei­nem Be­su­che nicht zu­vor­ge­kom­men sei, aber der gute Mann war durch­aus nicht ver­letzt. Er sah Jo­han­na an, grüss­te sie mit freund­li­cher Mie­ne, setz­te sich, leg­te sei­nen Drei­spitz auf die Knie und wisch­te sich die Stirn ab. Er war sehr stark, sehr rot und schwitz­te sehr. Je­den Au­gen­blick zog er ein mäch­ti­ges kar­rier­tes und schon ganz feuch­tes Ta­schen­tuch her­vor, mit dem er sich Ge­sicht und Na­cken ab­wisch­te. Aber kaum hat­te er es wie­der in sei­ne ge­räu­mi­ge Ta­sche ver­senkt, als schon wie­der neue Trop­fen auf sei­ner Stirn stan­den und auf die her­vor­ste­hen­den Tei­le sei­ner Sou­ta­ne ran­nen, wo sie sich mit dem dort an­ge­sam­mel­ten Stau­be zu klei­nen Fle­cken ver­ban­den.

Er war hei­ter, ge­sprä­chig, nach­sich­tig; ein ech­ter Land­pries­ter. Er er­zähl­te al­ler­lei Ge­schich­ten, sprach von den Land­leu­ten und ließ sich nicht im Ge­rings­ten mer­ken, dass er sei­ne bei­den Pfarr­kin­der noch nicht in der Kir­che ge­se­hen hat­te. Bei der Baro­nin schob er dies auf eine na­tür­li­che Fol­ge ih­rer ver­schwom­me­nen re­li­gi­ösen Ide­en; bei Jo­han­na auf die ganz er­klär­li­che Freu­de, dem Klos­ter ent­ron­nen zu sein, wo man sie in An­dachts­übun­gen ge­ra­de­zu er­stickt hat­te.

Jetzt er­schi­en auch der Baron, der als Pan­the­ist sich den Dog­men ge­gen­über völ­lig in­dif­fe­rent ver­hielt. Er war sehr lie­bens­wür­dig ge­gen den Pfar­rer, den er ober­fläch­lich kann­te, und lud ihn ein, zu Tisch zu blei­ben.

Der Pries­ter war ein­sich­tig ge­nug, in kei­ner Wei­se an­zu­stos­sen. Er hat­te durch sei­ne lang­jäh­ri­ge Er­fah­rung als See­len­füh­rer sich jene Zu­rück­hal­tung an­ge­eig­net, wel­che die an­de­ren nie­mals un­nö­tig füh­len lässt, dass man be­ru­fen ist, über sie einen be­son­de­ren Ein­fluss aus­zuü­ben.

Die Baro­nin ver­hät­schel­te ihn; viel­leicht moch­te sie sich un­will­kür­lich durch eine Art geis­ti­ge Ver­wandt­schaft zu ihm hin­ge­zo­gen füh­len. Das voll­blü­ti­ge Ge­sicht und der kur­ze Atem des Pfar­rers er­in­ner­te sie an ihr ei­ge­nes Lei­den.

Beim Des­sert hat­te der lie­bens­wür­di­ge Mann alle Mühe, sich der Auf­merk­sam­keit zu er­weh­ren, mit der die Baro­nin ihm im­mer wie­der vor­le­gen ließ.

Plötz­lich rief er wie je­mand, dem eine glück­li­che Idee durch den Kopf schiesst:

»Den­ken Sie nur, ich habe ein neu­es Pfarr­kind, das ich Ih­nen not­wen­dig vor­stel­len muss. Es ist der Herr Vi­com­te de La­ma­re.«

Die Baro­nin, wel­che den gan­zen Adel der Pro­vinz an den Fin­gern auf­zäh­len konn­te, frag­te:

»Ei­ner von den La­ma­re’s von Eure?«

»Zu die­nen, Ma­da­me«; sag­te der Pries­ter, sich ver­beu­gend, »der Sohn des letzthin ver­stor­be­nen Vi­com­te Jo­hann de La­ma­re.«

Ma­da­me Ade­laï­de, die für den Adel über­aus schwärm­te, rich­te­te nun eine Men­ge Fra­gen an ihn und er­fuhr, dass der jun­ge Mann, um die vä­ter­li­chen Schul­den zu be­zah­len, sein Schloss ver­kauft und sich im Erd­ge­schoss ei­nes der drei Pacht­hö­fe, die er noch in der Ge­mein­de Etou­ve­nt be­sass, ein­ge­rich­tet hat­te. Sei­ne Ein­künf­te be­tru­gen al­les in al­lem fünf bis sechs Tau­send Fran­cs. Aber der jun­ge Mann war sehr ver­nünf­tig und spar­sam. Er woll­te zwei oder drei Jah­re ganz ein­fach und be­schei­den hier auf dem Lan­de woh­nen und sich so viel zu­rück­le­gen, dass er dann, ohne Schul­den zu ma­chen oder sei­ne Pacht­hö­fe zu be­las­ten, eine Rol­le in der Welt spie­len konn­te. Das End­ziel sei­ner Wün­sche war na­tür­lich eine vor­teil­haf­te Hei­rat.

»Es ist ein vor­treff­li­cher cha­rak­ter­vol­ler jun­ger Mann«, setz­te der Pfar­rer hin­zu, »so wohl­er­zo­gen, so gut­mü­tig. Aber er lang­weilt sich na­tür­lich et­was hier auf dem Lan­de.«

»Brin­gen Sie ihn zu uns, Herr Abbé!« sag­te der Baron, »viel­leicht kön­nen wir ihm et­was Zer­streu­ung bie­ten.«

Dann sprach man von an­de­ren Din­gen.

Als man im Sa­lon den Kaf­fee ein­ge­nom­men hat­te, bat der Pries­ter um die Er­laub­nis, eine klei­ne Pro­me­na­de im Gar­ten ma­chen zu dür­fen; er habe die Ge­wohn­heit, sich nach der Mahl­zeit et­was Be­we­gung zu ver­schaf­fen. Der Baron be­glei­te­te ihn. Sie gin­gen lang­sam längs der wei­ßen Fa­ca­de des Schlos­ses, kehr­ten wie­der um und be­gan­nen ih­ren Spa­zier­gang aufs Neue.

Ihre Schat­ten, der eine ma­ger, der an­de­re rund und wie ein fla­cher Pilz, folg­ten ih­nen bald, bald eil­ten sie ih­nen vor­aus, je nach­dem sie das Mond­licht im Rücken oder vor sich hat­ten. Der Pfar­rer rauch­te eine Art Zi­ga­ret­te, die er aus der Ta­sche ge­zo­gen hat­te. Er setz­te den Nut­zen der­sel­ben dem Baron in der frei­en Art der Leu­te vom Lan­de aus­ein­an­der: »Es be­för­dert die Ver­dau­ung, da ich oft an star­ken Blä­hun­gen lei­de«, sag­te er.

Dann stand er plötz­lich still und sag­te, den kla­ren Ster­nen­him­mel be­trach­tend:

»Man wird doch nie­mals müde, das an­zu­schau­en.« Hier­auf kehr­te er zu­rück, um sich von den Da­men zu ver­ab­schie­den.

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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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