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V.

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Vier Tage spä­ter fuhr die Post­kut­sche vor, in der sie die Rei­se nach Mar­seil­le an­tre­ten woll­ten.

Nach dem Schre­cken der ers­ten Nacht hat­te Jo­han­na sich schon mehr und mehr an das Zu­sam­men­le­ben mit Ju­li­us, an sei­ne Küs­se und zärt­li­chen Lie­bes­be­zeu­gun­gen ge­wöhnt, wenn auch ihr Wi­der­stre­ben ge­gen in­ti­me­re Be­zie­hun­gen sich im­mer noch nicht ver­lo­ren hat­te.

Sie fand ihn sehr schön und gut; sie lieb­te ihn von Her­zen. Im Gan­zen fühl­te sie sich glück­lich und zu­frie­den.

Der Ab­schied war kurz und ver­lief ziem­lich schmerz­los. Nur die Baro­nin schi­en be­wegt. Im Au­gen­blick der Ab­fahrt drück­te sie eine große wohl­ge­füll­te Bör­se ih­rer Toch­ter in die Hän­de.

»Für Dei­ne klei­nen Ne­ben­aus­ga­ben« sag­te sie.

Jo­han­na steck­te die Bör­se ein und die Pfer­de zo­gen an.

»Wie viel hat Dir Dei­ne Mut­ter in der Bör­se zu­ge­steckt?« frag­te Ju­li­us sie ge­gen Abend.


Sie hat­te schon gar nicht mehr dar­an ge­dacht und schüt­te­te jetzt den In­halt in ih­ren Schoss aus. Es war ein gan­zer Hau­fen Gold: Zwei­tau­send Fran­cs.

»Ich wer­de da noch die schöns­ten Tor­hei­ten be­ge­hen« sag­te sie die Hän­de zu­sam­menschla­gend. Dann steck­te sie das Geld wie­der ein.

Nach­dem sie acht Tage bei ei­ner wah­ren Glut­hit­ze auf der Land­stras­se ge­fah­ren wa­ren, ka­men sie glück­lich in Mar­seil­le an.

Am an­de­ren Mor­gen trug sie der »Kö­nig Lud­wig«, ein klei­nes Packet­boot, wel­ches über Ajac­cio nach Nea­pel fuhr, an die Ge­sta­de Kor­si­kas.

Kor­si­ka! mit sei­nen Ma­kis! sei­nen Räu­bern! sei­nen Ber­gen! Das Va­ter­land Na­po­le­ons! Es kam Jo­han­na vor, als ver­lies­se sie die Welt der Wirk­lich­keit, um wa­chen­den Sin­nes das Land der Träu­me zu be­tre­ten.

Auf dem Ver­deck ne­ben­ein­an­der sit­zend sa­hen sie die Küs­te der Pro­vence an ih­ren Au­gen vor­über­zie­hen. Ru­hig, un­be­weg­lich, in präch­tig azur­ner Fär­bung lag das Meer, wie zu ei­ner fes­ten Mas­se er­starrt, un­ter den heis­sen Son­nen­strah­len, die von dem tief­blau­en Him­mel her­nie­der­san­ken.

»Erin­nerst Du Dich noch un­se­rer Fahrt da­mals im Boo­te des Papa Las­ti­que?« frag­te sie ihn.

Statt al­ler Ant­wort drück­te er einen Kuss auf ihre Wan­ge.

Die Schau­feln der Rä­der weck­ten das Was­ser aus sei­nem stil­len Trau­me. Ein lan­ger schäu­men­der Strei­fen er­streck­te sich vom Hin­ter­teil des Schif­fes aus so­weit das Auge reich­te, und das ge­teil­te Was­ser braus­te zu bei­den Sei­ten auf wie Cham­pa­gner.

Plötz­lich schnell­te vorn, nur ei­ni­ge Fa­den­län­gen vor dem Schiff, ein rie­si­ger Fisch aus dem Was­ser, tauch­te dann den Kopf un­ter und ver­schwand wie­der gänz­lich. Jo­han­na war so er­schreckt, dass sie mit ei­nem Angst­ruf ihr Ge­sicht an Ju­li­us’ Brust ver­barg. Dann muss­te sie selbst über ihre Furcht la­chen und war­te­te ge­spannt, ob das Tier nicht wie­der zum Vor­schein kam. Nach ei­ni­gen Mi­nu­ten tauch­te es wie­der auf wie ein großes künst­li­ches Spiel­zeug. Jetzt ver­schwand es wie­der, kam aber­mals her­auf; dann wa­ren es ih­rer zwei, dann drei, end­lich sechs, wel­che um das Schiff her­um­zuhüp­fen schie­nen, als woll­ten sie dem grös­se­ren Ge­fähr­ten, dem höl­zer­nen Fisch mit den ei­ser­nen Flos­sen, das Ge­leit ge­ben. Bald wa­ren sie rechts, bald links, bald ein­zeln, bald zu­sam­men, dann ei­ner hin­ter dem an­de­ren wie in lus­ti­ger Ver­fol­gung beim tän­deln­den Spiel. Zu­wei­len schnell­ten sie sich mit ei­nem großen Sprung in die Luft, um dann eins nach dem an­de­ren wie­der in ei­nem großen Bo­gen ins Was­ser zu­rück­zu­fal­len.

Jo­han­na klatsch­te vor Ver­gnü­gen in die Hän­de, trotz­dem sie je­des Mal beim Er­schei­nen der großen Fi­sche aufs neue schau­der­te.

Plötz­lich ver­schwan­den sie. Man sah sie noch ein­mal ziem­lich weit in der of­fe­nen See; dann kehr­ten sie nicht wie­der. Jo­han­na wur­de eine Zeit lang ganz trau­rig über ihr Ver­schwin­den.

Der Abend kam her­an, ein ru­hi­ger, mil­der, strah­len­der Abend voll Glanz und süs­sem Frie­den. Luft und Was­ser wa­ren in stil­ler Ruhe, und die­se un­be­grenz­te Ruhe des Mee­res und des Him­mels teil­te sich auch dem Her­zen mit.

Lang­sam ver­sank die Son­ne da drü­ben in der Ge­gend von Afri­ka, dem un­sicht­ba­ren heis­sen Afri­ka, des­sen Glut man schon zu spü­ren glaub­te, wenn nicht ein schmei­cheln­der küh­ler Luft­zug, der je­doch kei­nes­wegs ei­nem Wind­hau­che glich, die Ge­sich­ter der Rei­sen­den um­spielt hät­te, nach­dem die Son­ne un­ter­ge­gan­gen war.

Sie hat­ten kei­ne Lust, in ihre Ka­bi­ne her­un­ter­zu­ge­hen, die mit al­len Düf­ten ei­nes Packet­boo­tes an­ge­füllt war. So wi­ckel­ten sie sich denn bei­de dicht in ihre Män­tel ein und leg­ten sich ne­ben­ein­an­der aufs Ver­deck. Ju­li­us schlief so­fort ein, wäh­rend Jo­han­na noch eine Wei­le un­ter den un­ge­wohn­ten Rei­se-Ein­drücken wach blieb.

Das gleich­för­mi­ge Geräusch der Schau­fel­rä­der hielt sie wach, und sie be­trach­te­te mit In­ter­es­se die Le­gi­on von Ster­nen, so hell, so klar und fun­kelnd, wie man sie eben nur am süd­li­chen Him­mel er­blickt.

Ge­gen Mor­gen schlief sie in­des­sen ein, bis ein Geräusch von Stim­men sie weck­te. Die Ma­tro­sen rei­nig­ten un­ter ein­för­mi­gem Ge­san­ge das Schiff. Sie rüt­tel­te ih­ren im­mer noch re­gungs­los schla­fen­den Mann und bei­de er­ho­ben sich.

Mit Ent­zücken sog sie den sal­zi­gen Duft ein, der ihr bis in die Fin­ger­spit­zen drang. Rings um­her sah sie nichts als Meer. In­des­sen da vorn zeig­te sich et­was grau­es, noch un­be­stimmt in der Mor­gen­däm­me­rung; es sah aus wie ein­zel­ne auf­ge­türm­te za­cki­ge zer­ris­se­ne Wol­ken, die auf den Wo­gen zu la­gern schie­nen.

Dann konn­te man ge­nau­er un­ter­schei­den; die For­men tra­ten mehr her­vor, je mehr der Him­mel sich auf­klär­te. Eine lan­ge Rei­he son­der­bar ge­zack­ter Ber­ge er­hob sich aus dem Mee­re. Es war Cor­si­ka, noch ver­hüllt in ei­ner Art leich­tem Ne­bel­schlei­er.

Da­hin­ter stieg lang­sam die Son­ne auf. An­fangs la­gen die Käm­me der Ber­ge noch in tie­fem Schat­ten, dann schi­en es, als ob auf al­len Gip­feln strah­len­de Lich­ter ent­zün­det wür­den, wäh­rend der un­te­re Teil der In­sel noch in dich­tem Ne­bel lag.

Der Ka­pi­tän, ein al­tes gelb­li­ches, von den schar­fen salz­hal­ti­gen Win­den ver­trock­ne­tes, ver­schrumpf­tes und aus­ge­dörr­tes, aber zä­hes Männ­chen wur­de auf der Steu­er­brücke sicht­bar.

»Rie­chen Sie das, die­sen Duft?« sag­te er mit sei­ner durch dreis­sig­jäh­ri­ges Kom­man­die­ren rau ge­wor­de­nen und im Ge­brüll der Stür­me ver­schlis­se­nen Stim­me.

In der Tat nahm sie einen ei­gen­tüm­li­chen selt­sa­men Pflan­zen­duft von un­ge­wöhn­li­cher Wür­ze wahr.

»Das ist Cor­si­ka in der Blü­te, Ma­da­me«, fuhr der Ka­pi­tän fort. »Es ist wie der Duft ei­ner hüb­schen jun­gen Frau. Ich wür­de ihn noch nach zwan­zig Jah­ren auf fünf Mei­len Ent­fer­nung wie­der­er­ken­nen. Ich stam­me von dort. Er, da un­ten auf St. He­le­na, spricht wie es heisst, stets von dem Duf­te sei­nes Va­ter­lan­des. Wir sind mit ihm ver­wandt.«

Und der Ka­pi­tän lüf­te­te sei­nen Hut, grüss­te Cor­si­ka und grüss­te da un­ten, weit im Ozean den großen ge­fan­ge­nen Kai­ser, der zu sei­ner Fa­mi­lie ge­hör­te.

Jo­han­na fühl­te sich so be­wegt, dass sie bei­na­he ge­weint hät­te.

Dann brei­te­te der See­mann die Arme ge­gen den Ho­ri­zont aus.

»Die Blut­stei­ne!« sag­te er.

Ju­li­us stand ne­ben sei­ner Frau und hielt sie um­schlun­gen; bei­de schau­ten in die Fer­ne, um den an­ge­deu­te­ten Punkt zu er­ken­nen.

End­lich be­merk­ten sie ei­ni­ge Fel­sen in Ge­stalt von Py­ra­mi­den, wel­che bald dar­auf das Schiff um­fuhr, um in einen un­ge­heu­ren ru­hi­gen Golf ein­zu­lau­fen, der von zahl­rei­chen ho­hen Gip­feln um­säumt war, de­ren grü­ne Hän­ge mit Moos be­deckt schie­nen.

»Die Ma­kis!«1 sag­te der Ka­pi­tän, auf die grü­nen Hän­ge deu­tend.

Je nä­her man kam, de­sto mehr schi­en sich der Kreis von Ber­gen hin­ter dem Schiff zu­sam­men­zu­sch­lies­sen, wel­ches lang­sam da­hin glitt. Die azur­blaue Flut war so klar, dass man fast bis auf den Grund se­hen konn­te.

Und plötz­lich zeig­te sich im Hin­ter­grun­de der Bucht am Ran­de der Wo­gen zu Füs­sen der Ber­ge die weiß­schim­mern­de Stadt.

Ei­ni­ge klei­ne ita­lie­ni­sche Schif­fe la­gen im Ha­fen vor An­ker. Vier oder fünf Bar­ken um­kreis­ten den »Kö­nig Lud­wig«, um sei­ne Pas­sa­gie­re auf­zu­neh­men.

»Was meinst Du«, sag­te Ju­li­us, das Ge­päck zu­sam­men­le­gend, lei­se zu sei­ner Frau, »zwan­zig Sous wird für den Trä­ger wohl ge­nug sein?«

Seit acht Ta­gen stell­te er je­den Au­gen­blick die glei­che Fra­ge, die ihr schreck­lich pein­lich war.

»Wenn man nicht weiß, ob es ge­nug ist, gibt man lie­ber et­was mehr«, sag­te sie ziem­lich un­ge­dul­dig.

Unauf­hör­lich han­del­te er mit Wir­ten und Kell­nern, mit Kut­schern und Ge­schäfts­leu­ten al­ler Art. Wenn er dann mit Hil­fe sei­ner Zun­gen­fer­tig­keit einen bil­li­ge­ren Preis er­zielt hat­te, so sag­te er zu Jo­han­na, sich ver­gnügt die Hän­de rei­bend:

»Ich las­se mich nicht gern übers Ohr hau­en.«

Sie zit­ter­te je­des Mal, wenn sie die Rech­nun­gen kom­men sah, denn sie wuss­te, dass er zu je­dem Pos­ten sei­ne Ein­wen­dun­gen ma­chen wür­de. Sie fühl­te sich durch die­sen Krä­mer­geist er­nied­rigt und er­rö­te­te je­des Mal bis über die Ohren, wenn sie den miss­ver­gnüg­ten Blick der An­ge­stell­ten be­merk­te, mit wel­chem die­sel­ben aus der Hand ih­res Man­nes das stets sehr spär­li­che Trink­geld emp­fin­gen.

Nun hat­te er noch einen län­ge­ren Streit mit dem Bar­ken­füh­rer, der sie an Land brach­te.

Der ers­te Baum, den sie sah, war eine Pal­me.

Sie stie­gen in ei­nem großen statt­li­chen Ho­tel an der Ecke ei­nes ge­räu­mi­gen Plat­zes ab und lies­sen sich ein Früh­stück ser­vie­ren.

Als sie mit dem Nach­tisch fer­tig wa­ren und Jo­han­na sich ge­ra­de er­he­ben woll­te, um ein we­nig durch die Stadt zu strei­fen, schloss sie Ju­li­us in sei­ne Arme und flüs­ter­te ihr zärt­lich zu:

»Wol­len wir uns nicht et­was nie­der­le­gen, mein Schatz?«

»Uns nie­der­le­gen?« frag­te sie über­rascht. »Aber Ich bin durch­aus nicht müde!«

»Aber ich möch­te … Du weißt schon«, sag­te er, »seit zwei Ta­gen! …«

»Ach, zu die­ser Stun­de?« stam­mel­te sie scham­rot. »Was wird man da­von den­ken? Wie wür­dest Du den Mut fin­den, am hel­len Tage ein Zim­mer zu ver­lan­gen? Ach, Ju­li­us, ich bit­te Dich!«

»Ich ma­che mir den Kuckuck dar­aus, was die Leu­te den­ken oder sa­gen wer­den«, un­ter­brach er sie. »Du wirst se­hen, wie gleich­gül­tig mir das ist.« Und er schell­te.

Sie wag­te nichts mehr ein­zu­wen­den und sass mit nie­der­ge­schla­ge­nen Au­gen da; ihr Herz und ihr gan­zes Ge­fühl sträub­te sich ge­gen die­ses un­be­zähm­ba­re Ver­lan­gen ih­res Gat­ten. Nur wi­der­stre­bend füg­te sie sich in das Un­ver­meid­li­che, aber sie fühl­te sich er­nied­rigt und her­ab­ge­wür­digt durch ein Be­geh­ren, wel­ches ihr tie­risch und un­end­lich un­rein vor­kam.

Ihre Ge­füh­le wa­ren noch nicht er­wacht und doch tat ihr Mann, als ob sie schon ganz sein Feu­er tei­le.

Als der Kell­ner kam, ver­lang­te Ju­li­us auf ihr Zim­mer ge­führt zu wer­den. Der Mann, ein ech­ter Cor­se, haa­rig bis an die Au­gen, schi­en an­fangs nicht recht zu be­grei­fen; er ver­si­cher­te, dass das Zim­mer für die Nacht be­reit ste­hen wer­de.

»Nein, ich wün­sche es so­fort!« sag­te Ju­li­us un­ge­dul­dig. »Wir sind müde von der Rei­se und wol­len uns aus­ru­hen!«

Ein Lä­cheln husch­te über die bär­ti­gen Lip­pen des Kell­ners. Jo­han­na wäre am liebs­ten da­von­ge­lau­fen.

Als sie eine Stun­de spä­ter wie­der her­un­ter­ka­men, wag­ten sie nicht, die Leu­te an­zu­se­hen, die an ih­nen vor­über­gin­gen; sie glaub­te ein Lä­cheln und Tu­scheln hin­ter ih­rem Rücken zu be­mer­ken. Es war ihr un­be­greif­lich, wie Ju­li­us da­für kein Ge­fühl hat­te; sie är­ger­te sich, dass er nicht mehr Rück­sicht und zar­te­re Scham be­sass. Wie ein Schlei­er, wie eine Schei­de­wand, leg­te es sich zwi­schen ihr und ihm, als sie jetzt zum ers­ten Mal die Über­zeu­gung fass­te, dass zwei Per­so­nen sich nie­mals wirk­lich bis auf den Grund der See­le drin­gen, um dort die ver­bor­gens­ten Ge­dan­ken zu le­sen; dass sie ne­ben­ein­an­der, eng an ein­an­der ge­schmiegt so­gar, ge­hen kön­nen, aber nie­mals ganz mit­ein­an­der ver­mengt sind und dass die See­le ei­nes je­den doch so­zu­sa­gen ihre ei­ge­nen Wege wan­delt.

Drei Tage ver­brach­ten sie in der klei­nen Stadt am blau­en Gol­fe, die hin­ter dem Berg­vor­hang von je­dem küh­len Luft­zug ab­ge­sperrt, vor Hit­ze bei­na­he koch­te.

Dann ent­war­fen sie einen Rei­se­plan und be­schlos­sen, um auch die schwie­rigs­ten Tou­ren ma­chen zu kön­nen, sich Pfer­de zu mie­ten. So nah­men sie also zwei klei­ne kor­si­sche Hengs­te mit feu­ri­gen Au­gen, zäh und un­er­müd­lich, und be­ga­ben sich ei­nes Mor­gens bei Ta­ge­s­an­bruch auf den Weg. Ein Füh­rer auf ei­nem Maulesel, der zu­gleich mit Pro­vi­ant be­la­den war, bil­de­te ihre Beglei­tung; denn auf Gast­häu­ser durf­ten sie in dem un­wirt­li­chen Lan­de nicht rech­nen.

Die Stras­se führ­te zu­erst dem Golf ent­lang und dann durch ein mäs­sig tie­fes Tal ge­gen die großen Ber­ge zu. Zu­wei­len muss­te man halb­aus­ge­trock­ne­te Strö­me über­schrei­ten; nur dünn rie­sel­te un­ter den Kie­seln ih­res Bet­tes das Was­ser da­hin, und ließ ein schwa­ches Plät­schern ver­neh­men.

Das un­be­bau­te Land schi­en fast nackt zu sein. Die Berg­hän­ge wa­ren mit ho­hen, bei der heis­sen Jah­res­zeit fast brau­nen Kräu­tern, be­wach­sen. Hin und wie­der be­geg­ne­te man ei­nem Berg­be­woh­ner ent­we­der zu Fuss oder zu Pferd, oder ritt­lings auf ei­nem rund­bau­chi­gen Esel sit­zend.

Aber alle hat­ten über der Schul­ter hän­gend das ge­la­de­ne Ge­wehr, alte ver­ros­te­te, aber in ih­ren Hän­den sehr ge­fürch­te­te Waf­fen.

Der star­ke Ge­ruch der duf­ti­gen Kräu­ter, mit de­nen die In­sel be­wach­sen ist, schi­en die Luft zu ver­di­cken. In lan­gen Win­dun­gen stieg die end­lo­se Stras­se die Ber­ge hin­an.

Die Gip­fel aus röt­li­chem oder blau­en Gra­nit ver­lie­hen der öden Um­ge­bung den Cha­rak­ter ei­ner Zau­ber­land­schaft; und die großen Kas­ta­ni­en­wäl­der an den tiefer­ge­le­ge­nen Hän­gen sa­hen wie grü­nes Ge­büsch aus. So groß war die Ent­fer­nung, wel­che sie von den hoch­ra­gen­den Berg­gip­feln trenn­te.

Hin und wie­der nann­te der Füh­rer, die Hand ge­gen die zer­ris­se­nen Gip­fel aus­stre­ckend, einen Na­men. Jo­han­na und Ju­li­us wand­ten den Blick dort­hin, aber sie konn­ten an­fangs nichts se­hen, bis sie schliess­lich einen grau­en Ge­gen­stand ent­deck­ten, der einen vom Gip­fel ab­ge­lös­ten Stein­hau­fen glich. Es war ein Dorf, ein klei­ner Wei­ler, wie ein rich­ti­ges Vo­gel­nest, dort in der en­gen Fels­s­pal­te fast un­sicht­bar ein­ge­zwängt.

Der lan­ge Weg im Schritt mach­te Jo­han­na un­ge­dul­dig. »Wir wol­len mal vor­wärts rei­ten« sag­te sie und spreng­te ihr Pferd an. Als sie ih­ren Mann nicht ne­ben sich gal­lo­pie­ren hör­te, wand­te sie sich um und brach in ein tol­les Ge­läch­ter aus, als sie ihn her­bei­kom­men sah, krampf­haft am Zü­gel zer­rend und selt­sam schwan­kend. Sei­ne Schön­heit und sei­ne vor­neh­me Hal­tung kon­tras­tier­ten ei­gen­tüm­lich zu sei­ner Un­ge­schick­lich­keit und Furcht.

Sie setz­ten dar­auf den Weg in lang­sa­men Tra­be fort. Die Stras­se führ­te jetzt durch zwei un­durch­dring­li­che Ge­büsch­strei­fen, wel­che den Hang wie ein Man­tel be­deck­ten.

Es war dies der Maki, der un­durch­dring­li­che Maki, aus grü­nen Ei­chen, Wach­hol­der­sträu­chern, Erd­beer­stau­den, Mas­tix­bäu­men, Kreuz­dorn, Farrn­kraut, Lor­beer, Thy­mi­an und al­ler­lei Sch­ling­pflan­zen ge­bil­det. Das al­les war in ein­an­der ver­wach­sen wie die Haa­re ei­nes Men­schen; es rank­te, spross­te, wu­cher­te em­por und bil­de­te so selt­sa­me For­men, ein so un­ent­wirr­ba­res Dickicht, dass kei­nes Men­schen Fuss sich durch das­sel­be zu win­den ver­mocht hät­te. Es war wie ein dich­tes Vlies, das den Rücken des Ber­ges be­deck­te.

All­mäh­lich ver­spür­ten sie Hun­ger. Der Füh­rer, der sie wie­der ein­ge­holt hat­te, brach­te sie zu ei­ner je­ner lieb­li­chen Quel­len, wie man sie in die­sem zer­klüf­te­ten Lan­de so zahl­reich fin­det, wo ein dün­ner eis­kal­ter Was­ser­fa­den aus ei­nem klei­nen Lo­che im Fel­sen rinnt und sich am Fus­se ei­ner Kas­ta­nie in ei­ner klei­nen Ver­tie­fung sam­melt, von wo aus dann der Lauf bis zur Mün­dung wei­ter führt.

Jo­han­na war so ent­zückt, dass sie nur mit Mühe einen Ruf der Über­ra­schung un­ter­drück­te.

Nach dem Früh­stück bra­chen sie wie­der auf und be­gan­nen den Ab­stieg auf der Sei­te des Golfs von Sa­go­ne.

Ge­gen Abend ka­men sie durch Car­ge­se, dem al­ten Grie­chen-Dor­fe, wel­ches einst eine flüch­ti­ge Schar Ver­bann­ter dort an­ge­legt hat­te. Hüb­sche, hoch­ge­wach­se­ne Mäd­chen mit vor­neh­mem Pro­fil, lan­gen Hän­den, schlan­ker Tail­le, aus­neh­mend gra­zi­öse Er­schei­nun­gen, stan­den in ei­ner Grup­pe an ei­nem Brun­nen. Als Ju­li­us ih­nen einen »Gu­ten Abend« wünsch­te, ant­wor­te­ten sie mit wohl­klin­gen­der Stim­me in der me­lo­di­schen Spra­che ih­res Va­ter­lan­des.

Als sie nach Pia­na ka­men, muss­ten sie, wie in al­ten Zei­ten und längst ver­schol­le­nen Lan­den um Gast­freund­schaft bit­ten. Jo­han­nas Herz hüpf­te vor Freu­de, wäh­rend sie war­te­ten, ob die Pfor­te sich öff­nen wür­de, an wel­cher Ju­li­us ge­pocht hat­te. Das war doch wirk­lich mal eine Rei­se mit all’ den un­vor­her­ge­se­he­nen Er­eig­nis­sen auf un­be­kann­ten Stras­sen!

Sie hat­ten sich ge­ra­de an eine noch neu­be­grün­de­te Haus­hal­tung ge­wandt. Man emp­fing sie, wie un­ge­fähr die Pa­tri­ar­chen einen von Gott ge­sand­ten Gast emp­fan­gen ha­ben wür­den. Sie schlie­fen un­ter ei­nem Stroh­da­che in dem al­ten wurm­sti­chi­gen Hau­se, des­sen gan­zes Ge­bälk mit In­schrif­ten be­deckt schi­en; so hat­ten die klei­nen Holzwür­mer ihre Spu­ren auf dem­sel­ben ein­ge­gra­ben.

Mit Son­nen­auf­gang zo­gen sie wei­ter und stan­den bald vor ei­nem Wald, ei­nem wirk­li­chen Wald von pur­pur­far­be­nem Gra­nit. Da be­fan­den sich Gie­bel, Säu­len, Glo­cken und al­ler­lei selt­sa­me Fi­gu­ren, wel­che der Zahn der Zeit, der Sturm­wind und der ge­fräs­si­ge Bro­dem des Mee­res aus dem Ge­stein ge­bil­det hat­ten.

Oft drei­hun­dert Me­ter hoch, schlank, rund, ge­wun­den, ge­knickt, miss­ge­stal­tet, selt­sam, in je­der Art von Form, er­schie­nen die­se son­der­ba­ren Fel­sen wie Bäu­me, Pflan­zen, Tie­re, Denk­mä­ler, Men­schen, Mön­che in lan­gen Kut­ten, Teu­fel mit Hör­nern, rie­si­ge Vö­gel, kurz wie eine Welt von Un­ge­heu­ern, wie eine Me­na­ge­rie, die durch die son­der­ba­re Lau­ne ir­gend ei­nes Got­tes in Stein ver­wan­delt war.

Jo­han­na fand kei­ne Wor­te für die mäch­ti­ge Be­we­gung ih­res Her­zens, und sie er­griff die Hand ih­res Gat­ten, wel­che sie, hin­ge­ris­sen von der Schön­heit die­ses Schau­spie­les, zärt­lich drück­te.

Plötz­lich, als sie die­sen chao­ti­schen An­blick hin­rei­chend ge­nos­sen, ent­deck­ten sie einen neu­en Golf, der rings­um mit ei­ner Mau­er von blu­tig­ro­tem Gra­nit um­säumt war. Das blaue Meer warf das Spie­gel­bild die­ser schar­lach­far­be­nen Fel­sen zu­rück.

»Ach, Ju­li­us!« stam­mel­te Jo­han­na; sie konn­te von Be­wun­de­rung hin­ge­ris­sen kei­ne an­de­ren Wor­te fin­den. Es war ihr, als ob ihr die Keh­le zu­ge­schnürt wäre; und zwei große Trä­nen perl­ten aus ih­ren Au­gen.

»Was hast Du, Herz­chen?« frag­te Ju­li­us, sie er­staunt an­bli­ckend.

»Ach nichts …« sag­te sie, sich die Au­gen wi­schend, mit et­was un­si­che­rer Stim­me. »Es kommt von den Ner­ven … ich weiß selbst nicht … Ich war er­grif­fen. Ich bin so glück­lich, dass die kleins­te Klei­nig­keit mich er­regt.«

Er hat­te kein Ver­ständ­nis für die­se weib­li­chen Er­re­gun­gen, die­ses Auf­wal­len ei­nes durch ein Nichts er­schüt­ter­ten Ge­mü­tes, auf wel­ches Be­geis­te­rung eben­so wirkt wie ein Un­glücks­fall, und wel­ches eben­so leicht vor Freu­de und Glück wie vor Schmerz zu wei­nen ge­neigt ist.

Die­se Trä­nen ka­men ihm lä­cher­lich vor; und ganz mit dem schlech­ten Zu­stan­de des We­ges be­schäf­tigt sag­te er:

»Du tä­test bes­ser, auf Dein Pferd acht zu ge­ben.«

Sie konn­ten nur mit Mühe auf dem fast un­gang­ba­ren Weg zu dem Grun­de die­ses Gol­fes ge­lan­gen; dann wand­ten sie sich rechts, um das fins­te­re Ota-Tal zu pas­sie­ren.

Aber der Pfad wur­de jetzt wirk­lich ent­setz­lich.

»Wol­len wir nicht lie­ber zu Fuss her­auf ge­hen?« schlug Ju­li­us vor.

Sie konn­te sich nichts bes­se­res wün­schen; es war ihr ge­ra­de recht, jetzt zu ge­hen, al­lein zu sein mit ihm nach die­ser hef­ti­gen Ge­müts­be­we­gung.

Der Füh­rer ritt mit dem Maulesel und den Pfer­den vor­aus, und sie folg­ten ihm lang­sam.

Das Ge­bir­ge schi­en hier von oben bis un­ten ge­bors­ten und der Pfad führ­te in die­se von der Na­tur ge­bil­de­te Spal­te. Zu bei­den Sei­ten er­ho­ben sich die Fels­wän­de wie zwei hohe Mau­ern, wäh­rend ein reis­sen­der Bach sich ne­ben dem Pfa­de sei­nen Weg durch die Enge bahn­te. Die Luft war ei­sig, der Gra­nit er­schi­en hier schwarz, und ganz hoch dar­über lach­te der blaue Him­mel.

Ein plötz­li­ches Geräusch ließ Jo­han­na er­zit­tern. Sie blick­te auf und sah, wie ein rie­si­ger Vo­gel sich aus ei­ner Fels­s­pal­te schwang; es war ein Ad­ler. Sei­ne aus­ge­spann­ten Flü­gel schie­nen bis an bei­de Wän­de der Schlucht zu rei­chen; im­mer hö­her stieg er em­por, bis er im azur­blau­en Äther ver­schwand.

Wei­ter vorn teil­te sich der Spalt in zwei Hälf­ten; der Pfad führ­te in gro­tes­ken Win­dun­gen durch die bei­den Schluch­ten. Jo­han­na ging lus­tig und leicht­füs­sig vor­an; die Kie­sel roll­ten un­ter ih­ren Füs­sen, aber sie beug­te sich furcht­los über den Rand der Ab­grün­de. Er folg­te ihr, et­was aus­ser Atem, das Auge, aus Furcht vor Schwin­del, stets zu Bo­den ge­senkt.

Plötz­lich er­reich­ten die Son­nen­strah­len sie wie­der; sie glaub­ten aus der Un­ter­welt her­vor­zu­kom­men. Da sie Durst ver­spür­ten, so folg­ten sie den feuch­ten Spu­ren, die durch wild auf­ein­an­der ge­türm­tes Ge­stein führ­ten und stan­den bald vor ei­ner Quel­le, die zum Ge­brauch für die Zie­gen in eine höl­zer­ne Rin­ne ge­lei­tet war. Rings­um­her war der Bo­den mit ei­nem Moos­tep­pich be­deckt. Jo­han­na knie­te nie­der um zu trin­ken, wor­auf Ju­li­us ih­rem Bei­spie­le folg­te.

Wäh­rend sie das küh­le Nass schlürf­te, fass­te er sie um die Tail­le und such­te ihr ih­ren Platz am Ende der Rin­ne zu rau­ben. Sie wehr­te sich und ihre Lip­pen sties­sen an­ein­an­der, sie scho­ben sich ge­gen­sei­tig zu­rück und ka­men dann wie­der zu­sam­men. Bei die­sem scherz­haf­ten Kamp­fe fass­ten sie ab­wech­selnd das schma­le Ende der Rin­ne mit den Zäh­nen, um sich fest­zu­hal­ten, wäh­rend das fri­sche Quell­was­ser bald zu­rück­ge­drängt, bald auf­spru­delnd, ihre Ge­sich­ter, ihre Na­cken, ihre Klei­der und Hän­de be­spritz­te. Auf ih­ren Haa­ren schim­mer­ten Was­ser­tröpf­chen wie klei­ne Per­len. Zwi­schen das ab­lau­fen­de Nass misch­ten sich ihre heis­sen Küs­se.


Jo­han­na wur­de plötz­lich von ei­nem voll­stän­di­gen Lie­bes­tau­mel er­grif­fen. Sie nahm einen Mund voll kla­ren Was­sers und mit auf­ge­bla­se­nen Ba­cken teil­te sie es, Lip­pe an Lip­pe ge­presst, Ju­li­us mit, um sei­nen Durst zu lö­schen.

Lä­chelnd, den Kopf hin­ten­über ge­beugt, hielt die­ser sei­nen Mund hin und trank mit ei­nem tie­fen Zuge aus die­ser le­ben­den Quel­le die küh­len­de La­bung. Aber in sei­nem In­ne­ren ent­zün­de­te sie eine heis­se Glut.

Jo­han­na beug­te sich mit un­ge­wöhn­li­cher Zärt­lich­keit über ihn; ihr Herz poch­te, ihre Brust wog­te, ihre Au­gen schim­mer­ten feucht.

»Ach, Ju­li­us … wie lieb ich Dich habe!« mur­mel­te sie lei­se; und in­dem sie sich ih­rer­seits zu­rück­lehn­te, zog sie ihn an sich her­an, wäh­rend sie zu­gleich be­schämt mit ei­ner Hand ihr Ant­litz be­deck­te.

Ju­li­us konn­te die­ser Lie­bes­sehn­sucht nicht wi­der­ste­hen. Er press­te sie hef­tig an sich; und sie seufz­te in lei­den­schaft­li­cher Er­war­tung. Plötz­lich stiess sie, wie vom Schla­ge ge­trof­fen, einen lau­ten Schrei aus. Jetzt war sie wirk­lich Ju­li­us’ Frau …

Es dau­er­te lan­ge, bis sie den Gip­fel des Ber­ges er­klom­men hat­ten; denn ihr Herz poch­te noch lan­ge und ihr Atem ging schwer. Erst ge­gen Abend ka­men sie in Evi­sa, bei ei­nem Ver­wand­ten ih­res Füh­rers Na­mens Pao­li Pala­bret­ti, an.

Es war dies ein gut­mü­tig aus­se­hen­der großer Mann; er ging et­was vorn­über ge­beugt und hat­te den fins­te­ren Aus­druck ei­nes Schwind­süch­ti­gen. Er führ­te sie in ihr Zim­mer; frei­lich ein ödes Ge­mach mit nack­ten Wän­den, aber lu­xu­ri­ös für die­ses Land, wo jede Ele­ganz un­be­kannt ist. Gera­de drück­te er in sei­nem kor­si­schen Platt mit fran­zö­si­schen und ita­lie­ni­schen Wor­ten ver­mischt, sei­ne leb­haf­te Freu­de aus, sie bei sich zu se­hen, als er von ei­ner hel­len Stim­me un­ter­bro­chen wur­de, und eine klei­ne leb­haf­te Frau mit großen dunklen Au­gen, son­nen­ge­bräun­tem Ge­sicht, von schlan­ker Tail­le und mit ei­nem ewi­gen Lä­cheln zwi­schen den sicht­ba­ren wei­ßen Zäh­nen sich vor­schob, Jo­han­na um­arm­te und Ju­li­us die Hand drück­te, wäh­rend sie wie­der­holt »Gu­ten Tag, Ma­da­me, gu­ten Tag Mon­sieur; wie geht’s?« rief.

Sie nahm Hüte und Shawls ab, wo­bei sie sich nur ei­nes Ar­mes be­dien­te, weil sie den an­de­ren in der Bin­de trug; hier­auf nö­tig­te sie alle, das Zim­mer zu ver­las­sen, in­dem sie zu ih­rem Man­ne sag­te: »Füh­re die Herr­schaf­ten bis zum Di­ner et­was her­um, Pao­li.«

Herr Pala­bret­ti ge­horch­te ohne Zö­gern, nahm sei­nen Platz zwi­schen dem jun­gen Paa­re ein und zeig­te ih­nen das Dorf. Sein Schritt war schlep­pend wie sei­ne Spra­che; alle fünf Mi­nu­ten hat­te er einen Hus­ten-An­fall, wo­bei er je­des Mal sag­te:

»Das kommt von der fri­schen Luft un­ten im Tale; sie ist mir auf die Brust ge­schla­gen.«

Er führ­te sie jetzt auf ei­nem ver­lo­re­nen Pfa­de un­ter rie­si­gen Kas­ta­ni­en­bäu­men. Plötz­lich blieb er ste­hen und sag­te mit sei­ner ein­för­mi­gen Stim­me:

»Hier wur­de mein Vet­ter Gio­van­ni Rinal­di durch Mat­teo Lori er­mor­det. Den­ken Sie, ich war auch da­bei; ganz nahe bei Gio­van­ni, als Mat­teo plötz­lich auf zehn Schritt vor uns stand.

›Gio­van­ni‹, rief er, ›geh nicht nach Al­ber­tac­co; geh nicht hin, oder ich brin­ge Dich um; das sage ich Dir.‹ – ›Geh nicht hin, Gio­van­ni!‹ rief ich, ihn am Arme fas­send. Es han­del­te sich um ein Mäd­chen, Pau­li­na Sinacu­pi, der sie bei­de nach­gin­gen. Aber Gio­van­ni schrie er­bost: – ›Ich wer­de doch ge­hen, und Du sollst mich nicht dar­an hin­dern.‹ – Da leg­te Mat­teo sein Ge­wehr an, be­vor ich das mei­ni­ge hat­te span­nen kön­nen und drück­te ab. Gio­van­ni mach­te mit bei­den Füs­sen zu­gleich einen großen Satz, wie ein Kind, das Seil­chen springt, mein Herr! und stürz­te dann rück­wärts mit sol­cher Ge­walt auf mich, dass mir mein Ge­wehr ent­fiel und bis zum großen Kas­ta­ni­en­baum da un­ten roll­te. Sein Mund stand weit of­fen; aber er sprach kein Wort mehr. Er war tot.«

Er­schüt­tert sah das jun­ge Paar den ru­hi­gen Zeu­gen die­ser grau­si­gen Tat an.

»Und der Mör­der?« frag­te Jo­han­na.

Pao­li Pala­bret­ti hus­te­te lan­ge, ehe er ant­wor­te­te:

»Es ge­lang ihm, das Ge­bir­ge zu er­rei­chen. Mein Bru­der hat ihn spä­ter ge­tö­tet. Näm­lich mein Bru­der Phil­ip­pi Pala­bret­ti, der Ban­di­to.«

»Ihr Bru­der?« frag­te Jo­han­na schau­dernd. »Ein Ban­dit?«

»Ja­wohl, Ma­da­me«, ent­geg­ne­te der sanf­te Kor­se mit stol­zem Auf­blit­zen des Au­ges, »es war so­gar ein ganz be­rühm­ter. Sechs Gens­darmen hat er nie­der­ge­streckt. Er starb mit Ni­co­la Mora­li zu­sam­men, als sie nach acht­tä­gi­gem Kamp­fe im Nio­lo um­zin­gelt wa­ren und bei­na­he vor Hun­ger um­ge­kom­men wä­ren. – Das ist nun mal hier­zu­lan­de nicht an­ders«, füg­te er mit gleich­gül­ti­gem Tone hin­zu, eben­so wie er sag­te: »Es ist die Luft im Tale, die einen er­käl­tet.«

Sie kehr­ten hier­auf zum Es­sen heim und die klei­ne Kor­sin be­han­del­te sie, als ob sie schon seit zwan­zig Jah­ren mit ih­nen be­kannt wäre.

Jo­han­na wur­de von pein­li­cher Un­ru­he ge­quält, ob sie auch in Ju­li­us’ Ar­men jene selt­sa­me und hef­ti­ge Lie­be wie­der­fin­den wür­de, die sie auf dem Moos­tep­pich bei der Quel­le am Mor­gen emp­fun­den hat­te.

Als sie al­lein im Zim­mer wa­ren, zit­ter­te sie bei dem Ge­dan­ken an eine Ent­täu­schung. Aber es kam an­ders, und die­se Nacht wur­de im wah­ren Sin­ne des Wor­tes ihre Braut­nacht.

Am an­de­ren Mor­gen, als die Stun­de der Abrei­se nah­te, konn­te sie sich kaum ent­sch­lies­sen, das klei­ne Haus zu ver­las­sen, wo ihr ein neu­es Glück für sie auf­ge­gan­gen zu sein schi­en.

Sie zog die klei­ne Frau ih­res freund­li­chen Gast­ge­bers ins Zim­mer und ver­si­cher­te ihr, dass sie ihr durch­aus kein Ge­schenk ma­chen wol­le, sich aber glück­lich füh­len wür­de, wenn sie ihr nach ih­rer Rück­kehr von Pa­ris aus ein klei­nes An­den­ken schi­cken dürf­te. Fast mit aber­gläu­bi­scher Hart­nä­ckig­keit be­stand sie auf der Über­sen­dung die­ses An­den­kens.

Die jun­ge Kor­sin sträub­te sich lan­ge und woll­te ab­so­lut nichts an­neh­men.

»Nun gut«, sag­te sie end­lich, »schi­cken Sie mir eine klei­ne Pis­to­le, eine ganz klei­ne.«

Jo­han­na mach­te große Au­gen.

»Ich möch­te mei­nen Schwa­ger tö­ten«, sag­te sie ganz lei­se, ihr ins Ohr flüs­ternd, wie man Je­man­den ein süs­ses Ge­heim­nis an­ver­traut. Und un­ter fort­wäh­ren­dem Lä­cheln lös­te sie has­tig die Bin­de von ih­rem Arm und zeig­te ihre run­de wei­ße Hand, wel­che deut­lich die Spu­ren von mehr­fa­chen Dolch­sti­chen auf­wies.

»Wenn ich nicht eben­so stark wäre wie er, so hät­te er mich um­ge­bracht. Mein Mann ist nicht ei­fer­süch­tig; er kennt mich. Und zu­dem ist er krank, wis­sen Sie, und das lässt sein Blut nicht auf­wal­len. Üb­ri­gens bin ich eine ehr­ba­re Frau, Ma­da­me! Aber mein Schwa­ger glaubt al­les, was man ihm sagt. Er ist ei­fer­süch­tig für mei­nen Mann und er wird si­cher wie­der von Neu­em an­fan­gen. Wenn ich in­des­sen eine klei­ne Pis­to­le hät­te, wäre ich be­ru­higt und könn­te mich vor ihm schüt­zen.«

Jo­han­na ver­sprach, ihr die Waf­fe zu sen­den, küss­te zärt­lich ihre neue Freun­din und setz­te ih­ren Weg mit Ju­li­us fort.

Der Rest ih­rer Rei­se ver­ging ih­nen wie ein Traum, wie ein end­lo­ser Lie­bes­rausch. Sie hat­te kein Auge mehr für Land und Leu­te; sie sah nur noch Ju­li­us.

Von nun an be­gann für sie jene kind­li­che lieb­li­che Zeit der Lie­bes­tän­de­lei, klei­ner zar­ter Ko­sen­a­men, scherz­haf­ter Ne­cke­rei­en, die Zeit, wo sie al­les, was sie um­gab und was sie ge­nos­sen, mit ei­ner be­son­de­ren Be­zeich­nung be­leg­ten.

Da Jo­han­na auf der rech­ten Sei­te schlief, so war ihre lin­ke Brust beim Er­wa­chen zu­wei­len ent­blöst. Ju­li­us, der dies be­merkt hat­te, nann­te das den »Herrn Freischlä­fer«, wäh­rend er die an­de­re Sei­te als den »Herrn Ver­lieb­ten« be­zeich­ne­te, weil die­sel­be mit ih­rer ro­si­gen Knos­pe sich für sei­ne Küs­se emp­find­li­cher er­wies.

Je­ner Platz, wo Ju­li­us am liebs­ten und häu­figs­ten bei ihr ver­weil­te, wur­de von ih­nen »Müt­ter­chens Al­lee« ge­tauft; eine an­de­re ge­heim­nis­vol­le­re Stel­le nann­ten sie den »Da­mas-Weg« zur Erin­ne­rung an das Tal von Ota.

Als sie in Bas­tia an­lang­ten, muss­te der Füh­rer ent­lohnt wer­den. Ju­li­us griff in sei­ne Ta­sche, konn­te aber das Ge­wünsch­te nicht gleich fin­den.

»Da Du die zwei­tau­send Fran­cs Dei­ner Mut­ter doch nicht brauchst, so könn­test Du sie mir zu tra­gen ge­ben. Sie sind in mei­nem Gür­tel bes­ser auf­ge­ho­ben, und ich brau­che dann kein Geld wech­seln zu las­sen.«

Sie reich­te ihm die Bör­se hin.

Hier­auf reis­ten sie über Li­vor­no, Flo­renz, Ge­nua und be­such­ten das gan­ze Al­pen­ge­biet.

Bei ei­nem hef­ti­gen Nord­west-Win­de lang­ten sie ei­nes Mor­gens in Mar­seil­le an.

Man schrieb den 15. Ok­to­ber; seit ih­rer Abrei­se von Peup­les wa­ren zwei Mo­na­te ver­gan­gen.

Jo­han­na fühl­te sich trau­rig; der hef­ti­ge kal­te Wind er­in­ner­te sie an ihre Hei­mat, die Nor­man­die. Ju­li­us schi­en seit ei­ni­ger Zeit sehr ver­än­dert, müde und gleich­gül­tig. Sie hat­te Furcht, ohne zu wis­sen wo­vor.

Sie ver­zö­ger­te ihre Heim­rei­se noch um vier Tage, weil sie sich nicht ent­sch­lies­sen konn­te, dies schö­ne son­ni­ge Land zu ver­las­sen. Es war ihr, als ob mit der Rei­se auch ihr Glück zu Ende ging.

Sch­liess­lich fuh­ren sie ab.

Sie muss­ten noch in Pa­ris alle ihre Ein­käu­fe für ih­ren end­gül­ti­gen Auf­ent­halt in Peup­les be­sor­gen. Jo­han­na freu­te sich dar­auf, dank der wohl­ge­füll­ten Bör­se von ih­rer Mut­ter, al­ler­hand Wun­der­din­ge mit heim zu brin­gen. Das ers­te aber, wor­an sie dach­te, war die Pis­to­le für die klei­ne Kor­sin in Evi­sa.

»Möch­test Du mir das Geld von Mama zu­rück­ge­ben, Herz, da­mit ich mei­ne Ein­käu­fe ma­chen kann?« sag­te sie am Tage nach ih­rer An­kunft zu Ju­li­us.

»Wie viel brauchst Du?« wand­te er sich stirn­run­zelnd zu ihr.

»Aber … so viel Du meinst,« stam­mel­te sie über­rascht.

»Ich wer­de Dir hun­dert Fran­cs ge­ben, aber ver­schleu­de­re sie nicht« ent­geg­ne­te er.

Sie war so über­rascht und ver­wirrt, dass sie an­fangs kei­ne Wor­te fand; end­lich sag­te sie zö­gernd:

»Aber … ich … ich hat­te Dir doch das Geld ge­ge­ben, um …«

»Ich weiß schon« un­ter­brach er sie. »Es ist doch ganz egal, wer von uns bei­den es in der Ta­sche hat, da wir doch von jetzt ab ge­mein­sa­me Kas­se füh­ren. Du kannst ha­ben, was Du willst, aber ich mei­ne, hun­dert Franks wäre vor­läu­fig ge­nug.«

Ohne wei­ter ein Wort zu sa­gen, nahm sie die fünf Gold­stücke; aber sie wag­te nicht, noch um mehr zu bit­ten und kauf­te nur die Pis­to­le.

Acht Tage spä­ter tra­ten sie die Rück­rei­se nach Peup­les an.

*

1 Eine spe­zi­ell auf Cor­si­ka ge­bräuch­li­che Be­zeich­nung für un­kul­ti­vier­te wil­de, mit dich­tem Ge­strüpp be­deck­te Stre­cken. (Anm. d. Übers.) <<<

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