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Das Ziehkind

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Du bist wahr­haf­tig, scheint mir’s, nicht bei Trost, mei­ne Lie­be, mich bei sol­chem Wet­ter im frei­en Fel­de spa­zie­ren zu füh­ren. Du hast seit zwei Mo­na­ten son­der­ba­re Ide­en. Du führst mich, ob ich will oder nicht, an die See, wo Du doch in den vier­zig Jah­ren, die wir nun ver­hei­ra­tet sind, nie­mals an so was ge­dacht hast. Du be­stehst mit Ge­walt auf Fe­camp, die­ser trau­ri­gen Stadt; und kaum sind wir hier, so bist Du, die sonst kei­nen Schritt vor die Türe ging, von ei­ner sol­chen Renn­wut er­grif­fen, dass Du am heis­ses­ten Tage des Jah­res quer­feld­ein läufst. Er­su­che doch d’A­gre­val um sei­ne Beglei­tung; der fügt sich bes­ser Dei­nen Lau­nen. Ich für mei­ne Per­son gehe ins Haus und hal­te mei­ne Sies­ta.«

»Kom­men Sie mit mir?« wand­te sich Ma­da­me de Ca­dour an ih­ren al­ten Freund.

Er ver­beug­te sich lä­chelnd, mit et­was alt­mo­di­scher Höf­lich­keit, und sag­te:

»Ich fol­ge Ih­nen, wo­hin Sie ge­hen.«

»Nun, so ho­len Sie sich einen Son­nen­stich«, sag­te Herr de Ca­dour und ging wie­der ins Ho­tel des Bains hin­ein, um sich ein oder zwei Stünd­chen aufs Ohr zu le­gen.

So­bald sie al­lein wa­ren, be­ga­ben sich die alte Dame und ihr Freund auf den Weg. Ihm die Hand drückend sag­te sie sehr lei­se:

»End­lich! … End­lich!«

»Sie sind tö­richt«, mur­mel­te er, »ich ver­si­che­re Ih­nen, es ist der rei­ne Wahn­sinn. Den­ken Sie, was Sie. ris­kie­ren. Wenn die­ser Mensch …«

»O Hen­ri«, sag­te sie zu­sam­men­zu­ckend, »sa­gen Sie nicht ›die­ser Men­sch‹, wenn Sie von ihm spre­chen.«

»Nun ja!« ant­wor­te­te er ziem­lich rück­sichts­los, »wenn un­ser Sohn ir­gend eine Ver­mu­tung fasst, wenn er miss­trau­isch wird, so hat er Sie, hat er uns in der Ge­walt. Sie ha­ben es ganz gut aus­ge­hal­ten, ihn seit vier­zig Jah­ren nicht zu se­hen; warum muss es denn ge­ra­de heu­te sein?«

Sie wa­ren der lang­ge­dehn­ten Stras­se ge­folgt, wel­che von der Stadt aus an die See führt, und wand­ten sich jetzt rechts, um nach der Küs­te von Etre­tat her­auf­zu­ge­hen. Die wei­ße Stras­se lag vor ih­nen in der ko­chen­den Glut der Son­nen­strah­len.

Sie gin­gen bei der glü­hen­den Hit­ze lang­sam mit kur­z­en Schrit­ten. Ma­da­me de Ca­dour hat­te den Arm ih­res Freun­des er­grif­fen und sah im­mer ge­ra­de­aus mit ei­nem ir­ren, su­chen­den Blick.

»So ha­ben Sie ihn nie­mals wie­der ge­se­hen?« frag­te sie ihn.

»Nein, nie­mals.«

»Ist es mög­lich?«

»Lie­be Freun­din, fan­gen wir die­se alte Ge­schich­te nicht wie­der von Neu­em an. Ich habe Frau und Kin­der, wie Sie einen Gat­ten ha­ben; also Grund ge­nug für uns bei­de, die öf­fent­li­che Mei­nung zu re­spek­tie­ren.«

Sie ant­wor­te­te nicht; sie dach­te an ihre Ju­gend zu­rück, an ver­gan­ge­ne trau­ri­ge Din­ge.

Sie war ver­hei­ra­tet wor­den, wie so man­che an­de­re, ohne ih­ren Bräu­ti­gam, einen Di­plo­ma­ten, ei­gent­lich ge­kannt zu ha­ben, und sie hat­te spä­ter mit ihm zu­sam­men ge­lebt, wie alle Frau­en aus der Ge­sell­schaft zu le­ben pfle­gen.

Ein jun­ger Mann, Herr d’A­gre­val, gleich­falls ver­hei­ra­tet, lieb­te sie lei­den­schaft­lich, und wäh­rend ei­ner län­ge­ren Ab­we­sen­heit Herrn de Ca­dour’s, den eine po­li­ti­sche Mis­si­on nach In­di­en führ­te, er­lag sie sei­nem stür­mi­schen Drän­gen.

Hät­te sie ihm wi­der­ste­hen, ihn zu­rück­wei­sen kön­nen? Hät­te sie die Kraft ge­habt, ihm nicht nach­zu­ge­ben, wo sie ihn gleich­falls lei­den­schaft­lich lieb­te? Nein, in der Tat nicht! Es wäre zu schmerz­lich ge­we­sen; sie hät­te zu sehr ge­lit­ten. Wie ist doch das Le­ben hart und grau­sam. Ge­wis­sen Schick­sals­fü­gun­gen kann man nicht ent­ge­hen, man kann sich ih­rer Be­stim­mung nicht ent­zie­hen. Kann eine al­lein­ste­hen­de Frau, de­ren Gat­te in der wei­ten Fer­ne weilt, die kei­ne Zärt­lich­keit ge­niesst, den Kin­der­se­gen ent­behrt, auf die Dau­er ei­ner Lei­den­schaft ent­flie­hen, die ihr gan­zes We­sen be­herrscht? Ge­wiss eben­so­we­nig wie man im­stan­de wäre, dem Lich­te der Son­ne zu ent­flie­hen, um bis zu sei­nem Tode in tiefs­ter Fins­ter­nis zu le­ben.


Wie gut er­in­ner­te sie sich noch jetzt al­ler Ein­zeln­hei­ten, sei­ner Küs­se, sei­nes Lä­chelns, mit dem er an der Tür ste­hen blei­bend sie an­blick­te, ehe er bei ihr ein­trat. Wel­che Tage des Glückes und der Süs­sig­keit, die­se ein­zi­gen schö­nen, lei­der nur so schnell ver­gan­ge­nen Tage.

Dann fühl­te sie, dass sie Mut­ter war. Wel­che Angst!

Ach, die­se Rei­se nach dem Sü­den, die­se lan­ge Rei­se, die­se Lei­den, die­ser fort­wäh­ren­de Schre­cken, die­ses ver­bor­ge­ne Le­ben in dem klei­nen ein­sa­men Häu­schen an der Mit­tel­meer-Küs­te, im Hin­ter­grun­de ei­nes Gar­tens, den sie nicht zu be­tre­ten wag­te.

Wie gut er­in­ner­te sie sich der lan­gen Tage, die sie un­ter ei­nem Oran­gen­baum lie­gend zu­brach­te, die Au­gen zu den run­den Früch­ten em­por­ge­wen­det, de­ren Rot sich von dem Grün des Blät­ter­werks ab­hob. Wie sie so gern aus­ge­gan­gen wäre bis ans Meer, des­sen fri­scher Hauch über die Mau­er her zu ihr hin­weh­te, des­sen kur­ze Schlä­ge an den Strand sie ver­nahm, von des­sen Ober­flä­che sie träum­te, wie sie bläu­lich im Lich­te der Son­ne er­glänz­te, wäh­rend wei­ße Wol­ken und ein Ge­bir­ge den Hin­ter­grund bil­de­ten. Aber sie wag­te nicht, aus dem Tore zu ge­hen. Wenn man sie er­kannt hät­te, so un­förm­lich, so un­fä­hig, bei ih­rer Fi­gur noch ihre Schan­de zu ver­ber­gen.

Und dann die Tage der Er­war­tung, die letz­ten qual­vol­len Tage! Die dro­hen­den Lei­den, end­lich die schreck­li­che Nacht. Wie viel Elend hat­te sie doch aus­hal­ten müs­sen!

War das eine Nacht! Wie hat­te sie ge­seufzt und ge­schri­en! Sie sah noch vor sich das blei­che Ant­litz ih­res Lieb­ha­bers, der ihr je­den Au­gen­blick die Hand küss­te, die be­hä­bi­ge Ge­stalt des Arz­tes, die wei­ße Müt­ze der Wär­te­rin.

Und wel­chen Riss gab es ih­rem Her­zen, als sie die­ses schwa­che Wim­mern, die­ses Kla­gen des Kin­des, die­sen ers­ten An­satz ei­ner mensch­li­chen Stim­me ver­nahm.

Und der nächs­te Tag! Ach ja, der nächs­te Tag, der ein­zi­ge ih­res Le­bens, wo sie ihr Kind se­hen und an ihr Herz drücken konn­te, denn nie­mals seit die­sem Tage hat­te sie auch nur eine Spur von ihm be­merkt. Welch öde lan­ge Zeit hat­te sie dann ver­bracht, wäh­rend die Ge­dan­ken an die­ses Kind ihr im­mer und im­mer wie­der vor die See­le tra­ten. Sie hat­te es nicht wie­der ge­se­hen, nicht ein ein­zi­ges Mal, die­ses klei­ne We­sen, dem sie das Le­ben ge­schenkt, ih­ren Sohn. Man hat­te ihn ihr ge­nom­men und ir­gend­wo an einen un­be­kann­ten Ort ge­bracht. Sie wuss­te nur, dass Bau­ers­leu­te in der Nor­man­die ihn auf­ge­zo­gen hat­ten, und dass er selbst ein Land­mann ge­wor­den war, dass er sich ver­hei­ra­tet und von sei­nem Va­ter, des­sen Na­men er nicht kann­te, eine reich­li­che Mit­gift er­hal­ten hat­te.


Wie kam sie nur plötz­lich auf den Ge­dan­ken, zu ihm rei­sen zu wol­len, um ihn zu se­hen und an ihr Herz zu drücken? Sie ver­gass, dass er in­zwi­schen ein Mann ge­wor­den war. Sie sah nur im­mer die­ses klei­ne Men­schen­we­sen vor sich, dass sie einen Tag in ih­ren Ar­men ge­hal­ten und an ihr klop­fen­des Herz ge­legt hat­te.

Wie oft hat­te sie spä­ter zu ih­rem Lieb­ha­ber ge­sagt:

»Ich hal­te es nicht mehr aus, ich muss ihn se­hen; ich fah­re hin.«

Stets hat­te er sie zu­rück­ge­hal­ten, sie ge­hin­dert; sie wis­se nicht sich zu be­herr­schen und an sich zu hal­ten, der an­de­re wür­de al­les ver­ra­ten und auf­de­cken. Dann sei sie ver­lo­ren.

*

»Wie sieht er denn aus?« frag­te sie d’A­gre­val.

»Ich weiß es nicht; ich sah ihn nie­mals wie­der.«

»Ist das mög­lich? Ei­nen Sohn ha­ben und ihn nicht ken­nen; Furcht vor ihm ha­ben, ihn von sich stos­sen, wie et­was Schänd­li­ches.«

Das war schreck­lich.

Und sie gin­gen un­ter den drücken­den Son­nen­strah­len stets die lan­ge Stras­se bergan wei­ter, die nach der Küs­te führ­te.

»Ist es nicht wie ein Straf­ge­richt«, fuhr sie fort, dass ich nie­mals wie­der ein Kind ge­habt habe? Nein, ich konn­te nicht dem Ver­lan­gen wi­der­ste­hen, das mich nun seit vier­zig Jah­ren quält, ihn noch ein­mal zu se­hen. Ihr Män­ner ver­steht das nicht. Den­ken Sie, dass ich schon ein­mal am Tode lag. Und ich hät­te ihn dann nicht wie­der ge­se­hen … ist es mög­lich … ihn nicht wie­der­ge­se­hen? … Wie konn­te ich nur so lan­ge war­ten? Mein gan­zes Le­ben lang habe ich an ihn ge­dacht. Wie habe ich dar­un­ter lei­den müs­sen! Nie­mals bin ich er­wacht, nicht ein ein­zi­ges Mal, den­ken Sie, ohne dass mein ers­ter Ge­dan­ke nicht ihm, mei­nem Kin­de, ge­gol­ten hät­te. Wie mag es ihm nur ge­hen? Ach, wie schul­dig füh­le ich mich ihm ge­gen­über! Darf man denn in ei­nem sol­chen Fal­le Men­schen­furcht ha­ben? Ich hät­te al­les ver­las­sen müs­sen, um ihm zu fol­gen, ihn zu er­zie­hen, mit mei­ner Lie­be zu um­ge­ben. Ich wäre glück­li­cher da­bei ge­we­sen, wahr­haf­tig. Ich war fei­ge, ich wag­te es nicht. Wie habe ich ge­lit­ten! Ach, wie müs­sen die­se ar­men ver­las­se­nen We­sen ihre Müt­ter has­sen!«

Sie blieb plötz­lich ste­hen, von Trä­nen über­strömt. Die gan­ze Ge­gend lag stumm und ein­sam un­ter der drücken­den Son­nen­hit­ze. Nur die Gril­len lies­sen fort­ge­setzt ihr ein­för­mi­ges Ge­zir­pe in dem dür­ren spär­li­chen Gra­se er­tö­nen, wel­ches die Stras­se zu bei­den Sei­ten ein­fass­te.

»Set­zen Sie sich einen Au­gen­blick«, sag­te er. Sie ließ sich von ihm zum Ran­de des Gra­bens füh­ren und setz­te sich, das Ge­sicht in den Hän­den be­gra­bend. Ihre wei­ßen Haa­re, die in Lo­cken zu bei­den Sei­ten des Ge­sich­tes hin­gen, wi­ckel­ten sich auf, aber sie be­ach­te­te es nicht; sie wein­te wei­ter zum Herz­zer­bre­chen.

Er blieb ihr ge­gen­über ste­hen, un­ru­hig bei dem Ge­dan­ken, was er ihr sa­gen soll­te.

»Kom­men Sie … Mut!« mur­mel­te er.

»Ich habe Mut«, sag­te sie auf­ste­hend. Und in­dem sie ihre Trä­nen trock­ne­te, nahm sie ih­ren Weg wie­der auf, wo­bei das Al­ter ih­ren Schritt et­was un­si­cher mach­te.

Die Stras­se führ­te et­was wei­ter hin zu ei­ner grös­se­ren Baum­grup­pe, un­ter der ei­ni­ge Häu­ser ver­steckt la­gen. Man konn­te schon von Wei­tem den re­gel­mäs­si­gen zit­tern­den Schlag ei­nes Schmie­de­ham­mers auf ei­nem Am­bos un­ter­schei­den.

Bald dar­auf sa­hen sie zur Rech­ten vor ei­nem nied­ri­gen Hau­se eine Kar­re hal­ten, wäh­rend un­ter ei­nem Vor­da­che zwei Män­ner ein Pferd be­schlu­gen. Herr d’A­gre­val nä­her­te sich ih­nen.

»Ist hier das Ge­höft von Pe­ter Be­ne­dikt?« rief er.

Ei­ner der Leu­te er­wi­der­te:

»Nehmt den Weg links, ganz bis zum klei­nen Kaf­fee­hau­se und geht dann ganz rechts, es ist das drit­te vom Wege nach Po­ret, ein Tänn­chen vorm Tore, nicht zu ver­feh­len.«

Sie wand­ten sich links. Sie ging jetzt ganz lang­sam mit wan­ken­den Kni­en, wäh­rend ihr Herz zum Zer­sprin­gen klopf­te.

Bei je­dem Schritt mur­mel­te sie wie im Ge­bet: »Mein Gott! Mein Gott!« Eine furcht­ba­re Auf­re­gung schnür­te ihr die Keh­le zu, und sie schwank­te auf den Füs­sen, als wä­ren ihre Seh­nen zer­ris­sen.

Herr d’A­gre­val, vor Auf­re­gung gleich­falls bleich, sag­te ihr et­was un­wirsch:

»Wenn Sie sich jetzt schon nicht mehr be­herr­schen kön­nen, wer­den Sie al­les so­fort ver­ra­ten. Su­chen Sie sich doch zu fas­sen.«

»Ach wie kann ich das?« seufz­te sie. »Mein Kind! Wenn ich den­ke, dass ich mein Kind se­hen wer­de!«

Sie folg­ten ei­nem je­ner klei­nen Feld­we­ge, wie man sie so viel sieht, zwi­schen den Fel­dern der Ge­höf­te hin­durch­füh­rend, be­schat­tet von ei­ner Dop­pel­rei­he Bu­chen zu bei­den Sei­ten der Grä­ben.

Und plötz­lich stan­den sie vor ei­nem höl­zer­nen Schlag­baum, den eine jun­ge Tan­ne be­schat­te­te.

»Hier ist’s«, sag­te er.

Sie blie­ben ste­hen und schau­ten.

Der mit Ap­fel­bäu­men be­pflanz­te Hof war ziem­lich groß und dehn­te sich bis zu dem klei­nen stroh­be­deck­ten Wohn­hau­se aus. Ge­gen­über lag der Pfer­de­stall, die Scheu­ne, der Kuh­stall, das Hüh­ner­haus. Un­ter ei­nem Zie­gel­dach stan­den die Acker­wa­gen, Kar­ren, Schieb­kar­ren, das Ca­brio­let. Vier Kühe wei­de­ten in dem ho­hen grü­nen Gra­se im Schat­ten der Bäu­me, wäh­rend in al­len Win­keln des Ge­höf­tes schwar­ze Hüh­ner her­um­trip­pel­ten.

Man hör­te nichts; die Tür des Hau­ses stand zwar of­fen, aber man konn­te im In­nern nie­mand er­bli­cken.

Sie tra­ten ein. So­fort stürz­te aus ei­nem Fas­se am Fus­se ei­nes großen Birn­bau­mes ein schwar­zer Hund her­vor und be­gann ein wü­ten­des Ge­bell.

Als sie nä­her ka­men, sa­hen sie an der Mau­er des Hau­ses vier Bie­nen­stö­cke mit ih­ren gel­ben Stroh­kup­peln ge­lehnt.

»Ist je­mand hier?« rief Herr d’A­gre­val, als sie an der Tür stan­den. Als­bald er­schi­en ein Kind, ein klei­nes Mäd­chen von un­ge­fähr zehn Jah­ren, in Hemd und Lei­nen­röck­chen, mit blos­sen schmut­zi­gen Füs­sen und furcht­sa­mer trot­zi­ger Mie­ne. Es blieb im Tür­rah­men ste­hen, als woll­te es den Ein­gang weh­ren.

»Was wol­len Sie?« frag­te es.

»Ist Dein Va­ter da?«

»Nein.«

»Wo ist er?«

»Ich weiß nicht.«

»Und Dei­ne Mut­ter?«

»Bei den Kü­hen.«

»Kommt sie bald zu­rück?«

»Weiß nicht.«

Und plötz­lich, als ob sie fürch­te­te, dass man sie mit Ge­walt weg­füh­ren wer­de, sag­te die alte Dame in ener­gi­schem Tone:

»Ich gehe nicht fort ohne ihn ge­se­hen zu ha­ben.«

»Wir wer­den auf ihn war­ten, lie­be Freun­din!«

Als sie zu­rück­gin­gen, be­merk­ten sie eine Bäue­rin, die auf das Haus zu­kam und in den Hän­den zwei blan­ke Blechei­mer trug, in de­nen sich hin und wie­der ein Strei­fen des grel­len Son­nen­lichts mit plötz­li­chem Re­flex spie­gel­te.

Sie hin­k­te auf dem rech­ten Fus­se und sah in ih­rem dun­kel­brau­nen, ver­wa­sche­nen und von der Son­ne fuch­sig ge­wor­de­nen Brust­tuch wie eine Magd aus, elend und schmut­zig.


»Da ist die Mut­ter«, sag­te das Kind.

Nä­her­kom­mend sah die­se die Frem­den un­freund­lich und miss­trau­isch an, ging aber ru­hig ins Haus, als hät­te sie sie gar nicht be­merkt.

Sie schi­en alt, das Ge­sicht run­ze­lig, gelb und rau; eine Art Holz­ge­sicht, wie es die Bäue­rin­nen oft ha­ben.

»Sagt ’mal, gute Frau«, rief Herr d’A­gre­val sie zu­rück, »wür­den Sie uns nicht zwei Glas Milch ver­kau­fen?«

Sie er­schi­en wie­der un­ter der Tür, nach­dem sie die Ei­mer fort­ge­stellt hat­te und sag­te mür­risch:

»Ich ver­kau­fe kei­ne Milch.«

»Aber wir sind sehr durs­tig und die alte Dame hier ist sehr er­schöpft. Kann man denn nicht für Geld und gute Wor­te et­was zu trin­ken ha­ben?«

Die Bäue­rin sah sie miss­trau­isch und ver­dros­sen an.

»Da Sie nun ein­mal da sind«, ent­schied sie end­lich, »muss ich Ih­nen wohl was ge­ben«, und sie ver­schwand im Hau­se.

Hier­auf kam zu­nächst das Kind mit zwei Stüh­len her­aus, die es un­ter einen Ap­fel­baum setz­te; ihm folg­te die Mut­ter mit zwei Glä­sern schäu­men­der Milch, wel­che sie den Frem­den reich­te. Sie blieb bei ih­nen ste­hen, als woll­te sie sie über­wa­chen und ihre Ab­sich­ten er­grün­den.

»Ihr kommt von Fe­camp?« frag­te sie.

»Ja, wir sind für den Som­mer in Fe­camp«, ant­wor­te­te d’A­gre­val. Dann fuhr er nach ei­ner Pau­se fort: »Könn­tet Ihr uns nicht alle Wo­chen ei­ni­ge Hüh­ner ver­kau­fen?«

Die Bäue­rin zö­ger­te, dann sag­te sie end­lich:

»Nun, ja, wenn es sein muss; wollt Ihr jun­ge?«

»Ge­wiss, jun­ge.«

»Wie viel zahlt Ihr jetzt auf dem Mark­te da­für?«

d’A­gre­val wuss­te das nicht und wand­te sich an sei­ne Beglei­te­rin:

»Was kos­tet jetzt das Ge­flü­gel, ich mei­ne na­tür­lich jun­ges Ge­flü­gel?«

»Vier Fran­cs und vier Fran­cs fünf­zig«, stam­mel­te sie un­ter Trä­nen.

Die Bäue­rin warf ihr einen er­staun­ten Blick zu und frag­te dann:

»Ist die Dame krank, weil sie weint?«

Er wuss­te erst nicht, was er ant­wor­ten soll­te und stot­ter­te dann:

»Nein … nein … aber sie … sie hat un­ter­wegs ihre Uhr ver­lo­ren, eine wun­der­hüb­sche Uhr, und das macht sie ganz trau­rig. Wenn je­mand sie fin­den soll­te, so könnt Ihr uns Be­scheid schi­cken.«

Mut­ter Be­ne­dikt schwieg, sie fand al­les so son­der­bar.

»Da ist mein Mann!« rief sie plötz­lich.

Sie al­lein hat­te ihn kom­men se­hen, weil sie dem Schlag­baum ge­gen­über stand.

d’A­gre­val fuhr auf und Ma­da­me de Ca­dour wäre, als sie sich um­wand­te, vor Schreck bei­na­he vom Stuhl ge­sun­ken.

*

Ein Mann nä­her­te sich, noch zehn Schritt ent­fernt, der eine Kuh an dem um bei­de Hör­ner ge­wun­de­nen Stri­cke keu­chend hin­ter sich her zog.

»Teu­fel, so ein Schind­lu­der«, rief er, ohne die Frem­den zu be­mer­ken, und ging vor­über nach dem Stall zu, in dem er ver­schwand.


Die Trä­nen der al­ten Dame wa­ren plötz­lich ver­siegt und sie blieb starr, un­fä­hig zu den­ken oder zu spre­chen. – Ihr Sohn! das da war also ihr Sohn!

»Das ist si­cher Herr Be­ne­dikt«, sag­te d’A­gre­val mit zit­tern­der Stim­me, von der glei­chen Idee be­seelt.

»Wo­her wisst Ihr denn sei­nen Na­men?« frag­te die Bau­ers­frau miss­trau­isch.

»Der Schmied an der Ecke der großen Stras­se hat ihn uns ge­sagt«, ant­wor­te­te er.

Dann schwie­gen alle, die Au­gen auf die Stall­tü­re ge­hef­tet. Die­sel­be sah aus wie ein schwar­zes Loch in der wei­ßen Mau­er des Ge­bäu­des. Man sah von dem In­nern nichts; man hör­te nur ver­schie­de­nen Lärm, Be­we­gun­gen, Schrit­te, die auf dem stroh­be­deck­ten Bo­den wi­der­hall­ten.

Er er­schi­en wie­der am Ein­gang, wisch­te sich die Stirn mit der Hand und ging lang­sam auf das Haus zu, sich bei je­dem sei­ner großen Schrit­te in den Hüf­ten wie­gend.

Ohne die Frem­den zu be­mer­ken rief er im Vor­bei­ge­hen sei­ner Frau zu:

»Hol mir einen Krug Ap­fel­wein, ich bin durs­tig.« Dann trat er ins Haus. Die Bäue­rin lief zum Kel­ler und ließ die Pa­ri­ser al­lein.

»Ge­hen wir, Hen­ry, ge­hen wir!« rief Ma­da­me de Ca­dour ganz ent­setzt.

Sie rich­te­te sich an d’A­gre­val’s Arme auf, und sie sorg­fäl­tig stüt­zend, denn sie droh­te je­den Au­gen­blick um­zu­fal­len, führ­te die­ser sie fort, nach­dem er zu­vor fünf Fran­cs auf einen der Stüh­le ge­legt hat­te.

Als sie zum Tore hin­aus wa­ren, fing sie ganz aus­ser sich vor Schmerz wie­der bit­ter­lich zu wei­nen an und jam­mer­te:

»Was ha­ben Sie aus ihm ge­macht, o mein Gott!« Er war sehr bleich ge­wor­den und ant­wor­te­te ab­weh­rend:

»Ich habe ge­tan was ich nur konn­te. Sei­ne Farm ist zwan­zig­tau­send Fran­cs wert. Das ist eine Mit­gift, wie sie nicht alle Bür­gers­kin­der ha­ben.«

Sie gin­gen ganz lang­sam nach Hau­se, ohne ein Wort wei­ter dar­über zu ver­lie­ren. Die Trä­nen ran­nen ihr un­aus­ge­setzt über die Wan­gen.

So ka­men sie end­lich nach Fe­camp, wo Herr de Ca­dour be­reits mit dem Di­ner auf sie war­te­te. Als er sie sah, rief er laut la­chend:

»Aus­ge­zeich­net, mei­ne Frau hat ih­ren Son­nen­stich weg, das macht mir Spaß. Ich glau­be seit ei­ni­ger Zeit wirk­lich, dass sie den Kopf ver­liert.«

Bei­de ver­moch­ten nichts zu sa­gen, und als der Gat­te frag­te:

»Habt Ihr denn we­nigs­tens einen hüb­schen Spa­zier­gang ge­macht?« da ant­wor­te­te d’A­gre­val schnell:

»Ei­nen sehr hüb­schen, lie­ber Freund, wirk­lich einen aus­ser­or­dent­lich hüb­schen.«

*

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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