Читать книгу Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant - Страница 82

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Meh­re­re Tage hin­ter­ein­an­der wa­ren die Über­res­te der ge­schla­ge­nen Ar­mee durch die Stadt ge­zo­gen. Eine Trup­pe konn­te man das schon nicht mehr nen­nen, son­dern höchs­tens eine zü­gel­lo­se Hor­de. Den Bart lang und schmut­zig, die Uni­form zer­fetzt, ohne Fah­nen, ohne Ord­nung zo­gen die Leu­te in läs­si­ger Hal­tung da­hin. Alle schie­nen von der Übe­r­an­stren­gung er­mat­tet, kei­nes Ge­dan­kens, kei­ner Ent­sch­lies­sung fä­hig, nur noch aus Ge­wohn­heit wei­ter zu mar­schie­ren; so­bald Halt ge­macht wur­de, san­ken sie vor Er­mü­dung um. Sie be­stan­den in der Haupt­sa­che aus Mo­bil­gar­den, fried­li­chen Leu­ten, harm­lo­sen Spiess­bür­gern, die un­ter der Last des Ge­weh­res zu­sam­men­knick­ten, klei­nen mun­tren Schwät­zern, zum Bra­mar­ba­sie­ren und je­der Art von Be­geis­te­rung gern ge­neigt, eben­so be­reit zum An­griff wie zur Flucht. Dar­un­ter be­merk­te man dann hin und wie­der ei­ni­ge Ro­tho­sen, die Trüm­mer ei­ner in der Haupt­schlacht auf­ge­rie­be­nen Di­vi­si­on, die dunklen Uni­for­men der Ar­til­le­ris­ten, in Reih und Glied mit der In­fan­te­rie; und ganz zu­wei­len den blan­ken Helm ei­nes Dra­go­ners der mit schwe­ren Tritt nur müh­sam dem Tem­po der leich­ten Trup­pen folg­te.

Meh­re­re Frank­ti­reurs-Le­gio­nen mit pomp­haf­ten Be­zeich­nun­gen, wie »Rä­cher der Schmach« – »Bür­ger des Gra­bes« – »Ge­nos­sen des To­des« folg­ten jetzt; es wa­ren die rei­nen Ban­di­ten­ge­sich­ter.

Ihre Füh­rer, ehe­ma­li­ge Tuch- oder Ge­trei­de­händ­ler, Ker­zen- und Sei­fen-Krä­mer, die der Zu­fall zu Krie­gern ge­stem­pelt hat­te und die ih­res Gel­des oder ih­rer lan­gen Schnurr­bär­te we­gen zu Of­fi­zie­ren ge­wählt wur­den, plau­der­ten, waf­fen­strot­zend mit Tres­sen und Bor­ten über­la­den, mit weit­hin­schal­len­der Stim­me, er­ör­ter­ten ihre Feld­zugsplä­ne und ta­ten, als ob sie mit ih­rem großen Mau­le ganz al­lein das un­glück­li­che Va­ter­land ret­ten könn­ten. Vor ih­ren ei­ge­nen Leu­ten, rich­ti­gem Gal­gen­ge­sin­del, eben­so auf­ge­legt zum Kampf, wie zum Rau­ben und Plün­dern, schie­nen sie je­doch einen ge­wis­sen Re­spekt zu ha­ben.

Die Preus­sen wür­den, wie es hiess, dem­nächst in Rou­en ein­zie­hen.

Die Na­tio­nal­gar­de, die seit zwei Mo­na­ten mit großer Vor­sicht die um­lie­gen­den Wäl­der durch­streif­te und da­bei zu­wei­len ihre ei­ge­nen Pos­ten nie­der­schoss, die sich so­fort ge­fechts­be­reit mach­te, wenn nur ein Ka­nin­chen durchs Ge­büsch husch­te, war heim­ge­kehrt. Ihre Waf­fen, ihre Uni­for­men, ihr gan­zer Auf­putz mit dem sie sonst auf drei Mei­len in der Run­de die Stras­sen­grä­ben ver­zier­te, wa­ren plötz­lich ver­schwun­den.

Die letz­ten fran­zö­si­schen Sol­da­ten über­schrit­ten end­lich die Sei­ne um über Saint-Se­ver und Bourg-Achard sich nach Pont-Au­de­mer zu wen­den. Ih­nen folg­te der ver­zwei­fel­te Ge­ne­ral, der mit die­sen ge­lo­cker­ten Ver­bän­den nichts mehr an­fan­gen konn­te und selbst von dem Zu­sam­men­bru­che ei­nes Vol­kes mit fort­ge­ris­sen wur­de, das, ge­wohnt zu sie­gen, trotz sei­ner sprich­wört­li­chen Tap­fer­keit schmäh­lich ge­schla­gen war. Er ging zu Fuss zwi­schen zwei Or­don­nanz-Of­fi­zie­ren.

Dann ver­brei­te­te sich tie­fe Ruhe, eine furcht­sa­me, schwei­gen­de Er­war­tung in der Stadt. Ängst­lich harr­ten die be­sorg­ten Bür­ger auf die An­kunft der Sie­ger; sie zit­ter­ten bei dem Ge­dan­ken, dass man ih­ren Brat­spiess oder ihr großes Kü­chen­mes­ser für eine Waf­fe an­se­hen könn­te.

Al­les Le­ben schi­en zu sto­cken, die Lä­den wa­ren ge­schlos­sen, stumm la­gen die Stras­sen da. Hin und wie­der schlich ein Bür­ger, be­drückt von der schwü­len Stil­le has­tig längs der Häu­ser.

Die­se Er­war­tung war so be­ängs­ti­gend, dass man die An­kunft des Fein­des fast her­bei­sehn­te.

Am Nach­mit­tage des Ta­ges, der dem Ab­marsch der Fran­zo­sen folg­te, tauch­ten plötz­lich ei­ni­ge Ula­nen auf und rit­ten im schnells­ten Tem­po durch die Stras­sen der Stadt. Dann stieg et­was spä­ter eine dunkle Mas­se vom St. Ka­tha­ri­nen­ber­ge her­un­ter, wäh­rend auf den Stras­sen von Dar­ne­tal und Bois­guil­lau­me zwei wei­te­re Ab­tei­lun­gen in die Stadt ein­dran­gen. Die Avant­gar­den drei­er Korps ver­ei­nig­ten sich gleich­zei­tig auf dem Platz vor dem Rat­hau­se. Auf al­len an­gren­zen­den Stras­sen ka­men die deut­schen Trup­pen her­an, und das Pflas­ter er­dröhn­te un­ter dem fes­ten gleich­mäs­si­gen Tritt der Ba­tail­lo­ne.

Längs der Häu­ser, die ver­las­sen und wie aus­ge­stor­ben dala­gen, er­tön­ten in tie­fen Kehl­lau­ten fremd­ar­ti­ge Kom­man­do­ru­fe. Hin­ter den ge­schlos­se­nen Lä­den be­trach­te­ten ängst­li­che Au­gen die Sie­ger, die nun durch »Kriegs­recht« Her­ren der Stadt, Her­ren von Ei­gen­tum und Le­ben ge­wor­den wa­ren. Die Ein­woh­ner hat­ten in ih­ren dunklen Zim­mern einen ähn­li­chen pein­li­chen Ein­druck, wie ihn ein Erd­be­ben, eine furcht­ba­re Er­schüt­te­rung des Hau­ses her­vor­ruft, der ge­gen­über alle Vor­sichts­mass­re­geln und alle mensch­li­chen Kräf­te wir­kungs­los sind. Das­sel­be Ge­fühl er­greift uns stets, wenn wir se­hen, dass alle Ord­nung ge­stört ist, dass jede Si­cher­heit schwin­det, und dass al­les was sonst mensch­li­che und na­tür­li­che Ge­set­ze be­schüt­zen, sich in Hän­den ei­ner un­be­kann­ten ro­hen Ge­walt be­fin­det. Ein Erd­be­ben, das eine gan­ze Ein­woh­ner­schaft un­ter den Trüm­mern der Häu­ser be­gräbt, ein Fluss, der aus sei­nen Ufern tritt und mit sei­nen Wo­gen die Leich­na­me er­trun­ke­ner Land­leu­te, die Ka­da­ver von Rind­vieh und Bal­ken-Trüm­mer da­hin­wälzt, oder eine sieg­rei­che Ar­mee end­lich, wel­che die Ver­tei­di­ger nie­der­met­zelt, die fried­fer­ti­gen Bür­ger als Ge­fan­ge­ne fort­schleppt, wel­che im Na­men des Schwer­tes raubt und Gott mit dem Don­ner der Ka­no­nen fei­ert, sind al­les schreck­li­che Prü­fun­gen, die je­den Glau­ben an die ewi­ge Ge­rech­tig­keit ver­nich­ten, jede Hoff­nung zer­stö­ren, die man uns auf den Schutz des Him­mels und die Klug­heit der Men­schen ein­zu­flös­sen sucht.

Bald klopf­ten an je­der Hau­stü­re klei­ne Ab­tei­lun­gen, die dann im In­nern ver­schwan­den. Es war die Ein­quar­tie­rung, die der Be­sitz­nah­me folg­te. Den Be­sieg­ten er­wuchs jetzt die Pf­licht, sich den Sie­gern ge­fäl­lig zu zei­gen.

Nach ei­ni­ger Zeit, als der ers­te Schre­cken ein­mal über­wun­den war, trat aufs Neue eine ge­wis­se Be­ru­hi­gung ein. In vie­len Fa­mi­li­en ass der preus­si­sche Of­fi­zier mit bei Ti­sche. Häu­fig zeig­te er sich als wohl­er­zo­ge­ner Mann, der aus Höf­lig­keit Frank­reichs Lob sang und sein Be­dau­ern aus­sprach, ge­gen das­sel­be kämp­fen zu müs­sen. Man war ihm dank­bar für sein Zart­ge­fühl; und zu­dem konn­te man nicht wis­sen, ob man nicht dem­nächst sei­ner Für­spra­che be­durf­te. Wenn man sich gut mit ihm stell­te, wür­de man viel­leicht we­ni­ger Ein­quar­tie­rung er­hal­ten. Und warum über­haupt je­man­den be­lei­di­gen, von dem man gänz­lich ab­hän­gig war? Das wäre eher ver­mes­sen als kühn ge­we­sen. – Sch­liess­lich sag­te man sich auch, – in­dem die be­kann­te fran­zö­si­sche Gast­freund­lich­keit zum Grun­de die­nen muss­te, – dass es wohl ge­stat­tet sei, im In­ne­ren des ei­ge­nen Hau­ses ge­gen den frem­den Krie­ger höf­lich zu sein, vor­aus­ge­setzt dass man sich öf­fent­lich vor je­der Ver­trau­lich­keit hü­te­te. Draus­sen frei­lich kann­te man sich nicht, wäh­rend man zu Hau­se ger­ne plau­der­te, so­dass der Deut­sche je­den Abend ein Stünd­chen län­ger blieb, um sich am Fa­mi­li­en­le­ben zu be­tei­li­gen.

Die Stadt selbst nahm all­mäh­lich ihr ge­wöhn­li­ches Aus­se­hen wie­der an. Die Fran­zo­sen gin­gen zwar selbst noch nicht aus, aber die preus­si­schen Sol­da­ten schwärm­ten durch die Gas­sen. Im Üb­ri­gen schie­nen auch die Of­fi­zie­re der blau­en Husa­ren, wel­che mit ei­ner ge­wis­sen An­mas­sung ihre Sä­bel auf dem Trot­toir schlep­pen lies­sen, nicht mein Ver­ach­tung ge­gen die ein­fa­chen Bür­ger zu he­gen, als die Of­fi­zie­re der Chas­seurs die das Jahr vor­her in dem­sel­ben Café ge­zecht hat­ten.

Im­mer­hin lag et­was in der Luft, et­was ei­gen­tüm­lich Frem­des; et­was selt­sam un­er­träg­li­ches, wie ein Dunst, der sich ver­brei­tet; der Dunst der In­va­si­on. Er er­füll­te die Woh­nun­gen und öf­fent­li­che Plät­ze, gab den Spei­sen sei­nen Bei­ge­schmack und mach­te ei­nem den Ein­druck, als sei man auf Rei­sen fern bei ei­nem ge­fähr­li­chen Wil­den-Stamm.

Die Sie­ger ver­lang­ten Geld, sehr viel Geld. Die Ein­woh­ner zahl­ten stets; sie wa­ren ja wohl­ha­bend. Aber je rei­cher ein nor­man­ni­scher Kauf­mann ist, umso schwe­rer wird ihm je­des Op­fer, das er brin­gen soll, de­sto schmerz­li­cher trennt er sich von je­dem Geld­stück­chen, das er in an­de­re Hän­de wan­dern sieht.

Un­ter­des­sen fisch­ten zwei oder drei Mei­len un­ter­halb der Stadt bei Crois­set, Diep­pe­da­le oder Biess­art die Fi­scher und Boots­leu­te hin und wie­der den Leich­nam ei­nes Deut­schen auf, der durch einen Dolch­stich, durch einen Stein­hieb den Hin­ter­kopf, durch einen Sturz von der Brücke sein Le­ben ein­ge­büsst hat­te. Der Schlamm des Flus­ses be­deck­te die­se Op­fer ei­ner furcht­ba­ren aber ge­rech­ten Ra­che, ei­nes stum­men Hel­den­muts, ei­nes stil­len Über­falls, ge­fähr­li­cher als die of­fe­ne Schlacht und ohne den ver­dien­ten Lohn des Ruh­mes.

Der Hass ge­gen den frem­den Ein­dring­ling drückt eben man­chem Furcht­lo­sen, der be­reit ist für eine Idee zu ster­ben, die Waf­fe in die Hand.

Da üb­ri­gens die Ein­dring­lin­ge schliess­lich, wenn­gleich sie un­be­ding­ten Ge­hor­sam ge­gen alle ihre Be­feh­le ver­lang­ten, in kei­ner Wei­se die schreck­li­chen Gerüch­te be­stä­tig­ten, wel­che ih­rem Sie­ges­mar­sche vor­aus­ge­lau­fen wa­ren, so fass­te man wie­der Mut, und der Ge­schäfts­sinn be­gann sich all­mäh­lich wie­der im Her­zen der ein­hei­mi­schen Kauf­leu­te zu re­gen. Ei­ni­ge von ih­nen hat­ten wich­ti­ge An­ge­le­gen­hei­ten in Ha­vre ab­zu­wi­ckeln, wel­ches die fran­zö­si­sche Ar­mee noch be­setzt hielt. Sie hoff­ten die­sen Ha­fen zu er­rei­chen, in­dem sie sich auf dem Land­we­ge nach Diep­pe be­ga­ben, um sich dort ein­zu­schif­fen.

Durch Ver­mitt­lung der deut­schen Of­fi­zie­re, de­ren Be­kannt­schaft sie ge­macht hat­ten, er­lang­ten sie vom kom­man­die­ren­den Ge­ne­ral die Er­laub­nis zur Abrei­se.

So wur­de denn ein großer vier­spän­ni­ger Om­ni­bus für die­se Rei­se ge­nom­men, an der sich zehn Per­so­nen be­tei­lig­ten. Die Ab­fahrt soll­te an ei­nem Diens­tag Mor­gen noch vor Ta­ge­s­an­bruch statt­fin­den, um je­des Auf­se­hen zu ver­mei­den.

Um halb fünf tra­fen sich die Rei­sen­den im Hofe des Hôtel de Nor­man­die, wo der Wa­gen be­reit­stand. Sie wa­ren noch schlaf­trun­ken und zit­ter­ten un­ter ih­rer Um­hül­lung vor Käl­te. An­fangs war ein Er­ken­nen in der Dun­kel­heit schwer mög­lich; die zu­sam­men­ge­raff­ten dich­ten Win­ter­klei­der lies­sen alle die Leu­te wie be­hä­bi­ge Pfar­rer in lan­gen Su­ta­nen aus­se­hen. Zwei Her­ren er­kann­ten sich in­des­sen und ein drit­ter trat auf sie zu. »Ich brin­ge mei­ne Frau fort« sag­te der eine. »Ich eben­falls.« »Und ich auch.« »Wir wer­den nicht nach Rou­en zu­rück­keh­ren; und wenn die Preus­sen sich Ha­vre nä­hern soll­ten, ge­hen wir nach Eng­land,« füg­te der ers­te hin­zu. Alle hat­ten die­sel­be Ab­sicht, die ih­rer gleich­ar­ti­gen Ge­müts­be­schaf­fen­heit ent­sprach.

Der Wa­gen war noch nicht an­ge­spannt. Zu­wei­len tauch­te eine klei­ne La­ter­ne, die ein Stall­knecht trug, aus ei­ner fins­te­ren Türe auf, um gleich dar­auf in ei­ner an­de­ren wie­der zu ver­schwin­den. Man hör­te Pfer­de­ge­tram­pel und lau­tes Flu­chen aus dem In­nern des Stall­ge­bäu­des. Leich­tes Schel­len­ge­klin­gel be­wies, dass man das Ge­schirr auf­leg­te. Bald wur­de die­ses Ge­klin­gel zu ei­nem deut­li­chen fort­ge­setz­ten Läu­ten, wel­ches je nach der Be­we­gung des Tie­res zu­wei­len ganz auf­hör­te, um dann plötz­lich umso lau­ter wie­der zu be­gin­nen, wäh­rend der Bo­den un­ter dem Huf­ei­sen wie­der­hall­te.

Plötz­lich wur­de die Türe zu­ge­macht; je­des Geräusch ver­schwand. Auch die frös­teln­den Bür­ger schwie­gen; starr und un­be­weg­lich stan­den sie um­her.

Der Schnee fiel in dich­ten Flo­cken un­abläs­sig nie­der; er hüll­te alle Ge­stal­ten, alle Ge­gen­stän­de mit sei­ner ei­si­gen Mas­se ein. Bei der tie­fen Gra­bes­s­til­le, in der die Stadt noch ruh­te, hör­te man nur die­ses un­be­stimm­te ein­för­mi­ge Ge­rie­sel des Schnees. Es war mehr eine Emp­fin­dung wie ein Geräusch, die­ses Er­zit­tern leich­ter Ato­me, die den gan­zen Luf­traum er­füll­ten und lang­sam die Erde be­deck­ten.

Der Mann mit der La­ter­ne er­schi­en aber­mals und zog am Zü­gel ein ver­dros­sen da­hin­schrei­ten­des Pferd hin­ter sich her. Er stell­te es an die Deich­sel und leg­te die Strän­ge an, wo­bei er sich mehr­fach ver­si­cher­te, dass am Ge­schirr al­les in Ord­nung sei. Da er in der einen Hand die La­ter­ne hal­ten muss­te, so brauch­te er ziem­lich viel Zeit zu die­ser Be­schäf­ti­gung. Als er sich end­lich um­wand­te, um das zwei­te Pferd zu ho­len, be­merk­te er die re­gungs­los da­ste­hen­den schon ganz in Schnee gehüll­ten Rei­sen­den.

»Wa­rum stei­gen Sie nicht ein? Sie sind doch im Wa­gen we­nigs­tens ge­schützt,« frag­te er er­staunt.

In der Tat, dar­an hat­te noch kei­ner ge­dacht; und nun stürz­te al­les auf den Wa­gen zu. Die drei Her­ren von vor­hin lies­sen zu­erst ihre Frau­en Platz neh­men und folg­ten dann. Dann nah­men die üb­ri­gen bis zur Un­kennt­lich­keit ein­ge­mumm­ten Ge­stal­ten schwei­gend ihre Sit­ze ein.

Der Bo­den war zum Schutz der Füs­se mit Stroh be­deckt. Die Da­men im Hin­ter­grun­de hat­ten sich klei­ne kup­fer­ne Wärm­ap­pa­ra­te mit­ge­bracht und zün­de­ten jetzt die prä­pa­rier­te Koh­le der­sel­ben an, wo­bei sie sich mit lei­ser Stim­me von den längst be­kann­ten Vor­tei­len der­sel­ben un­ter­hiel­ten.

End­lich war der Om­ni­bus be­spannt; des schlech­ten We­ges hal­ber hat­te man sechs Pfer­de statt der ur­sprüng­lich be­stimm­ten vier ge­nom­men. »Ist al­les ein­ge­stie­gen?« frag­te eine Stim­me draus­sen. »Ja­wohl« er­tön­te es von in­nen, und der Wa­gen setz­te sich in Be­we­gung.

Es ging lang­sam, sehr lang­sam, in ge­mäch­li­chem Schritt vor­wärts. Die Rä­der ver­san­ken im Schnee; der gan­ze Kas­ten ächz­te und krach­te. Die Pfer­de rutsch­ten, schnaub­ten und dampf­ten. Die lan­ge Peit­sche des Kut­schers knall­te ohne Un­ter­lass. Sie flog bald hier bald dort­hin, ihre Schnur roll­te sich zu­sam­men wie eine Schlan­ge, um dann plötz­lich auf der Krup­pe ei­nes Pfer­des wie­der nie­der­zu­sau­sen, das nun mit ei­nem merk­ba­ren Ruck aufs neue an­zog.

Un­merk­lich brach der lich­te Tag an. Die leich­ten Flo­cken, wel­che ein Rei­sen­der, ein ech­tes Roue­ner Kind, mit ei­nem Wat­te­re­gen ver­gli­chen hat­te, fie­len nicht mehr. Zwi­schen dunklen trü­ben Wol­ken zeig­te sich eine mat­te Hel­le, wel­che die Schnee­flä­che nur umso deut­li­cher her­vor­tre­ten ließ, von der sich bald eine Rei­he reif­be­deck­ter Bäu­me, bald ein ein­zel­nes schnee­be­la­de­nes Stroh­dach ab­hob.

Beim trü­ben Däm­mer­licht des an­bre­chen­den mor­gens be­gann man sich im Wa­gen ge­gen­sei­tig neu­gie­rig zu be­trach­ten.

Ganz im Hin­ter­grun­de auf den letz­ten Plät­zen schlum­mer­ten ein­an­der ge­gen­über Herr und Frau Loi­seau, Wein­groß­händ­ler aus der Stras­se Grand-Pont. Als sein Prin­zi­pal sei­ner Zeit Ban­ke­rott mach­te, hat­te Loi­seau das Ge­schäft über­nom­men und sein Glück da­bei ge­fun­den. Er ver­kauf­te sei­nen sehr schlech­ten Wein sehr bil­lig an die klei­nen Kneip­wir­te auf dem Lan­de und galt bei sei­nen Freun­den und Be­kann­ten für einen schlau­en Fuchs; er war ein ech­ter Nor­man­ne, aus List und Gut­mü­tig­keit zu­sam­men­ge­setzt.

Ne­ben­bei war Loi­seau be­rühmt durch sei­ne viel­sei­ti­gen gu­ten und schlech­ten Wit­ze. Man hör­te in der Tat nie von ihm re­den, ohne dass nicht dazu ge­sagt wur­de: »Er ist wirk­lich un­be­zahl­bar die­ser Loi­seau.«

Sein Äus­se­res mach­te den Ein­druck ei­nes Bal­lons, auf dem oben auf ein röt­li­ches, von zwei ins Graue spie­len­den Ko­te­let­ten um­rahm­tes, Ge­sicht sass. Sei­ne Frau, groß und stark von Wuchs, sehr ener­gisch, mit ho­her Stim­me und schnel­ler Ent­schei­dungs­ga­be, war das le­ben­di­ge La­ger und Kas­sen­buch des Ge­schäfts, wel­ches sie durch ihre un­er­müd­li­che Tä­tig­keit be­leb­te.

Ne­ben ih­nen sass in wür­di­ger Hal­tung ein Mann, der schon um eine Klas­se hö­her galt, Herr Carré-La­ma­don; ein an­ge­se­he­ner Woll­händ­ler, der drei Spin­ne­rei­en be­sass. Er war Of­fi­zier der Ehren­le­gi­on und Mit­glied des Ge­ne­ral­rats. Er war wäh­rend der gan­zen Zeit des Kai­ser­reichs Füh­rer ei­ner wohl­wol­len­den Op­po­si­ti­on ge­we­sen, le­dig­lich um sich we­gen sei­ner an­stän­di­gen Kamp­fes­wei­se sei­ne Nach­gie­big­keit, wie er selbst sag­te, umso teu­rer be­zah­len zu las­sen. Ma­da­me Carré-La­ma­don, be­deu­tend jün­ger als ihr Gat­te, war der Lieb­ling der Of­fi­zie­re aus gu­ter Fa­mi­lie, die zu Rou­en in Gar­ni­son stan­den. Sie sass ih­rem Man­ne ge­gen­über ganz in ihr Pelz­werk gehüllt, sehr nied­lich, sehr hübsch, sehr zart, und schau­te be­trübt in dem un­ge­müt­li­chen Kas­ten um­her.

Ihre Nach­barn, der Graf und die Grä­fin Hu­bert de Bréville ge­hör­ten ei­nem der vor­nehms­ten und äl­tes­ten Ge­schlech­ter der Nor­man­die an. Der Graf, ein al­ter Edel­mann von statt­li­chem Äus­sern, such­te durch al­ler­hand Toi­let­te­küns­te sei­ne na­tür­li­che Ähn­lich­keit mit Hein­rich den IV. noch mehr her­vor­zu­he­ben. Ei­ner Sage nach, auf wel­che die Fa­mi­lie sich sehr viel ein­bil­de­te, hat­te die­ser Kö­nig mit ei­ner Bréville ein Kind ge­habt, de­ren Mann dann Graf und Gou­ver­neur der Pro­vinz ge­wor­den war.

Graf Hu­bert ver­trat im Ge­ne­ral­rat, wo er mit Herrn Carré-La­ma­don zu­sam­men­sass, die or­lea­nis­ti­sche Par­tei sei­nes De­par­te­ments. Die Ge­schich­te sei­ner Ver­mäh­lung mit der Toch­ter ei­nes klei­nen Rhe­ders zu Nan­tes war stets et­was dun­kel ge­blie­ben. Aber da die Grä­fin sehr gute Ma­nie­ren be­sass, ein bril­lan­tes Haus mach­te und man so­gar be­haup­te­te, ei­ner der Söh­ne Louis Phil­ip­pes habe ihr län­ge­re Zeit zu Füs­sen ge­le­gen, so stand sie beim gan­zen Adel in ho­hem An­se­hen und ihr Sa­lon galt als der vor­nehms­te des Lan­des: als der ein­zi­ge, wo man noch die alte Galan­te­rie be­wahr­te und zu dem man sehr schwer Zu­tritt er­hielt.

Die Brévil­les hat­ten, wie man sich er­zähl­te, fünf­mal­hun­dert­tau­send Li­vres Ren­te.


Die­se sechs Per­so­nen nah­men, wie ge­sagt, den Fonds des Wa­gens ein; sie re­prä­sen­tier­ten die wohl­ha­ben­de bes­se­re Ge­sell­schaft, in der Re­li­gi­on und Grund­sät­ze herr­schen.

Fast sämt­li­che weib­li­che Rei­sen­de hat­ten zu­fäl­lig die eine Bank inne. Die Grä­fin hat­te ne­ben sich noch zwei Or­dens­schwes­tern, die an lan­gen Ro­sen­krän­zen ihr »Pa­ter no­s­ter« und ihr »Aves« her­un­ter­be­te­ten. Die äl­te­re von bei­den hat­te ein blat­ter­nar­bi­ges Ge­sicht, als wenn sie aus nächs­ter Nähe eine vol­le Kar­tät­schen­la­dung be­kom­men hät­te. Die jün­ge­re, hüb­sche­re, mach­te einen schwäch­li­chen kränk­li­chen Ein­druck. Ihre Brust war ein­ge­fal­len und auf ih­ren hek­ti­schen Wan­gen schim­mer­te ein ver­rä­te­risches Rot.

Ein Mann und eine Frau, die den bei­den Schwes­tern ge­gen­über sas­sen, zo­gen bald die Bli­cke al­ler Rei­sen­den auf sich.

Der Mann war der wohl­be­kann­te De­mo­krat Cor­nu­det, der Schre­cken al­ler an­stän­di­gen Leu­te. Seit zwan­zig Jah­ren trieb er sich mit sei­nem großen ro­ten Bart in al­len de­mo­kra­ti­schen Knei­pen und Zir­keln her­um. Mit sei­nen Freun­den und Brü­dern hat­te er ein hüb­sches Ver­mö­gen durch­ge­bracht, das ihm sein Va­ter, ein ehe­ma­li­ger Zucker­bä­cker, hin­ter­liess. Jetzt war­te­te er sehn­süch­tig auf die Re­pu­blik, die ihm end­lich den ver­dien­ten Lohn für sei­ne re­vo­lu­tio­näre Agi­ta­ti­on brin­gen soll­te. Am 4. Sep­tem­ber hat­te er, durch einen schlech­ten Witz ge­täuscht, sich be­reits zum Prä­fekt er­nannt ge­glaubt. Als er aber sei­ne Stel­lung an­tre­ten woll­te, ver­wei­ger­ten ihm die Co­pis­ten auf dem Büro, die al­lein noch am Plat­ze ge­blie­ben wa­ren, ihre Aner­ken­nung, und so sah er sich zum Rück­zug ge­zwun­gen. Von Her­zen gut­mü­tig und ge­fäl­lig hat­te er sich mit an­er­ken­nens­wer­tem Ei­fer um die Ver­tei­di­gung der Stadt be­müht. Er hat­te rings­um auf al­len Wie­sen tie­fe Lö­cher ein­gra­ben und mit­tels der jun­gen Bäu­me aus den be­nach­bar­ten Wäl­dern über­all Ver­haue her­stel­len las­sen. Auf al­len Stras­sen leg­te er Wolfs­gra­ben an, und als dann der Feind sich nä­her­te, zog er, be­frie­digt von sei­ner Tä­tig­keit sich so schnell wie mög­lich in die Stadt zu­rück. Er ge­dach­te, sich jetzt in Ha­vre, wo es an aus­rei­chen­den Ver­schan­zun­gen feh­len soll­te, noch wei­ter nütz­lich zu ma­chen.

Die Frau war eine so­ge­nann­te Al­ler­welts­da­me und ih­rer her­vor­ra­gen­den Lei­bes­fül­le we­gen be­rühmt, die ihr den Bein­amen Fett-Kloss ein­ge­tra­gen hat­te. Sie war klein, durch­aus rund, spe­ckig, und ihre auf­ge­dun­se­nen, an den Glie­dern ein­ge­kerb­ten Fin­ger mach­ten den Ein­druck von an­ein­an­der hän­gen­den Würst­chen. Mit ih­rer glän­zen­den straff ge­spann­ten Haut und ei­ner mäch­ti­gen wo­gen­den Brust blieb sie doch im­mer noch be­geh­rens­wert und ap­pe­tit­lich, weil der An­blick ih­rer Fri­sche einen sym­pa­thisch be­rühr­te. Ihr Ge­sicht glich ei­nem ro­ten Ap­fel, ei­ner knos­pen­den Pfingst­ro­se, die im Be­griff ist, auf­zu­blü­hen. Aber da drin­nen un­ter der Stirn leuch­te­ten zwei präch­ti­ge Au­gen, von dich­ten schwar­zen Wim­pern um­schat­tet, die das Dun­kel noch ver­mehr­ten. Und wei­ter un­ten zeig­te sich ein rei­zen­der klei­ner Mund, zum Küs­sen wie ge­schaf­fen und mit zier­li­chen Per­l­zähn­chen aus­ge­rüs­tet.


Im Üb­ri­gen be­sass sie, wie man sag­te, meh­re­re ganz un­schätz­ba­re Ei­gen­schaf­ten.

So­bald man sie er­kannt hat­te, ent­stand un­ter den ehr­ba­ren Da­men ein Ge­flüs­ter und Wor­te wie »Pro­sti­tu­ier­te,« »öf­fent­li­cher Skan­dal« wur­de so ver­nehm­lich ge­wis­pert, dass sie auf­schau­te. Sie warf ih­rer Um­ge­bung einen so trot­zi­gen her­aus­for­dern­den Blick zu, dass so­fort tie­fe Stil­le ein­trat, und je­der vor sich hin­schau­te. Nur Loi­seau be­trach­te­te sie mit leb­haf­ter Mie­ne.

Aber bald be­gann die Un­ter­hal­tung zwi­schen den drei Da­men, wel­che sich durch die Ge­gen­wart die­ser Per­son un­will­kür­lich nä­her zu ein­an­der hin­ge­zo­gen fühl­ten, wie­der leb­haf­ter zu wer­den. Es schi­en ih­nen, als müss­ten sie ihre Wür­de als Gat­tin­nen mit­ein­an­der ver­ei­ni­gen ge­gen­über die­ser Dir­ne, die sich ohne Wahl an je­den ver­kauf­te. Die le­ga­le Lie­be sieht nun ein­mal stets mit Ver­ach­tung auf ihre freie Schwes­ter her­ab.

Auch die drei Herrn, die dem De­mo­kra­ten Cor­nu­det ge­gen­über sich in ei­nem ge­wis­sen kon­ser­va­ti­ven In­stinkt en­ger an­ein­an­der schlos­sen, spra­chen über Geld­sa­chen mit ei­ner Art von Ver­ach­tung für die Ar­men. Graf Hu­bert er­zähl­te von den Ver­wüs­tun­gen, wel­che die Preus­sen bei ihm an­ge­rich­tet, von den Ver­lus­ten, die sie ihm an sei­nem Vieh­be­stand zu­ge­fügt hät­ten und von der ver­lo­re­nen Ern­te mit dem Selbst­be­wusst­sein ei­nes zehn­fa­chen Mil­lio­närs, der nach ei­nem Jahr schon nicht mehr an der­glei­chen den­ken wird. Herr Carré-La­ma­don, der große Woll-In­dus­tri­el­le, hat­te die Vor­sicht ge­habt, sechs­mal hun­dert­tau­send Fran­cs nach Eng­land zu schi­cken, ein Trop­fen für den Durst, den er sich für alle Fäl­le si­chern woll­te. Was Herrn Loi­seau an­be­traf, so hat­te er es fer­tig ge­bracht, der fran­zö­si­schen In­ten­dan­tur den gan­zen Rest sei­ner ge­wöhn­li­chen Wei­ne, den er noch in sei­nen Kel­le­rei­en hat­te, zu ver­kau­fen, so­dass die Re­gie­rung ihm ein hüb­sches Sümm­chen schul­de­te, das er jetzt in Ha­vre zu er­he­ben hoff­te.

Alle drei war­fen sich bei die­sem Ge­spräch öf­ters ver­trau­li­che Bli­cke zu. Wenn auch ver­schie­den an Le­bens­stel­lung fühl­ten sie sich doch durch den Geld­punkt ver­bun­den, der so­zu­sa­gen die Frei­mau­rer-Loge al­ler Be­sit­zen­den, al­ler de­rer ist, de­nen das Gold in der Ta­sche klingt, so­bald sie dar­auf klop­fen.

Der Wa­gen fuhr so lang­sam, dass man ge­gen zehn Uhr mor­gens noch kaum vier Mei­len zu­rück­ge­legt hat­te. Die Her­ren stie­gen drei­mal aus, um bergan zu Fuss zu ge­hen. Man be­gann un­ru­hig zu wer­den, denn man woll­te in Tôtes früh­stücken und es war jetzt sehr zwei­fel­haft, ob man vor Abend noch da­hin ge­lan­gen wür­de. Man sah sich ge­ra­de ver­geb­lich nach ei­nem Wirts­haus an der Stras­se um. als der Om­ni­bus in ei­nem Schnee­h­au­fen ste­cken blieb. Es brauch­te vol­le zwei Stun­den, um ihn wie­der flott zu ma­chen.

Der Ap­pe­tit wuchs und mach­te sich un­an­ge­nehm be­merk­bar. Und kein Wirts­haus zeig­te sich, kei­ne Wein­schän­ke stand of­fen, da in­fol­ge des An­mar­sches der Preus­sen und des Durch­zu­ges der aus­ge­hun­ger­ten fran­zö­si­schen Trup­pen alle der­ar­ti­ge Ge­schäf­te ge­schlos­sen wa­ren.

Die Her­ren lie­fen um ir­gend­wel­che Nah­rungs­mit­tel in die Ge­höf­te an der Stras­se, aber es war nicht ein­mal Brot dort zu er­lan­gen. Denn die miss­traui­schen Land­leu­te hat­ten ihre Vor­rä­te aus Furcht vor den plün­dern­den Sol­da­ten ver­bor­gen, die in ih­rem Hun­ger al­les, was sie ent­de­cken konn­ten, ge­walt­sam an sich nah­men.

Ge­gen ein Uhr Mit­tags er­klär­te Loi­seau, dass er ent­schie­den einen ganz ab­scheu­li­chen Ma­gen­schmerz ver­spü­re. Al­len üb­ri­gen ging es nicht bes­ser, und der hef­ti­ge Es­sens­drang hat­te schliess­lich jede Un­ter­hal­tung zum Schwei­gen ge­bracht.

Von Zeit zu Zeit fing ei­ner an zu gäh­nen, und ein an­de­rer folg­te ihm dar­in so­fort. Und der Rei­he nach öff­ne­te je­der, je nach Cha­rak­ter, Le­bens­art und so­zia­ler Stel­lung ent­we­der ge­räusch­voll oder lei­se den Mund, um dann schnell mit der Hand die Öff­nung zu be­de­cken, aus der ein war­mer Hauch ent­ström­te.

Fett-Kloss hat­te sich mehr­mals vor­ge­beugt, als sehe sie nach ir­gen­det­was un­ter ih­ren Rö­cken. Sie zau­der­te einen Au­gen­blick, blick­te ihre Nach­ba­rin an, und rich­te­te sich dann ru­hig wie­der auf. Die Ge­sich­ter der Rei­sen­den wa­ren bleich und ver­zerrt Loi­seau schwor, dass er tau­send Fran­cs für ein Schin­ken­bröt­chen ge­ben wür­de. Sei­ne Frau mach­te eine Ge­bär­de, als woll­te sie et­was ein­wen­den; aber sie be­ru­hig­te sich wie­der. Sie litt im­mer dar­un­ter, wenn sie von Geld­ver­schleu­de­rung re­den hör­te; selbst ein Scherz über die­sen Ge­gen­stand war ihr ver­hasst. »Ich füh­le mich tat­säch­lich un­wohl; wie konn­te ich nur ver­ges­sen mir was zum Früh­stücken mit­zu­neh­men?« die­sen Vor­wurf mach­te sich je­der ein­zel­ne im Wa­gen.

Cor­nu­det hat­te al­ler­dings eine Feld­fla­sche voll Rum bei sich. Er bot die­sel­be her­um, aber man dank­te ihm küh­ler Zu­rück­hal­tung. Nur Loi­seau nahm einen Schluck. »Das tut auf alle Fäl­le gut«; sag­te er die Fla­sche mit Dank zu­rück­ge­bend »es wärmt und ver­treibt den Hun­ger.« Der Al­ko­hol mach­te ihn gu­ter Lau­ne und er schlug vor, es zu ma­chen wie die Schiff­brü­chi­gen und den wohl­ge­nähr­tes­ten Pas­sa­gier auf­zues­sen. Die­se deut­li­che An­spie­lung auf Fett-Kloss miss­fiel den wohl­er­zo­ge­nen Leu­ten, und es ant­wor­te­te ihm nie­mand; nur Cor­nu­det lä­chel­te. Die bei­den Or­dens­schwes­tern hat­ten mit dem Ro­sen­kranz-Ge­bet auf­ge­hört. Sie sas­sen re­gungs­los, die Hän­de in ih­ren wei­ten Är­meln ver­gra­ben und der Blick hart­nä­ckig zur Erde ge­senkt. Ohne Zwei­fel op­fer­ten sie dem Him­mel ihr Leid auf.

End­lich ge­gen drei Uhr, als der Wa­gen durch eine end­lo­se Ebe­ne fuhr, auf der weit und breit kein Haus zu ent­de­cken war, bück­te sich Fett-Kloss has­tig und zog un­ter der Bank einen um­fang­rei­chen Korb her­vor, der mit ei­ner Ser­vi­et­te be­deckt war.

Sie ent­nahm dem­sel­ben zu­nächst einen Por­zel­lan­tel­ler, einen zier­li­chen sil­ber­nen Be­cher, dann eine große Ter­ri­ne, in wel­cher zwei gan­ze in Ge­lee ein­ge­mach­te Hüh­ner wa­ren. Aus­ser­dem be­merk­te man in der Tie­fe des Kor­bes noch al­ler­lei le­cke­re Sa­chen ver­packt, Pas­te­ten, Früch­te und Ein­ge­mach­tes; kurz es war ein Rei­se­vor­rat für reich­lich drei Tage, ohne eine Wirts­haus­kü­che in An­spruch neh­men zu müs­sen. Sie hol­te sich ein Hüh­ner­flü­gel­chen her­aus und be­gann das­sel­be zu ei­nem je­ner Bröd­chen, die man in der Nor­man­die »Re­gence’s« nennt, zier­lich zu ver­spei­sen.

Al­ler Bli­cke wa­ren auf sie ge­rich­tet. Der le­cke­re Duft ver­brei­te­te sich mehr und mehr und kit­zel­te den Ge­ruchs­sinn der Mit­rei­sen­den, de­ren Mund un­will­kür­lich wäs­se­rig wur­de, wäh­rend die Kinn­la­den sich schmerz­haft zu­sam­men­zo­gen. Der Ab­scheu der Da­men ge­gen die­se Dir­ne stei­ger­te sich zur völ­li­gen Wut; man hät­te sie am liebs­ten um­ge­bracht oder sie samt ih­rem Be­cher, ih­rem Korb und ih­ren Ess­wa­ren zum Wa­gen hin­aus in den Schnee ge­wor­fen.

Loi­seau ver­zehr­te in­des­sen die Hüh­ner-Ter­ri­ne mit sei­nen Bli­cken. »Ma­da­me sind vor­sich­ti­ger ge­we­sen, als wir üb­ri­gen,« sag­te er. »Es gibt eben Da­men, die an al­les den­ken.« Sie sah zu ihm auf. »Wenn Sie Lust ha­ben, mein Herr«; sag­te sie »es ist fa­tal, wenn man von früh mor­gens an nichts zu es­sen hat.« Er ver­beug­te sich. »Mei­ner Treu, wenn ich of­fen sein soll, so neh­me ich dan­kend an; ich kann mir nicht mehr hel­fen. Im Krie­ge muss man wie im Krie­ge le­ben, nicht wahr, Ma­da­me?« Dann blick­te er um sich. »In sol­chen Au­gen­bli­cken ist man froh, so zum Dan­ke ver­pflich­tet zu sein.« Er brei­te­te eine Zei­tung auf dem Schos­se aus, um sei­ne Bein­klei­der nicht zu be­fle­cken und ent­nahm mit der Spit­ze sei­nes Ta­schen­mes­sers ein ganz in Ge­lee gehüll­tes Stück, zer­riss es mit den Zäh­nen und kau­te es mit sol­chem Wohl­ge­fal­len, dass sei­ne Rei­se­ge­fähr­ten ihn mit Ab­scheu be­trach­te­ten.

Jetzt bot Fett-Kloss mit freund­li­cher Mie­ne den bei­den Schwes­tern an, von ih­rem Früh­stück zu neh­men. Sie sträub­ten sich kei­nen Au­gen­blick und be­gan­nen ohne den Blick zu er­he­ben has­tig zu es­sen, nach­dem sie ei­ni­ge Dan­kes­wor­te ge­stam­melt hat­ten. Cor­nu­det wei­ger­te sich selbst­re­dend nicht, das Aner­bie­ten sei­ner Nach­ba­rin aus­zu­schla­gen und man bil­de­te mit den Or­dens­frau­en zu­sam­men eine Art Tisch, in­dem man Zei­tun­gen auf dem Schoss aus­brei­te­te.

Man öff­ne­te und schloss den Mund ab­wech­selnd, schob ein Stück hin­ein, kau­te und schluck­te has­tig. Loi­seau war in sei­ner Ecke em­sig bei der Ar­beit; und re­de­te lei­se sei­ner Frau zu, sei­nem Bei­spie­le zu fol­gen. Sie woll­te an­fangs nicht recht dar­an, aber als ein Krampf ihr In­ne­res zu­sam­men­zog, gab sie nach. Ihr Ehe­mann bat die »lie­bens­wür­di­ge Rei­se­ge­fähr­tin,« ob er nicht auch für sei­ne Gat­tin ein Stück­chen ha­ben könn­te. »Aber na­tür­lich, ge­wiss mein Herr,« sag­te sie, ihm mit lie­bens­wür­di­gem Lä­cheln die Ter­ri­ne rei­chend.

Eine klei­ne Ver­le­gen­heit ent­stand, als man die ers­te Fla­sche Bor­deaux ent­korkt hat­te: Es gab nur einen Be­cher. Man wisch­te ihn eben vor dem Trin­ken aus. Nur Cor­nu­det setz­te ihn dort an den Mund, wo er noch feucht von den Lip­pen sei­ner Nach­ba­rin war; zwei­felsoh­ne ein Akt der Höf­lich­keit ge­gen die­sel­be.

Der Graf und die Grä­fin Bréville, um­ge­ben von es­sen­den Men­schen und den Ge­ruch von Spei­sen fort­wäh­rend in der Nase, lit­ten un­ter­des­sen eben­so wie Herr und Frau Carré-La­ma­don wah­re Tan­ta­lus­qua­len. Plötz­lich stiess die jun­ge Frau des Fa­brik­be­sit­zers einen Seuf­zer aus, so­dass sich al­les nach ihr um­sah. Sie war bleich wie der Schnee draus­sen, ihre Au­gen wa­ren ge­schlos­sen, der Kopf hing vorn­über; sie hat­te das Be­wusst­sein ver­lo­ren. Ganz aus­ser sich bat ihr Gat­te alle Welt um Hil­fe. Man hat­te völ­lig den Kopf ver­lo­ren, als end­lich die äl­te­re von den bei­den Or­dens­schwes­tern, die das Haupt der Ohn­mäch­ti­gen stütz­te, den Be­cher von Fett-Kloss je­ner an die Lip­pen setz­te und ihr ei­ni­ge Trop­fen Wein ein­flöss­te. Die hüb­sche jun­ge Frau er­wach­te, schlug die Au­gen auf, lä­chel­te und er­klär­te mit lei­ser Stim­me, dass sie sich jetzt woh­ler füh­le. Aber um einen Rück­fall zu ver­mei­den, nö­tig­te ihr die Schwes­ter ein vol­les Glas Bor­deaux auf und füg­te hin­zu: »das macht nur der Hun­ger; wei­ter nichts.«

»Mein Him­mel!« sag­te jetzt Fett-Kloss, in­dem sie rot und ver­le­gen die vier aus­ge­hun­ger­ten Rei­sen­den an­sah, »viel­leicht darf ich den Her­ren und Da­men et­was an­bie­ten.« … Dann schwieg sie, eine Ab­leh­nung be­fürch­tend. »Na, wahr­haf­tig,« er­griff jetzt Loi­seau das Wort »in sol­chen Fäl­len gibt es kei­nen Un­ter­schied und man muss sich ge­gen­sei­tig hel­fen. Vor­wärts, mei­ne Da­men, ge­nie­ren Sie sich nicht; grei­fen Sie mun­ter zu. Sie wis­sen nicht, ob wir über­haupt noch eine Nacht­her­ber­ge fin­den. In die­sem Tem­po kom­men wir vor Mit­ter­nacht nicht nach Tôtes.«

Man zö­ger­te im­mer noch; nie­mand woll­te zu­erst »Ja« sa­gen. End­lich mach­te der Graf ein Ende. »Wir neh­men dan­kend an, Ma­da­me,« sag­te er mit der gan­zen Wür­de ei­nes Edel­man­nes zu der schüch­ter­nen di­cken Rei­se­ge­fähr­tin.

Jetzt war der ers­te Schritt ge­tan. Nach­dem man nun ein­mal den Ru­bi­kon hin­ter sich hat­te, ver­kehr­te man un­ge­zwun­ge­ner. Der Rei­se­korb wur­de ge­leert. Er ent­hielt noch eine Gän­se­le­ber- und eine Ler­chen-Pas­te­te, ein Stück ge­räu­cher­te Zun­ge, Bir­nen von Crassanc, eine Tor­te von Pont-Le­vêque, al­ler­lei klei­nes Ge­bäck und ein Glas mit Mi­xed-Pi­kles; Fett-Kloss lieb­te, wie alle ih­res­glei­chen, das Pi­kan­te.

Man konn­te doch un­mög­lich et­was von die­ser Per­son an­neh­men, ohne auch mit ihr zu spre­chen. So be­gann denn eine Un­ter­hal­tung; an­fangs mit Re­ser­ve. Als sie sich aber ganz an­stän­dig be­nahm, ließ man sich schon mehr ge­hen. Die Da­men Bréville und Carré-La­ma­don be­nah­men sich mit zu­rück­hal­ten­der Lie­bens­wür­dig­keit, wie das bei ih­rer gu­ten Le­bens­art nicht an­ders zu er­war­ten war. Be­son­ders die Grä­fin zeig­te jene lie­bens­wür­di­ge Herab­las­sung al­ler vor­neh­men Da­men, de­nen nie­mals eine Per­le aus der Kro­ne fal­len kann. Nur die di­cke Frau Loi­seau, wel­che sich selbst et­was zu ver­ge­ben fürch­te­te, hielt sich zu­rück, sprach we­nig und ass de­sto mehr.

Die Rede kam na­tür­lich auf den Krieg. Man er­zähl­te sich schreck­li­che Ge­schich­ten von den Preus­sen und wun­der­ba­re Hel­den­ta­ten von den Fran­zo­sen. Bald be­rühr­te man auch per­sön­li­che Ver­hält­nis­se und Fett-Kloss er­zähl­te mit auf­rich­ti­ger Er­re­gung, mit je­nen war­men Wor­ten, die ih­res­glei­chen zu­wei­len ei­gen sind, um ihre Ge­füh­le aus­zu­drücken, wie sie dazu kam, Rou­en zu ver­las­sen. »Ich glaub­te an­fangs, dass ich dort blei­ben könn­te. Ich hat­te das Haus voll Le­bens­mit­tel und hät­te lie­ber ei­ni­ge Sol­da­ten ver­pflegt, als mich Gott weiß wo­hin be­ge­ben. Als ich aber sie ge­se­hen habe, die­se Preus­sen, da wa­ren mei­ne Ge­füh­le stär­ker wie ich. Das Blut koch­te mir vor Zorn in den Adern, und ich habe den gan­zen Tag vor Scham ge­weint. Ach, wenn ich ein Mann wäre, wahr­haf­tig! Ich sah sie von mei­nem Fens­ter aus, die­se großen Bes­ti­en mit ih­ren Pi­ckel­hau­ben. Mein Mäd­chen hat mich zu­rück­hal­ten müs­sen, dass ich ih­nen nicht mein Mo­bi­li­ar auf den Kopf warf. Dann kam die Ein­quar­tie­rung, und ich bin gleich dem ers­ten an die Keh­le ge­sprun­gen. Sie sind nicht schwe­rer zu er­dros­seln, wie an­de­re. Ich hät­te es wahr­haf­tig fer­tig ge­bracht, wenn man mich nicht an den Haa­ren zu­rück­ge­ris­sen hät­te. Da­rauf­hin muss­te ich mich ver­ste­cken, bis ich schliess­lich die Ge­le­gen­heit hier fand, mich da­von zu ma­chen.«

Man be­glück­wünsch­te sie leb­haft. Sie wuchs ent­schie­den im An­se­hen bei ih­ren Rei­se­ge­fähr­ten, die sich nicht so mu­tig ge­zeigt hat­ten. Cor­nu­det hör­te ihr mit dem zu­stim­men­den bei­fäl­li­gen Lä­cheln ei­nes Apos­tels zu; denn die lang­bär­ti­gen De­mo­kra­ten bil­den sich ein, ein Mo­no­pol auf den Pa­trio­tis­mus zu be­sit­zen. Er sprach nun sei­ner­seits in be­leh­ren­dem Tone und kram­te alle Weis­heit aus, die er aus den täg­li­chen Mau­er­an­schlä­gen ge­schöpft hat­te und schloss mit ei­ner groß­ar­ti­gen Re­de­wen­dung, in­dem er den Sturz die­ser »Ka­nail­le von Bo­na­par­te« pries.

Aber Fett-Kloss wur­de so­fort är­ger­lich, denn sie war Bo­na­par­tis­tin. »Ich hät­te Sie wahr­haf­tig an sei­ner Stel­le se­hen mö­gen«; stam­mel­te sie rot wie eine Kir­sche, »Sie und die and­ren alle. Das müss­te hübsch ge­we­sen sein, wahr­haf­tig. Sie sind es, die die­sen Mann ver­ra­ten ha­ben. Es blie­be ei­nem wei­ter nichts üb­rig, als Frank­reich zu ver­las­sen, wenn es von sol­chen Leu­ten, wie Sie re­giert wür­de.«

Cor­nu­det ver­harr­te in über­le­ge­nem ver­ächt­li­chen Lä­cheln; aber man hat­te das Ge­fühl, dass es noch zu grö­be­ren Wor­ten kom­men wür­de. Des­halb leg­te sich der Graf ins Mit­tel. Nicht ohne Mühe be­ru­hig­te er das zor­ni­ge Mäd­chen in­dem er ho­heits­voll er­klär­te, dass man die ehr­li­che Über­zeu­gung ei­nes je­den ach­ten müs­se. Die Grä­fin und die Fa­bri­kan­tens­gat­tin, wel­che den blin­den Hass al­ler vor­neh­men Leu­te ge­gen die Re­pu­blik und die in­stink­ti­ve Vor­lie­be al­ler Frau­en für eine pomp­haf­te und des­po­ti­sche Re­gie­rungs­form teil­ten, fühl­ten sich in­des­sen un­will­kür­lich zu die­ser Pro­sti­tu­ier­ten hin­ge­zo­gen, de­ren An­schau­un­gen den ih­ri­gen so nahe stan­den.

Der Korb war nun leer; zu Zeh­nen war das al­ler­dings kein großes Kunst­stück und man be­dau­er­te, dass es nicht mehr ge­we­sen war. Das Ge­plau­der setz­te sich noch eine Wei­le fort, wenn auch nicht mehr so leb­haft, als wäh­rend des Es­sens.

Der Abend brach her­ein, die Dun­kel­heit nahm im­mer mehr zu und Fett-Kloss fühl­te sich in­fol­ge der Käl­te, die wäh­rend der Ver­dau­ung im­mer fühl­ba­rer ist, trotz ih­rer Wohl­be­leibt­heit er­schau­ern. Da bot ihr Ma­da­me de Bréville ih­ren Wärm­ap­pa­rat an, des­sen Koh­le im Lau­fe des Ta­ges mehr­fach er­neu­ert wa­ren; sie nahm ihn gern an, denn ihre Füs­se wa­ren eis­kalt. Die Da­men Carré-La­ma­don und Loi­seau ga­ben die ih­ri­gen den bei­den Or­dens­schwes­tern.

Der Kut­scher hat­te sei­ne La­ter­nen an­ge­zün­det. Ihr hel­les Licht brach sich an ei­ner Dampf­wol­ke die über den Krup­pen der schweiß­trie­fen­den Pfer­de schweb­te und be­leuch­te­te zu bei­den Sei­ten des Wa­gens den Schnee, der bei den leb­haf­ten Re­fle­xen sich auf­zu­rol­len schi­en. Im Wa­gen konn­te man schon nichts mehr un­ter­schei­den; aber plötz­lich ent­stand eine Be­we­gung zwi­schen Fett-Kloss und Cor­nu­det. Loi­seau glaub­te in der Däm­me­rung zu be­mer­ken, dass der Mann mit dem großen Bar­te sich et­was plötz­lich zur Sei­te beug­te, als habe er ohne viel Geräusch einen gut­sit­zen­den Schlag er­hal­ten.

Vorn auf der Stras­se zeig­ten sich ein­zel­ne Lich­ter; es war Tôtes. Wenn man zu den elf Stun­den Fahrt noch die drei Stun­den Rast rech­ne­te, die man den Pfer­den zu ih­rem Fut­ter ge­gönnt hat­te, so wa­ren die Rei­sen­den vier­zehn Stun­den un­ter­wegs ge­we­sen. End­lich fuhr man durch das Stadt­tor und hielt vor dem Hôtel de Com­mer­ce an.

Die Türe wur­de auf­ge­ris­sen und ein wohl­be­kann­tes Geräusch ließ alle Rei­sen­den er­zit­tern; eine Sä­bel­schei­de klirr­te auf dem Bo­den. Man hör­te ei­ni­ge deut­sche Wor­te ru­fen.

Ob­schon am Hal­te­punkt an­ge­kom­men, stieg kei­ner von den Rei­sen­den aus; als ob sie er­war­tet hät­ten, da draus­sen so­fort nie­der­ge­sä­belt zu wer­den. Da er­schi­en der Kut­scher und leuch­te­te mit ei­ner La­ter­ne bis in den hin­ters­ten Eck des Wa­gens. Ihr Schein fiel auf zwei Rei­hen furcht­star­ren­der Ge­sich­ter mit of­fe­nem Mun­de und ängst­lich drein­schau­en­der Au­gen.

Beim vol­len Licht der La­ter­ne sah man ne­ben dem Kut­scher einen deut­schen Of­fi­zier, einen hoch­ge­wach­se­nen auf­fal­lend schlan­ken blon­den jun­gen Mann, der in sei­ner Uni­form wie in ein Kor­set ein­ge­zwängt war. Auf dem Kop­fe trug er eine fla­che run­de Müt­ze wie ein Lauf­bur­sche in den eng­li­schen Hôtels. Sein lan­ger ker­zen­gra­der Schnurr­bart wur­de zum Schluss zu im­mer dün­ner, bis er fast nur noch aus ei­nem blon­den Haar be­stand, des­sen Ende man nicht mehr un­ter­schei­den konn­te. Er schi­en auf sei­ner Ober­lip­pe auf­ge­klebt zu sein und droh­te bei je­der Be­we­gung der Ba­cken­mus­kel her­un­ter zu fal­len.

»Bit­te aus­zu­stei­gen, mei­ne Her­ren und Da­men,« for­der­te der Of­fi­zier in schlech­tem El­säs­ser Fran­zö­sisch brüsk die Rei­sen­den auf.

Die bei­den Or­den­schwes­tern folg­ten zu­erst mit je­ner sanf­ten Er­ge­ben­heit, die gott­ge­weih­te Jung­frau­en in al­len Le­bens­la­gen zei­gen. Dann ka­men der Graf und die Grä­fin, ge­folgt von dem Fa­bri­kan­ten und sei­ner Frau, hier­auf Loi­seau mit sei­ner bes­se­ren Hälf­te. »Gu­ten Abend, mein Herr,« sag­te der Wein­händ­ler, mehr der Klug­heit als der Höf­lich­keit fol­gend zu dem Of­fi­zier, wäh­rend er den Fuss auf den Bo­den setz­te. Je­ner, an­mas­send wie alle, in de­ren Hän­den die Ge­walt liegt, sah ihn an, ohne ihn ei­ner Ant­wort zu wür­di­gen.

Fett-Kloss und Cor­nu­det, ob­wohl der Tür zu­nächst, stie­gen doch als die letz­ten aus; sie tru­gen An­ge­sichts des Fein­des eine erns­te hoch­fah­ren­de Mie­ne zur Schau. Die wohl­be­leib­te Don­na such­te sich zu be­herr­schen und ru­hig zu blei­ben. Der De­mo­krat strich in thea­tra­li­scher Wei­se mit et­was zit­tern­der Hand sei­nen ro­ten Schnurr­bart. Sie such­ten ihre Wür­de zu wah­ren, weil sie sich be­wusst wa­ren, dass bei sol­chen Begnü­gun­gen je­der ein­zel­ne das gan­ze Va­ter­land ver­tritt. Zu­dem är­ger­te sie das höf­li­che Be­neh­men ih­rer Rei­se­ge­fähr­ten. Fett-Kloss such­te da­her stol­zer auf­zu­tre­ten als die vor­neh­men ehr­ba­ren Da­men, wäh­rend in Cor­nu­dets Hal­tung sich der gan­ze Wi­der­stands-Geist aus­präg­te, der mit der Auf­wüh­lung der Stras­sen vor Rou­en be­gon­nen hat­te.

Man trat in den ge­räu­mi­gen Flur des Hôtels und der Of­fi­zier ließ sich den Er­laub­nis­schein des kom­man­die­ren­den Ge­ne­rals zei­gen, auf dem der Name, der Stand und die Per­so­nal­be­schrei­bung je­des ein­zel­nen ge­nau ver­zeich­net war. Nach­dem er alle An­we­sen­den ge­nau ge­mus­tert und ihr Äus­se­res mit der Be­schrei­bung ver­gli­chen hat­te sag­te er kurz: »Es ist gut,« wor­auf er ver­schwand.

Man at­me­te er­leich­tert auf. Da der Hun­ger sich aufs neue gel­tend mach­te, so wur­de noch ein Abendes­sen be­stellt. Eine hal­be Stun­de muss­te man je­doch noch war­ten und die Rei­sen­den mus­ter­ten in­zwi­schen die für sie be­stimm­ten Zim­mer. Sie la­gen alle ne­ben­ein­an­der auf ei­nem lan­gen Gan­ge an des­sen Ende sich eine Gla­stü­re mit ei­ner all­ge­mein be­kann­ten Zif­fer be­fand.

Als man sich end­lich zu Ti­sche setz­te, er­schi­en der Wirt sel­ber, ein al­ter Pfer­de­händ­ler, ein di­cker kurz­at­mi­ger Mann, aus des­sen Keh­le fort­ge­setzt ein ras­seln­der zi­schen­der ver­schleim­ter Ton er­klang. Sein Name war Fol­len­vie.

»Ist Fräu­lein Elie­sabeth Rous­set hier?« frag­te er.

»Das bin ich,« wand­te sich Fett-Kloss er­schreckt um.

»Der preus­si­sche Of­fi­zier möch­te Sie so­gleich spre­chen, Fräu­lein.«

»Mich?«

»Ja­wohl, wenn Sie wirk­lich Fräu­lein Rous­set sind.«

Ei­nen Au­gen­blick dach­te sie un­schlüs­sig nach, dann er­klär­te sie ent­schie­den:

»Mög­lich, dass er mich spre­chen will, aber ich wer­de nicht kom­men.«

Es ent­stand eine Be­we­gung an der Ta­fel; man sprach über die­sen Be­fehl und such­te sei­ne Ur­sa­che zu er­grün­den. Der Graf nä­her­te sich ihr.

»Sie tuen Un­recht Ma­da­me. Ihre Wei­ge­rung könn­te fa­ta­le Schwie­rig­kei­ten her­vor­ru­fen, nicht nur für Sie, son­dern für uns alle. Man muss dem Stär­ke­ren im­mer nach­ge­ben. Die­ser Schritt kann kei­nes­wegs ge­fähr­lich sein. Es han­delt sich je­den­falls um eine For­ma­li­tät, die ver­ges­sen wur­de.«

Alle üb­ri­gen ver­ei­nig­ten sich mit ihm, um sie zu bit­ten und sie zu drän­gen; schliess­lich ge­lang es ih­rer ge­mein­schaft­li­chen Über­re­dung, sie zu über­zeu­gen. Alle fürch­te­ten die Ver­wick­lun­gen, die aus ih­rer Hart­nä­ckig­keit ent­sprin­gen könn­ten.

»Wenn ich es tue, so ge­schieht es si­cher­lich nur um Ihret­wil­len,« sag­te sie end­lich.

»Und wir dan­ken Ih­nen da­für,« ent­geg­ne­te die Grä­fin ihr die Hand rei­chend.

Sie ging hin­aus und man war­te­te mit dem Es­sen auf sie. Ein je­der be­dau­er­te im Her­zen, nicht selbst statt die­ses zorn­mü­ti­gen hef­ti­gen Mäd­chens her­aus­ge­ru­fen zu sein und über­leg­te sich al­ler­lei Lie­bens­wür­dig­kei­ten für den Fall, dass die Rei­he an ihn käme.

Nach zehn Mi­nu­ten kam sie wie­der, keu­chend, ganz aus­ser sich, rot zum Er­sti­cken. »Ah, die­se Ka­nail­le! die­se Ka­nail­le!« stam­mel­te sie.

Man über­stürz­te sich mit Fra­gen; aber sie sag­te nichts. Als der Graf in sie drang, sag­te sie mit großer Wür­de: »Nein, das kann Sie nicht küm­mern; ich kann es nicht sa­gen.«

Nun ver­sam­mel­te man sich um die große Sup­pen­schüs­sel, aus der ein kräf­ti­ger Duft von Kohl em­por­stieg. Trotz der Eile, mit der es an­ge­rich­tet war, war das Es­sen vor­züg­lich. Der Ci­der, den das Ehe­paar Loi­seau und die Schwes­tern aus Spar­sam­keits-Rück­sich­ten be­stellt hat­ten, mun­de­te vor­treff­lich. Die üb­ri­gen hat­ten Wein, Cor­nu­det da­ge­gen Bier be­stellt. Letz­te­rer hat­te eine ei­ge­ne Art die Fla­sche zu ent­kor­ken, ein­zu­schen­ken und die schäu­men­de Flüs­sig­keit zu be­trach­ten, in­dem er das Glas et­was schräg hielt, und es als­dann zwi­schen sich und das Lam­pen­licht brach­te, um die Far­be des Stof­fes zu prü­fen. Sein gleich­far­bi­ger großer Bart schi­en beim Trin­ken vor Ver­gnü­gen zu zit­tern, sei­ne Au­gen schiel­ten, um den An­blick des Schop­pens nicht zu ver­lie­ren, und man merk­te, dass dies die ei­gent­li­che Be­schäf­ti­gung sei, für die er ge­bo­ren war. Man be­merk­te, dass in sei­nem In­nern eine An­nä­he­rung, eine Art geis­ti­ger Ver­bin­dung zwi­schen den bei­den großen Lei­den­schaf­ten statt­fand, die ihn be­seel­ten: dem Pale Ale und der Re­pu­blik. Si­cher­lich konn­te er das eine nicht kos­ten ohne an die an­de­re zu den­ken.

Herr und Frau Fol­len­vie as­sen am obe­ren Ende der Ta­fel mit. Er, mit sei­nem ewig ras­seln­den Kehl­kopf hat­te zu viel Brust­klem­mung, um wäh­rend des Es­sens re­den zu kön­nen; aber sei­ne Frau mach­te dies reich­lich wie­der gut. Sie schil­der­te alle ihre Ein­drücke bei der An­kunft der Preus­sen, was sie trie­ben, was sie sag­ten; sie ver­wünsch­te die­sel­ben ein­mal, weil sie ihr viel Geld kos­te­ten, so­dann, weil sie zwei Söh­ne bei der Ar­mee hat­te. Ihre An­re­de galt vor al­lem der Grä­fin, weil es ihr sehr schmei­chel­te mit ei­ner vor­neh­men Dame sich zu un­ter­hal­ten.

Dann senk­te sie et­was die Stim­me, um von de­li­ka­te­ren Sa­chen zu spre­chen, wäh­rend ihr Mann sie zu­wei­len mit den Wor­ten un­ter­brach; »Sprich lie­ber nicht da­von, Ma­da­me Fol­len­vie.« Aber sie ach­te­te nicht auf ihn und fuhr fort:

»Ja, Ma­da­me, die­se Leu­te es­sen nichts, wie Kar­tof­feln mit Schwei­ne­bra­ten und dann wie­der Schwei­ne­bra­ten mit Kar­tof­feln. Man muss nur nicht den­ken, dass sie rein­lich sei­en. Oh nein. Über­all ma­chen sie ih­ren Schmutz hin, mit Er­laub­nis zu sa­gen. Und wenn Sie erst mal ihre Übung an­se­hen wür­den den gan­zen lie­ben Tag lang; sie sind da in ei­nem La­ger – vor­wärts, rück­wärts mar­schie­ren, rechts – um, links – um! Wenn sie we­nigs­tens noch das Land be­bau­ten, oder die Stras­sen ver­bes­ser­ten. Aber nein, Ma­da­me; die­se Sol­da­ten nüt­zen zu gar nichts. Das arme Volk muss sie nur er­näh­ren, da­mit sie das Ab­schlach­ten rich­tig ler­nen. – Ich bin nur eine alte ein­fa­che Frau, das muss ich sa­gen; aber wenn ich sie so an­se­he, wie sie so den gan­zen Tag mit den Bei­nen stram­peln, so spre­che ich oft zu mir selbst: Wie es Leu­te gibt, die so vie­le Er­fin­dun­gen ma­chen zum Woh­le der Mensch­heit, so gibt es auch sol­che die zum Scha­den der­sel­ben auf Bö­ses sin­nen. Ist es denn wirk­lich nicht ein Gräu­el, dass sich die Leu­te ge­gen­sei­tig um­brin­gen, bloß weil sie Preus­sen, Eng­län­der, Po­len oder Fran­zo­sen sind? Wenn man sich an Je­man­dem für ein Un­recht zu rä­chen sucht, so ist das böse und wird ver­dammt; aber wenn man uns­re jun­gen Bur­schen wie die Ha­sen nie­der­knallt, so ist das gut und man zeich­net den aus, der das Meis­te dar­in leis­tet. Nein, se­hen Sie, das wer­de ich nie ver­ste­hen.«

»Der Krieg« warf Cor­nu­det laut ein »ist eine Bar­ba­rei, so­bald man den fried­li­chen Nach­bar an­greift; aber er ist eine hei­li­ge Pf­licht, so­bald es sich um die Ver­tei­di­gung des Va­ter­lan­des han­delt.«

Die alte Frau senk­te den Kopf.

»Ja­wohl, wenn man sich ver­tei­digt, das ist et­was an­de­res. Aber müss­te man dann nicht alle Kö­ni­ge um­brin­gen, die so et­was nur zum Ver­gnü­gen trei­ben?«

»Bra­vo, Bür­ge­rin!« rief Cor­nu­det flam­men­den Au­ges. Herr Carré-La­ma­don war in tie­fes Nach­den­ken ver­sun­ken. Ob­schon er für den Kriegs­ruhm schwärm­te, so stell­te er sich doch nach den Wor­ten die­ser ein­fa­chen Frau den Wohl­stand vor, den so vie­le tau­sen­de, jetzt ar­beits­lo­se und des­halb kost­spie­li­ge Hän­de dem Lan­de brin­gen müss­ten; wie vie­le Kraft, die man jetzt un­ge­nützt er­hal­ten müss­te lies­se sich da zu in­dus­tri­el­len Zwe­cken ver­wen­den, de­ren Be­wäl­ti­gung jetzt Jahr­zehn­te er­for­der­te.

Loi­seau hat­te un­ter­des­sen sei­nen Platz ver­las­sen und sich zu dem Wirt ge­setzt. Der di­cke Mann lach­te, hus­te­te und spuck­te ab­wech­selnd; sein di­cker Bauch wa­ckel­te vor Ver­gnü­gen bei den Wit­zen sei­nes Nach­barn. Er kauf­te ihm sechs Fass Bor­deaux ab zum nächs­ten Früh­jahr, wenn die Preus­sen wie­der ab­ge­zo­gen wä­ren.

Das Sou­per war kaum zu Ende, als alle, von Mü­dig­keit über­wäl­tigt, ihre Zim­mer auf­such­ten.

Loi­seau, der auf al­les ein Auge hat­te, ließ in­des­sen sei­ne Frau zu Bett ge­hen, wäh­rend er selbst bald sein Auge bald sein Ohr an’s Schlüs­sel­loch brach­te, um »die Ge­heim­nis­se des Gan­ges,« wie er sie nann­te, zu er­for­schen.

Nach Ver­lauf ei­ner Stun­de hör­te er ein Geräusch, blick­te schnell hin­durch und ge­wahr­te Fett-Kloss, die in ei­nem spit­zen­be­setz­ten Schlaf­rock aus blau­em Kasch­mir noch un­förm­li­cher aus­sah. Sie trug ein Nacht­licht und ging auf die Tür mit der be­kann­ten Num­mer am Ende des Gan­ges zu. Als sie nach ei­ni­gen Mi­nu­ten von dort zu­rück kam, öff­ne­te sich seit­wärts eine an­de­re Türe. Cor­nu­det nur im Hemd und Bein­kleid kam hin­ter ihr her. Sie spra­chen lei­se mit­ein­an­der und blie­ben end­lich ste­hen. Fett-Kloss schi­en ihm ener­gisch den Ein­tritt in ihr Zim­mer zu ver­weh­ren. Lei­der konn­te Loi­seau nicht al­les ver­ste­hen; er fing nur ei­ni­ge Wor­te auf, als sie schliess­lich doch lau­ter wur­de. Cor­nu­det dräng­te leb­haft.

»Ge­hen Sie doch!« sag­te er, »sei­en sie nicht när­risch; was macht das Ih­nen denn?«

»Nein, nein, Wer­tes­ter«, sag­te sie mit ent­rüs­te­ter Mie­ne, »es gibt Au­gen­bli­cke, wo man so was nicht macht. Und dann, hier an die­sem Orte wäre es ge­ra­de­zu eine Schmach.«

Er ver­stand sie ent­schie­den nicht und frag­te um den Grund.

»Wa­rum?« sag­te sie, mit noch er­ho­be­ne­rer Stim­me. »Sie be­grei­fen nicht, warum? Weil Preus­sen hier im Hau­se sind, viel­leicht gleich im Zim­mer ne­ben­an.«

Er schwieg. Die­se pa­trio­ti­sche Scham ei­ner Pro­sti­tu­ier­ten, die un­ter den Au­gen des Fein­des so­zu­sa­gen, sich nicht preis­ge­ben woll­te, moch­te doch in sei­nem Her­zen noch einen Rest von Scham­ge­fühl er­we­cken; denn er küss­te sie nur und ging dann mit Kat­zen­trit­ten wie­der auf sein Zim­mer.

Loi­seau war sehr er­regt. Er ver­liess das Schlüs­sel­loch, rann­te im Zim­mer hin und her, zog sein Nacht­hemd an, und lüf­te­te die De­cke, un­ter der sei­ne Ehe­hälf­te ruh­te. »Hast Du mich lieb, Schatz?« frag­te er sie mit ei­nem Kus­se we­ckend.

Dann wur­de es still in gan­zem Hau­se. Aber bald er­hob sich ir­gend­wo, aus ei­ner un­be­stimm­ten Rich­tung, ent­we­der aus dem Kel­ler oder aus dem Söl­ler kom­mend, ein mäch­ti­ges ein­för­mi­ges gleich­mäs­si­ges Schnar­chen. Es wech­sel­te mit kur­z­en und lan­gen Tö­nen ab, wie ein un­ter Druck er­zit­tern­der Dampf­kes­sel. Herr Fol­len­vie schlief.

Da man be­schlos­sen hat­te, am an­de­ren Mor­gen um 8 Uhr ab­zu­rei­sen, so fand sich früh al­les pünkt­lich im Gast­zim­mer ein; aber der Wa­gen, des­sen Dach mit Schnee be­deckt war, stand ein­sam, ohne Kut­scher und Pfer­de im Hofe. Ver­geb­lich such­te man ers­te­ren in den Stäl­len, im Fut­ter­raum, in den Re­mi­sen. Da be­schloss man et­was spa­zie­ren zu ge­hen, um sich den Ort an­zu­se­hen. Sie be­fan­den sich auf dem Plat­ze, in des­sen Hin­ter­grun­de die Kir­che lag mit nied­ri­gen Häu­sern auf bei­den Sei­ten, in de­nen man preus­si­sche Sol­da­ten be­merk­te. Der ers­te, den sie sa­hen, klaub­te Kar­tof­feln aus; der zwei­te rei­nig­te den La­den ei­nes Bar­biers. Ein drit­ter, bär­tig bis un­ter die Au­gen, küss­te ein wei­nen­des Baby und schau­kel­te es auf den Kni­en, um es zu be­ru­hi­gen. Di­cke Bäue­rin­nen, de­ren Män­ner bei der »mo­bi­len Ar­mee« wa­ren, zeig­ten den gut­wil­li­gen Sie­gern durch Ge­bär­den, was sie zu tun hät­ten. Da gab es Holz zu spal­ten, Sup­pe zu ko­chen, Kaf­fee zu mah­len; ja ei­ner wusch so­gar das Lei­nen­zeug sei­ner Haus­wir­tin, ei­ner ganz hilflo­sen Al­ten.

Er­staunt frag­te der Graf den Küs­ter, der ge­ra­de aus der Sa­kris­tei kam. »Ja, die­se da,« sag­te die alte Kir­chen­rat­te, »sind wa­cke­re Ker­le. Es sind kei­ne Preus­sen was man so sagt. Sie sind von wei­ter her, ich weiß nicht wo. Sie ha­ben alle Frau­en und Kin­der da­heim, und der Krieg macht ih­nen wahr­haf­tig kein Ver­gnü­gen. Bei ih­nen zu Hau­se wird man si­cher auch nach den Män­nern jam­mern, und die Ih­ri­gen wer­den nicht bes­ser dran sein, wie bei uns. Hier ist man üb­ri­gens au­gen­blick­lich ganz zu­frie­den. Sie be­tra­gen sich gut und ar­bei­ten so gut wie bei sich zu Hau­se. Se­hen Sie, mein Herr, arme Leu­te müs­sen sich ge­gen­sei­tig hel­fen … Die Gro­ßen sind es nur, die den Krieg füh­ren …«

Cor­nu­det, sehr ent­rüs­tet über die­ses freund­schaft­li­che Ver­hält­nis zwi­schen Sie­gern und Be­sieg­ten, ging heim; er zog es vor im Hôtel zu blei­ben. »Sie be­völ­kern wie­der,« sag­te Loi­seau scher­zend. »Sie ma­chen man­ches wie­der gut,« ent­geg­ne­te Herr Carré-La­ma­don er­regt. Der Kut­scher war nir­gends zu fin­den. Sch­liess­lich ent­deck­te man ihn in ei­ner Kaf­fee­schen­ke, wo er sich mit dem Bur­schen des Of­fi­ziers freund­schaft­lich zu­sam­men nie­der­ge­las­sen hat­te.

»Hat man Ih­nen denn nicht be­foh­len, um 8 Uhr an­zu­span­nen?« frag­te ihn der Graf.

»Ganz recht; aber nach­her hat man an­ders be­foh­len.«

»Was?«

»Über­haupt nicht an­zu­span­nen?«

»Wer hat das ver­bo­ten?«

»Nun, der preus­si­sche Of­fi­zier.«

»Wa­rum denn?«

»Ich weiß von nichts. Fra­gen Sie ihn. Man ver­bie­tet mir an­zu­span­nen; nun so spann ich eben nicht an … Selbst­re­dend.«

»Hat er Ih­nen selbst das ge­sagt?«

»Nein, mein Herr; der Wirt hat mir sei­nen Be­fehl über­bracht.«

»Wann denn?

»Ges­tern Abend, als ich schla­fen ging.«

Die drei Her­ren gin­gen sehr be­un­ru­higt heim. Man frag­te nach Herrn Fol­len­vie, aber das Mäd­chen er­klär­te, dass der Herr we­gen sei­nes Asth­ma’s nie vor zehn Uhr auf­stän­de. Er hat­te so­gar aus­drück­lich ver­bo­ten ihn frü­her zu we­cken; aus­ser im Fal­le ei­nes Bran­des.

Man wünsch­te den Of­fi­zier zu spre­chen; aber das war ab­so­lut un­mög­lich, ob­schon er im Hôtel wohn­te. Er ver­han­del­te in Zi­vil-An­ge­le­gen­hei­ten nur mit Herrn Fol­len­vie. So muss­te man denn war­ten. Die Da­men be­ga­ben sich wie­der auf ihre Zim­mer und such­ten sich die Zeit zu ver­trei­ben, so gut es ging.

Cor­nu­det setz­te sich an den Herd in der Kü­che, wo ein mäch­ti­ges Feu­er brann­te. Er ließ sich dort einen klei­nen Kaf­fee­tisch und eine Fla­sche Bier hin­brin­gen; dann zog er sei­ne Pfei­fe her­vor die bei den De­mo­kra­ten bei­na­he eben­so in An­se­hen stand, wie er selbst; als ob sie dem Va­ter­lan­de diente, weil Cor­nu­det sie im Ge­brauch hat­te. Es war eine präch­ti­ge Meer­schaum­pfei­fe, herr­lich an­ge­raucht, eben­so schwarz wie die Zäh­ne ih­res Herrn, wohl­rie­chend, ge­krüm­melt, glän­zend, hand­lich und ganz zu sei­nem Ge­sicht pas­send. So sass er still vor sich hin, die Au­gen bald auf das Herd­feu­er bald auf den Schaum in sei­nem Gla­se ge­hef­tet. Je­des Mal wenn er ge­trun­ken hat­te, fuhr er sich mit sei­nen lan­gen ha­ge­ren Fin­gern be­frie­digt durch das lan­ge fet­ti­ge Haar, und wisch­te sich dann den Schaum aus dem Schnurr­bart.


Loi­seau be­gab sich un­ter dem Vor­wand, sich Be­we­gung zu ma­chen hin­aus und ver­such­te bei den Kneip­wir­ten des Or­tes sei­nen Wein an­zu­brin­gen. Der Graf und der Fa­bri­kant un­ter­hiel­ten sich über Po­li­tik; ihr Ge­spräch dreh­te sich um die Zu­kunft Frank­reichs. Der eine bau­te sei­ne Hoff­nun­gen auf die Or­leans der an­de­re auf ir­gend einen un­be­kann­ten Ret­ter, einen Held, der ih­nen im letz­ten Au­gen­blick der Verzweif­lung ent­ste­hen wür­de: Ei­nen du Gue­sclin, eine Jean­ne d’Arc etwa, oder einen zwei­ten Na­po­le­on. Ja, wenn der kai­ser­li­che Prinz nicht noch so jung wäre. Cor­nu­det hör­te ih­nen mit dem Lä­cheln ei­nes Man­nes zu, der wei­ter in die Zu­kunft blickt. Der Dampf sei­ner Pfei­fe hüll­te die Kü­che ein.

Als es zehn Uhr schlug, er­schi­en Fol­len­vie. Man be­stürm­te ihn mit Fra­gen; aber er wie­der­hol­te drei bis vier­mal ge­nau die­sel­be Ge­schich­te. »Herr Fol­len­vie,« hat der Of­fi­zier zu mir ge­sagt. »Sie wer­den ver­bie­ten, dass man mor­gen den Wa­gen die­ser Rei­sen­den an­spannt. Ich will nicht, dass sie ohne mei­ne Er­laub­nis ab­rei­sen; ver­ste­hen Sie? Gut also.«

Nun woll­te man den Of­fi­zier auf­su­chen. Der Graf schick­te ihm sei­ne Kar­te, auf der auch Herr Carré-La­ma­don sei­nen Na­men samt al­len Ti­teln und Wür­den ver­merk­te. Der Preus­se ließ zu­rück­sa­gen, dass er den bei­den Herrn ge­stat­ten wür­de, ihn nach sei­nem Früh­stück, d. h. um ein Uhr auf­zu­su­chen.

Die Da­men er­schie­nen wie­der und trotz der all­ge­mei­nen Mis­s­tim­mung nahm man et­was zu sich. Fett-Kloss schi­en krank und sicht­lich sehr ver­wirrt.

Als man mit dem Kaf­fee fer­tig war, er­schi­en eine Or­do­nanz, um die Herrn zu ho­len, de­nen sich Loi­seau als drit­ter an­schloss. Cor­nu­det da­ge­gen, den man um der Sa­che mehr Fei­er­lich­keit zu ge­ben, eben­falls zur Be­tei­li­gung auf­for­der­te, er­klär­te ent­schie­den, dass er kei­ne Be­zie­hun­gen mit den Preus­sen zu ha­ben wün­sche. Er zog sich wie­der an sei­nen Ka­min zu­rück und be­stell­te eine neue Fla­sche.

Die drei Herrn gin­gen hin­auf und wur­den in das schöns­te Zim­mer des Gast­hofs ge­führt, wo sie der Of­fi­zier, auf ei­nem Ses­sel ru­hend, die Füs­se am Ka­min aus­ge­streckt und eine lan­ge Por­zel­lan­pfei­fe im Mun­de, emp­fing. Ein grel­ler Zim­mer­rock, ohne Zwei­fel aus der ver­las­se­nen Woh­nung ir­gend ei­nes Spiess­bür­gers ge­raubt, des­sen schlech­ter Ge­schmack sich an ihm be­kun­de­te, um­gab ihn statt der Uni­form. Er er­hob sich we­der, noch be­grüss­te er sonst die Herrn; er wür­dig­te sie nicht ein­mal ei­nes Blickes. Es schi­en als woll­te er ih­nen mal eine Pro­be von der den sieg­rei­chen Sol­da­ten ei­ge­nen Ro­heit ge­ben.

»Was wün­schen Sie?« frag­te er nach ei­ni­ger Zeit end­lich.

»Wir möch­ten ab­rei­sen, mein Herr,« nahm der Graf das Wort.

»Nein.«

»Darf ich nach der Ur­sa­che der Ver­wei­ge­rung fra­gen?«

»Weil ich nicht will.«

»Ich möch­te Ih­nen, mein Herr, aber er­ge­benst be­mer­ken, dass Ihr kom­man­die­ren­der Ge­ne­ral uns die Er­laub­nis zur Rei­se nach Diep­pe be­wil­ligt hat; wir hät­ten, däch­te ich, nichts be­gan­gen, um die­sel­be zu ver­wir­ken.«

»Ich will aber nicht … Da­mit gut … Sie kön­nen gehn.«

Die drei Herrn ent­fern­ten sich un­ter ei­ner Ver­beu­gung.

Der Nach­mit­tag ver­lief sehr trau­rig. Man konn­te den Ein­fall des Deut­schen nicht be­grei­fen, und kam auf die son­der­bars­ten Ide­en. Alle Welt hielt sich jetzt in der Kü­che auf und man be­sprach sich fort­ge­setzt un­ter den un­glaub­lichs­ten Ver­mu­tun­gen. Woll­te man sie viel­leicht als Gei­seln zu­rück­hal­ten? – aber zu wel­chem Zweck? Oder sie als Ge­fan­ge­ne fort­schlep­pen? – Wo­hin? Oder woll­te man eine ge­hö­ri­ge Brand­schat­zung bei ih­nen vor­neh­men? Bei die­sem Ge­dan­ken er­starr­te ih­nen das Blut. Die Reichs­ten wa­ren die Furcht­sams­ten. Sie sa­hen sich schon im Geis­te Hau­fen von Gold in die Hän­de die­ser zü­gel­lo­sen Sol­da­tes­ka le­gen, um nur ihr Le­ben zu ret­ten. Sie zer­bra­chen sich den Kopf um nur eine glaub­haf­te Lüge zu er­sin­nen, ih­ren Reich­tum zu ver­heim­li­chen und für arm, ganz arm zu gel­ten. Loi­seau nes­tel­te sei­ne Uhr­ket­te los und ver­barg sie in der Ta­sche. Die ein­bre­chen­de Nacht ver­mehr­te noch ihre Furcht. Die Lam­pe wur­de an­ge­zün­det und Ma­da­me Loi­seau schlug eine Par­tie Ein­und­dreis­sig vor, da es noch zwei Stun­den bis zum Di­ner war. Das wäre doch we­nigs­tens eine Zer­streu­ung. Der Vor­schlag wur­de an­ge­nom­men. So­gar Cor­nu­det, der aus Höf­lich­keit sei­ne Pfei­fe hat­te aus­ge­hen las­sen, be­tei­lig­te sich.

Der Graf schlug die Kar­ten – gab – und Fett-Kloss hat­te auf den ers­ten An­hieb Ein­und­dreis­sig. Bald ver­scheuch­te das In­ter­es­se am Spiel die Furcht, die sie be­seelt hat­te. Cor­nu­det be­merk­te so­gar, dass das Ehe­paar Loi­seau mo­gel­te.

Als man sich zu Ti­sche set­zen woll­te, er­schi­en Herr Fol­len­vie wie­der.

»Der preus­si­sche Of­fi­zier lässt Fräu­lein Eli­sa­beth Rous­set fra­gen, ob sie ihre An­sicht noch nicht ge­än­dert habe,« sag­te er mit sei­ner hei­se­ren Stim­me.

Fett-Kloss blieb ganz bleich ste­hen. Dann wur­de sie plötz­lich knall­rot und so von Zorn er­stickt, dass sie an­fangs nicht spre­chen konn­te.

»Sie wer­den die­ser Ka­nail­le, die­sem Schmutz­fin­ken, die­sem Lum­pen von Preus­sen sa­gen, dass ich nie­mals wol­len wer­de. Ver­ste­hen Sie wohl, nie, nie, nie­mals!«

Der di­cke Wirt ging hin­aus. Nun wur­de Fett-Kloss von al­len Sei­ten um­ringt, mit Fra­gen be­stürmt, und ener­gisch auf­ge­for­dert end­lich das Ge­heim­nis zu lüf­ten, das über ih­rer ers­ten Be­spre­chung mit dem Of­fi­zier schweb­te. An­fangs sträub­te sie sich noch, aber der Är­ger riss sie schliess­lich mit fort. »Was er will? … Was er möch­te? … Er will mit mir schla­fen,« schrie sie auf. Nie­mand nahm an den Wor­ten An­sto­ss, so groß war die Er­re­gung über den Of­fi­zier. Cor­nu­det stiess sei­nen Schop­pen so hef­tig zu­rück, dass er vom Tisch fiel und klir­rend zer­sprang. Das war ein Ge­schimpf über die­sen elen­den Schmut­zi­an, ein zor­ni­ges Ge­mur­mel, eine ein­stim­mi­ge Auf­for­de­rung zur Stand­haf­tig­keit, als ob von je­dem Ein­zel­nen ein Teil die­ses Op­fers ver­langt wor­den wäre. Der Graf er­klär­te mit Ab­scheu, dass die­se Leu­te da schlim­mer haus­ten, wie die Bar­ba­ren, Die Frau­en na­ment­lich be­zeug­ten Fett-Kloss eine war­me wohl­tu­en­de Teil­nah­me. Die Or­dens­schwes­tern, die nur zu den Mahl­zei­ten un­ten er­schie­nen, hat­ten den Kopf ge­senkt und sag­ten nichts.

Als der ers­te Zorn ver­raucht war, setz­te man sich nichts­de­sto­we­ni­ger zu Ti­sche; aber alle wa­ren ein­sil­big und nach­denk­lich.

Die Da­men zo­gen sich früh­zei­tig zu­rück. Die Herrn, die nun sämt­lich rauch­ten, ar­ran­gier­ten eine Par­tie Ecar­té, zu der auch Herr Fol­len­vie auf­ge­for­dert war. Man ge­dach­te bei die­ser Ge­le­gen­heit ihn ge­schickt über die Mit­tel aus­zu­fra­gen, wie man den Ei­gen­sinn des Of­fi­ziers bre­chen könn­te. Aber er war nur auf sein Spiel be­dacht und gab zer­streu­te Ant­wor­ten. »An’s Spiel, mei­ne Herrn; an’s Spiel!« wie­der­hol­te er stets. Sei­ne Auf­merk­sam­keit war so ge­fes­selt, dass er so­gar das Auss­pu­cken ver­gass, ob­gleich sich wah­re Or­gel­tö­ne in sei­ner Brust ent­wi­ckel­ten. Sei­ne keu­chen­de Keh­le gab die gan­ze Ska­la des Asth­ma’s, von den höchs­ten bis zu den nied­rigs­ten No­ten wie­der.

So­gar als sei­ne Frau, die vor Mü­dig­keit um­fiel, ihn ho­len woll­te, wei­ger­te er sich mit her­auf­zu­ge­hen. Da ging sie al­lein, denn sie pfleg­te früh als die ers­te mit der Son­ne auf­zu­ste­hen, wäh­rend ihr Mann ein Nacht­vo­gel war, der bis zur spä­tes­ten Stun­de gern mit Be­kann­ten auf­zu­blei­ben pfleg­te. »Leg’ mir mein Fe­der­bett an den Ofen,« rief er ihr nach und wand­te sich dann wie­der den Kar­ten zu. Als man end­lich ein­sah, dass aus ihm nichts her­aus­zu­krie­gen war, er­klär­te man, es sei Zeit zum Schla­fen­ge­hen; und je­der such­te sein Bett auf.

Am an­de­ren Mor­gen war al­les bei Zei­ten auf; man heg­te eine un­be­stimm­te Hoff­nung, ein noch grös­se­res Ver­lan­gen nach der Abrei­se, einen Schre­cken vor ei­nem zwei­ten lang­wei­li­gen Tage in die­ser klei­nen Her­ber­ge.

Aber ach! die Pfer­de blie­ben im Stal­le, der Kut­scher war nir­gends zu se­hen. Müs­sig um­stand al­les den Wa­gen.

Das Früh­stück ver­lief sehr trau­rig. Ge­gen Fett-Kloss war eine ge­wis­se Er­käl­tung ein­ge­tre­ten; denn in der Nacht, die so man­chen Rat­schluss birgt, hat­te man sei­ne An­sicht et­was ge­mäs­sigt. Man war jetzt fast är­ger­lich ge­gen die­ses Mäd­chen, weil sie es nicht ver­stan­den hat­te, heim­lich dem Preus­sen zu Wil­len zu sein. Welch an­ge­neh­me Über­ra­schung wäre das am Mor­gen für ihre Rei­se­ge­fähr­ten ge­we­sen. Was konn­te es ein­fa­che­res ge­ben? Wer hät­te üb­ri­gens et­was da­von er­fah­ren? Wa­rum konn­te sie nicht den Schein wah­ren, und dem Of­fi­zier sa­gen, dass sie nur der Not wei­chend sich ihm er­ge­be? Üb­ri­gens für sie war das doch über­haupt nur ne­ben­säch­lich.

Aber noch sprach nie­mand sei­ne Ge­dan­ken of­fen aus.

Am Nach­mit­tage, als man sich zum Ster­ben lang­weil­te, schlug der Graf einen Spa­zier­gang in der Um­ge­gend vor. Je­der hüll­te sich sorg­fäl­tig ein und die klei­ne Ge­sell­schaft trat ih­ren Weg an, aus­ser Cor­nu­det; der den Platz am Feu­er vor­zog, und den bei­den Schwes­tern, die ihre Zeit in der Kir­che oder der Pfarr­woh­nung zu­brach­ten.

Die Käl­te, die von Tag zu Tag in­ten­si­ver wur­de, pri­ckel­te ih­nen emp­find­lich in Nase und Au­gen; je­der Schritt wur­de ih­ren kal­ten Füs­sen zur Pla­ge. Als sie nun draus­sen das wei­te Feld vor sich sa­hen, er­schi­en ih­nen die un­be­grenz­te wei­ße Flä­che so öde und trau­rig, dass man so­fort wie­der den Rück­weg ein­schlug.

Die vier Da­men gin­gen vor­aus, wäh­rend die drei Her­ren in ei­ni­ger Ent­fer­nung folg­ten.

Loi­seau, der die Lage er­fasst hat­te, frag­te plötz­lich, ob »die­ses Mäd­chen da« sie noch lan­ge in die­ser Pat­sche sit­zen las­sen woll­te. Der Graf, stets rit­ter­lich, er­klär­te, man kön­ne von ei­nem Wei­be ein sol­ches Op­fer nicht ver­lan­gen, es müs­se von ihr selbst aus­ge­hen. Herr Carré-La­ma­don mein­te, dass wenn die Fran­zo­sen, wie ver­lau­te­te, einen Of­fen­siv-Rück­sto­ss von Diep­pe aus ma­chen wür­den, so kön­ne das Tref­fen ent­schie­den nur bei Tôtes statt­fin­den. Die­se An­sicht mach­te die an­de­ren be­denk­lich. »Ob man sich nicht zu Fuss da­von ma­chen woll­te?« mein­te Loi­seau wie­der. Der Graf zuck­te die Ach­seln. »Woran den­ken Sie bei dem Schnee? Mit un­se­ren Frau­en? Und dann wür­de man so­fort die Ver­fol­gung auf­neh­men, uns ein­ho­len, und als Ge­fan­ge­ne der Gna­de und Un­gna­de der Sol­da­tes­ka über­lie­fern.« Das war rich­tig und man schwieg.

Die Da­men spra­chen von Toi­let­te; aber ein ge­wis­ser Zwang schi­en auf ih­nen zu las­ten.

Plötz­lich an der Stras­se­n­e­cke er­schi­en der Of­fi­zier. Sein ho­her schlan­ker Wuchs hob sich bei dem lich­ten Schnee noch deut­li­cher ab; er ging mit ge­bo­ge­nen Kni­en mit je­ner ei­gen­tüm­li­chen Hal­tung der Sol­da­ten, die ihre sorg­fäl­tig ge­wichs­ten Stie­fel nicht be­schmut­zen wol­len.

Er grüss­te flüch­tig die Da­men und sah hoch­mü­tig auf die Herrn, wel­che üb­ri­gens noch Selbst­ge­fühl ge­nug be­sas­sen, den Hut nicht zu lüf­ten, wenn­gleich Loi­seau schon mit der Hand nach dem Kop­fe fuhr.

Fett-Kloss war bis über die Ohren rot ge­wor­den; den drei Frau­en war es ein pein­li­ches Ge­fühl, von dem Of­fi­zier so in Ge­sell­schaft die­ser Pro­sti­tu­ier­ten ge­trof­fen zu wer­den, ge­gen die er sich so un­rit­ter­lich be­nom­men hat­te.

Das Ge­spräch dreh­te sich jetzt na­tür­lich um ihn, um sei­ne Hal­tung, sein Ge­sicht. Ma­da­me Carré-La­ma­don, die ja viel mit Of­fi­zie­ren ver­kehr­te und sie als Ken­ne­rin be­ur­teil­te, fand ihn durch­aus nicht übel. Sie be­dau­er­te so­gar, dass er kein Fran­zo­se sei. Er wür­de je­den­falls einen hüb­schen Husa­ren ab­ge­ge­ben ha­ben, in der alle Da­men sich ver­narrt hät­ten.

Zu Hau­se an­ge­kom­men wuss­te man wie­der nicht, was be­gin­nen. Schar­fe Wor­te fie­len so­gar we­gen ganz ne­ben­säch­li­cher Din­ge. Das Di­ner ver­lief rasch und fast schweig­sam. Je­der ging bald zu Bett, in der Hoff­nung die Zeit mit Schla­fen tot­zu­schla­gen.

Am an­de­ren Mor­gen er­schi­en al­les mit ab­ge­spann­ten Mie­nen und in ver­driess­li­cher Stim­mung. Die Da­men spra­chen kaum noch mit Fett-Kloss.

Eine Glo­cke läu­te­te; in der Kir­che fand eine Tau­fe statt. Fett-Kloss hat­te ein Kind, das bei Land­leu­ten in Yve­tot auf­ge­zo­gen wur­de. Sie sah es das gan­ze Jahr nicht und dach­te kaum dar­an; aber der Ge­dan­ke an die statt­fin­den­de Tau­fe er­weck­te plötz­lich in ihr ein hef­ti­ges zärt­li­ches Ver­lan­gen nach dem­sel­ben. Sie konn­te der Ver­su­chung nicht wi­der­ste­hen bei der Tau­fe zu­ge­gen zu sein.

So­bald sie fort­ge­gan­gen war, sa­hen sich alle an: man steck­te die Köp­fe zu­sam­men, denn man fühl­te un­will­kür­lich, dass jetzt end­lich eine Ent­schei­dung ein­tre­ten müs­se. Loi­seau hat­te einen Ein­fall: Man soll­te dem Of­fi­zier vor­schla­gen, Fett-Kloss al­lein da zu be­hal­ten und die üb­ri­gen ab­rei­sen zu las­sen.

Herr Fol­len­vie über­nahm die­sen Auf­trag, aber er war im Handum­dre­hen wie­der da. Der Deut­sche, der sicht­lich Men­schen­ken­ner war, hat­te ihn ein­fach an die Luft ge­setzt. Es blieb da­bei, al­len die Abrei­se zu ver­sa­gen, wenn sein Wunsch nicht er­füllt wür­de.

Da brach die pö­bel­haf­te Ge­sin­nung der Ma­da­me Loi­seau sich end­lich Bahn. »Wir kön­nen hier doch nicht bis zu un­se­rem Ende blei­ben. Da die­ses Mäd­chen nun ein­mal ein Ge­schäft dar­aus macht, mit al­ler Welt zu gehn, so fin­de ich es sehr lä­cher­lich, wenn sie sich jetzt ziert. In Rou­en nahm sie al­les mit, was kam, und wenn es ein Kut­scher war! Al­ler­dings, Ma­da­me, z. B. den Kut­scher von der Prä­fek­tur! Ich weiß es ge­nau; er kauf­te sei­nen Wein bei uns. Und heu­te, wo es sich dar­um han­delt, uns aus der Ver­le­gen­heit zu reis­sen, spielt sie die Sprö­de, die­se Rotz­na­se …! Ich fin­de mei­ner­seits, dass die­ser Of­fi­zier sich sehr an­stän­dig be­nimmt. Er hat je­den­falls län­ge­re Zeit schon fas­ten müs­sen; und da wä­ren wir drei Frau­en ihm doch je­den­falls noch lie­ber ge­we­sen. Aber nein; er be­gnügt sich mit die­sem Al­ler­welts-Mäd­chen. Er hat Rück­sicht ge­gen die ver­hei­ra­te­ten Da­men. Be­den­ken Sie nur, dass er der Herr ist. Er braucht nur zu sa­gen: »Ich will,« und sei­ne Sol­da­ten schlep­pen uns mit Ge­walt zu ihm hin.«

Ein Schau­der durch­rie­sel­te die bei­den an­de­ren Da­men. Die Au­gen der hüb­schen Ma­da­me Carré-La­ma­don glänz­ten und sie war or­dent­lich blass ge­wor­den, als be­fän­de sie sich schon in der Ge­walt des Of­fi­ziers.

Die Her­ren, wel­che sich et­was ab­seits be­spro­chen hat­ten, ka­men nä­her her­an. Loi­seau, ganz aus­ser sich, woll­te die­se »Elen­de« an Hän­den und Füs­sen ge­bun­den, dem Fein­de aus­lie­fern. Aber der Graf, der eine an­ge­bo­re­ne Di­plo­ma­ten-Na­tur be­sass, denn sei­ne Vor­fah­ren wa­ren durch drei Ge­ne­ra­tio­nen bei der Ge­sandt­schaft ge­we­sen, lieb­te nicht die Ge­walt. »Sie muss selbst die Ent­schei­dung tref­fen« sag­te er.

Nun schmie­de­te man einen Plan.

Die Da­men dräng­ten sich zu­sam­men, ihre Stim­men wur­den lei­se, und je­der gab in der all­ge­mei­nen Be­ra­tung sei­ne An­sicht kund. Es war üb­ri­gens sehr amüsant. Die­se Da­men fan­den die son­der­bars­ten Re­de­wen­dun­gen, die zar­tes­ten Aus­drücke, um die schmut­zigs­ten Din­ge zu sa­gen. Ein Un­ein­ge­weih­ter wür­de nichts ver­stan­den ha­ben; so vor­sich­tig deu­te­te man al­les an. Aber da die leich­te Scham­hül­le, wel­che jede Frau von Welt be­sitzt, nur die äus­se­re Ober­flä­che be­deckt, so ge­fie­len sie sich ei­gent­lich in die­sem när­ri­schen Aben­teu­er; es mach­te ih­nen im Grun­de des Her­zens rie­si­gen Spaß. Sie plau­der­ten von Lie­bes­sa­chen, mit den schnal­zen­den Lip­pen ei­nes Ko­ches, der ein le­cke­res Sou­per be­rei­tet.

Ihre Mun­ter­keit kehr­te von selbst zu­rück, so scherz­haft er­schi­en ih­nen schliess­lich die gan­ze Ge­schich­te. Der Graf fand so­gar den Mut zu ei­ni­gen ris­kan­ten Wit­zen, die aber so fein ge­ge­ben wa­ren, dass al­les lä­chel­te.

Loi­seau fand schon et­was der­be­re Aus­drücke, aber man war ihm nicht böse darob. Und der Ge­dan­ke, den sei­ne Frau so rück­sichts­los aus­ge­spro­chen hat­te: »Wenn es das Ge­schäft die­ses Mäd­chens nun ein­mal ist, warum macht sie hier eine Aus­nah­me?« be­herrsch­te sie alle. Die rei­zen­de Ma­da­me Carré-La­ma­don schi­en so­gar heim­lich zu den­ken, dass sie an je­ner ih­rer Stel­le hier am we­nigs­ten eine Aus­nah­me ma­chen wür­de.

Man durch­dach­te sorg­fäl­tig den An­griffs­plan, wie bei ei­ner be­la­ger­ten Fes­tung. Je­der präg­te sich die Rol­le ein, die er zu spie­len hat­te, die Be­wei­se, die er vor­brin­gen woll­te, die Kunst­grif­fe, die er an­wen­den muss­te. Man ord­ne­te den An­griff, die Kamp­fes­mit­tel und den Sturm, um die­se le­ben­de Fes­te zu zwin­gen, den Feind auf­zu­neh­men.

Nur Cor­nu­det hielt sich ab­seits; er stand die­ser Sa­che ganz fremd ge­gen­über.

Man war so in der Ver­tei­lung der Rol­len ver­tieft, dass man An­fang nicht be­merk­te, wie Fett-Kloss aus der Kir­che zu­rück­kam. Aber ein lei­ses »Pst« des Gra­fen warn­te sie noch recht­zei­tig. Bei ih­rem Er­schei­nen schwieg plötz­lich al­les still und eine ge­wis­se Ver­le­gen­heit hielt an­fangs je­den ab, sie an­zu­re­den. »War es hübsch bei der Tau­fe?« frag­te end­lich die Grä­fin, wel­che durch ihre Er­zie­hung mehr an die Dop­pel­zün­gig­keit des Sa­lons ge­wöhnt war.

Fett-Kloss, noch ganz be­wegt, schil­der­te al­les, so­wohl die Ge­sich­ter als die Hal­tung der Ein­zel­nen; so­gar das In­ne­re der Kir­che. »Es tut ei­nem zu­wei­len so gut, zu be­ten,« füg­te sie hin­zu.

Bis zum Früh­stück be­müh­ten sich die Da­men lie­bens­wür­dig ge­gen sie zu sein, um sie ver­trau­ens­se­li­ger und für ihre Vor­schlä­ge zu­gäng­li­cher zu ma­chen.

Bei Tisch be­gann man so­fort die An­nä­he­rungs­ver­su­che. Zu­nächst führ­te man ein all­ge­mei­nes Ge­spräch über den Op­fer­mut. Man führ­te Bei­spie­le aus al­ter Zeit an: Ju­dith und Ho­lo­fer­nes, dann, ohne rech­te Ver­an­las­sung Lu­cre­cia und Sex­tus; Kleo­pa­tra, die ihre zahl­rei­chen Fein­de einen nach dem an­de­ren in ih­rem Bett zu ih­ren Skla­ven um­wan­del­te. Dann tisch­te man eine Ge­schich­te auf, so fan­tas­tisch, wie sie nur im Ge­hirn die­ser un­wis­sen­den Mil­lio­näre ent­ste­hen konn­te, wo­nach näm­lich die Rö­me­rin­nen bei Ka­pua den Han­ni­bal und mit ihm sei­ne Lieu­ten­ants und die Scha­ren sei­ner Söld­ner in ih­ren Ar­men ein­ge­schlä­fert hät­ten. Man führ­te der Rei­he nach alle Frau­en an, die einen Ero­be­rer auf sei­ner Sie­ges­lauf­bahn ab­hiel­ten, ih­ren Leib zum Schlacht­feld mach­ten, ihn als Waf­fe, als Mit­tel der Herr­schaft ver­wen­de­ten und durch ihre he­ro­i­schen Lie­bes­op­fer die Welt von ei­nem ver­hass­ten schänd­li­chen We­sen be­frei­ten; die ihre Keusch­heit der Ra­che und der Pf­licht op­fer­ten.

Man sprach so­gar mit ver­schlei­er­ten Aus­drücken von je­ner vor­neh­men Eng­län­de­rin, die sich eine furcht­ba­re an­ste­cken­de Krank­heit ein­imp­fen ließ um sie auf Bo­na­par­te zu über­tra­gen, der nur durch ein Wun­der der An­ste­ckung ent­ging, in­dem ihm zur Stun­de des ge­fähr­li­chen Ren­dez­vous plötz­lich die Man­nes­kraft fehl­te.

Al­les die­ses er­zähl­te man in ganz leich­ter und zu­fäl­li­ger Wei­se; nur zu­wei­len brach man ab­sicht­lich in lau­ten Bei­fall aus, um zur Nach­ei­fe­rung an­zu­spor­nen. Man hät­te schliess­lich glau­ben sol­len, dass die ein­zi­ge Auf­ga­be der Frau hier auf Er­den, ein ewi­ges Op­fer ih­rer Per­son, eine be­stän­di­ge Hin­ga­be an die Lau­nen der Sol­da­tes­ka sei.

Die bei­den Or­dens­schwes­tern schie­nen nichts zu ver­ste­hen; sie wa­ren in tie­fe Ge­dan­ken ver­sun­ken. Fett-Kloss sag­te nichts.

Man ließ ihr den Nach­mit­tag über Zeit zum Nach­den­ken. Aber statt sie, wie bis­her »Ma­da­me« zu nen­nen, sag­te man jetzt »mein Fräu­lein« zu ihr, ohne dass man sich selbst über den Grund dazu Re­chen­schaft gab. Aber es war, als hät­te man die Ach­tung vor ihr um einen Grad her­un­ter­set­zen, ihr das Ge­fühl ih­rer Schan­de nä­her le­gen wol­len.

In dem Au­gen­blick, wo die Sup­pe auf­ge­tra­gen wur­de, er­schi­en Herr Fol­len­vie. »Der preus­si­sche Of­fi­zier lässt Fräu­lein Eli­sa­beth Rous­set fra­gen, ob sie ihre An­sicht noch nicht ge­än­dert hat?« wie­der­hol­te er sei­ne ste­hen­de Phra­se.

»Nein, mein Herr,« ant­wor­te­te Fett-Kloss tro­cken. Aber beim Es­sen fiel die Ge­sell­schaft aus der Rol­le. Loi­seau brach­te ei­ni­ge schlecht­ge­wähl­te Re­dens­ar­ten vor. Je­der klopf­te sich an die Stirn und such­te nach ir­gend­wel­chen neu­en Bei­spie­len, als die Grä­fin, ohne Über­le­gung viel­leicht, in dem un­be­stimm­ten Be­dürf­nis­se Trost in der Re­li­gi­on zu su­chen, die äl­te­re der Or­dens­schwes­tern nach den großen Ta­ten aus dem Le­ben der Hei­li­gen frag­te. Da hat­ten frei­lich man­che von ih­nen Din­ge be­gan­gen, die nach un­se­ren Be­grif­fen ein Ver­bre­chen ge­we­sen wä­ren. Aber die Kir­che bil­lig­te zwei­felsoh­ne sol­che Din­ge, wenn sie zur Ehre Got­tes oder zum Hei­le des Nächs­ten voll­bracht wa­ren. Das war ein kräf­ti­ges Ar­gu­ment, von dem die Grä­fin ih­ren Nut­zen zog. Je­den­falls brach­te ihr die Schwes­ter einen ganz un­ver­hoff­ten mäch­ti­gen Bei­stand, moch­te sie nun be­ab­sich­tigt ha­ben ihr zu hel­fen, oder moch­te sie rein ohne das ge­rings­te Ver­ständ­nis für die Sach­la­ge ihre Mei­nung aus­spre­chen. Was sie da sag­te war über je­den Zwei­fel er­ha­ben; ihr Glau­be war un­er­schüt­ter­lich wie ein Fels; ohne Zö­gern, ohne Ge­wis­sens­bis­se gab sie ihre Op­fer­wil­lig­keit zu er­ken­nen. Sie be­griff das Op­fer Abra­hams, wie sie sag­te, voll­stän­dig; denn sie wür­de un­be­dingt Va­ter und Mut­ter tö­ten, wenn sie den Be­fehl des Him­mels dazu er­hiel­te. Ih­rer Mei­nung nach kön­ne Gott nichts miss­fal­len, was zu ei­nem löb­li­chen Zwe­cke ge­sch­ehe. Die Grä­fin hat­te ih­ren Vor­teil wahr­ge­nom­men, und sie, ohne dass sie es merk­te, eine er­bau­li­che Um­schrei­bung des al­ten Grund­satzes »der Zweck hei­ligt die Mit­tel« aus­füh­ren las­sen.

»Sie den­ken also Schwes­ter,« frag­te sie »dass Gott je­des Op­fer an­nimmt, und die Tat ver­zeiht, wenn der Be­weg­grund ein rei­ner ist?«

»Wer woll­te das be­zwei­feln, Ma­da­me? Eine an sich ta­delns­wer­te Hand­lung wird durch die Ab­sicht, die uns lei­tet, ver­dienst­lich.«

So fuh­ren sie noch lan­ge fort, den Wil­len Got­tes aus­ein­an­der­zu­set­zen, sei­ne Ent­schei­dun­gen ge­wis­ser­mas­sen vor­weg zu neh­men; sie schrie­ben ihm schliess­lich ein In­ter­es­se an Din­gen zu, die ihn in der Tat gar nichts an­gin­gen.

Al­les die­ses war na­tür­lich ge­schickt ver­schlei­ert; aber je­des Wort der ehr­wür­di­gen Schwes­ter leg­te eine Bre­sche in die Wi­der­stands­kraft der Pro­sti­tu­ier­ten. Dann lenk­te die Un­ter­hal­tung sich auf das Or­dens­haus, die Obe­rin, die Schwes­ter selbst und ihre klei­ne Nach­ba­rin, die Schwes­ter Ni­ce­pho­ra. Man hat­te sie nach Ha­vre be­ru­fen, um dort im La­za­reth die Pfle­ge der Blat­tern­kran­ken zu über­neh­men. Sie be­schrieb das Aus­se­hen die­ser ar­men Sol­da­ten und schil­der­te alle Ein­zeln­hei­ten der Krank­heit. Und wäh­rend sie nun durch die Lau­ne die­ses Preus­sen zu­rück­ge­hal­ten wür­den, stür­be viel­leicht eine gan­ze An­zahl Fran­zo­sen, die durch ihre Pfle­ge hät­ten ge­ret­tet wer­den kön­nen. Die Pfle­ge kran­ker Sol­da­ten sei ihre Spe­zia­li­tät. Sie wäre in der Krim, in Ita­li­en, in Ös­ter­reich mit­ge­we­sen. Wäh­rend sie so ih­ren Rei­se­ge­fähr­ten er­zähl­te, ent­pupp­te sie sich vor de­ren Au­gen plötz­lich als eine je­ner wack­ren mu­ti­gen Or­dens­frau­en, die da­für ge­schaf­fen zu sein schei­nen, im Kampf­ge­wühl die Ver­wun­de­ten auf­zu­he­ben und mit ei­nem Wort die ro­he­s­ten Schmier­fin­ken zum Ge­hor­sam zu brin­gen. Sie war eine ech­te Schwes­ter Ra-ta-plan, de­ren ge­furch­tes mit zahl­lo­sen Lö­chern be­deck­tes Ge­sicht selbst ein Bild der Ver­wüs­tung des Krie­ges bot.


Als sie ge­en­det hat­te, sprach kei­ner ein Wort; so aus­ge­zeich­net schie­nen ihre Aus­füh­run­gen ge­wirkt zu ha­ben.

So­fort nach dem Es­sen be­gab man sich schnell hin­auf und erst ziem­lich spät am an­de­ren Mor­gen ka­men die Rei­sen­den wie­der zu­sam­men.

Das Früh­stück ver­lief ru­hig. Man woll­te das Sa­men­korn, das die alte Schwes­ter aus­ge­streut hat­te, erst auf­ge­hen las­sen, um dann die Frucht umso bes­ser ein­zu­heim­sen.

Die Grä­fin schlug Nach­mit­tags einen Spa­zier­gang vor. Wie ver­ab­re­det, nahm der Graf den Arm von Fett-Kloss und blieb mit ihr et­was hin­ter den an­de­ren zu­rück.

Er sprach mit ihr in ver­trau­li­chem, vä­ter­li­chem et­was her­ab­las­sen­dem Tone, wie ihn ge­setz­te Her­ren bei sol­chen Mäd­chen gern an­wen­den. Er nann­te sie »mein Kind,« be­han­del­te sie zu­gleich aber ein we­nig von oben her­ab, sich mit sei­ner un­be­streit­ba­ren Ehren­haf­tig­keit brüs­tend.

»Sie zie­hen also vor,« sag­te er di­rekt auf sein Ziel los­steu­ernd, »uns mit Ih­nen zu­gleich all den Ge­walt­tä­tig­kei­ten aus­zu­set­zen, die eine Schlap­pe der preus­si­schen Trup­pen zur Fol­ge ha­ben muss, statt in eine je­ner klei­nen Ge­fäl­lig­kei­ten ein­zu­wil­li­gen, die Sie doch sonst im Le­ben so oft ge­währt ha­ben?«

Fett-Kloss ant­wor­te­te nichts.

Jetzt fass­te er sie bei ih­rer Gut­her­zig­keit, bei ih­rer Ver­nunft, bei ih­rem wei­chen Ge­müt an. Er selbst wis­se recht gut, stets der »Herr Graf« zu blei­ben und doch da­bei höf­lich, ent­ge­gen­kom­mend und lie­bens­wür­dig zu sein, wenn es er­for­der­lich wäre. Er pries den Dienst, den sie ih­nen leis­ten wür­de, und sprach von ih­rer Er­kennt­lich­keit. »Und dann weißt Du, mein Kind,« fuhr er sie plötz­lich du­zend fort, »er dürf­te sich rüh­men, ein Mäd­chen be­ses­sen zu ha­ben, wie er sie bei sich zu Hau­se wohl sel­ten fin­den wird.«

Fett-Kloss ant­wor­te­te wie­der nichts und eil­te der Ge­sell­schaft nach.

So­bald sie wie­der zu Hau­se ka­men, flüch­te­te sie auf ihr Zim­mer und kam nicht wie­der zum Vor­schein. Un­ten war man in der höchs­ten Auf­re­gung«. Was wür­de sie be­gin­nen? Welch ein Miss­ge­schick, wenn sie sich end­gül­tig wei­gern wür­de.

Zu Di­ner-Stun­de er­war­te­te man sie ver­geb­lich. Herr Fol­len­vie er­schi­en und ver­kün­de­te, dass Fräu­lein Rous­set sich un­wohl füh­le und man sich nur zu Ti­sche set­zen möch­te. Al­les spitz­te die Ohren. »Ist es so weit?« frag­te der Graf den Wirt ganz lei­se. »Ja­wohl.« Er hü­te­te sich sei­nen Ge­fähr­ten laut et­was zu sa­gen; aber er mach­te ih­nen ein leich­tes Zei­chen mit dem Kop­fe. Ein Seuf­zer der Er­leich­te­rung ent­stieg je­der Brust; alle Ge­sich­ter hell­ten sich auf. »Sap­per­lot!« schrie Loi­seau »ich gebe Sekt, wenn es hier wel­chen gibt,« Ma­da­me Loi­seau fiel vor Schreck fast auf den Rücken, als gleich dar­auf der Wirt mit vier Fla­schen un­term Arm zu­rück­kam. Je­der war jetzt lus­tig und mit­teil­sam ge­wor­den; eine aus­ge­las­se­ne Freu­de be­weg­te al­ler Her­zen. Dem Gra­fen er­schi­en jetzt plötz­lich Frau Carré-La­ma­don rei­zend und der Fa­bri­kant sag­te der Grä­fin al­ler­lei Ar­tig­kei­ten. Die Un­ter­hal­tung wur­de leb­haft und mit al­ler­lei Scher­zen ge­würzt.

»Still!« rief plötz­lich Loi­seau mit ängst­li­cher Mie­ne die Hän­de auf­he­bend. Al­les schwieg über­rascht, bei­na­he er­schreckt. Dann spitz­te er die Ohren mach­te »Pst« mit bei­den Hän­den, hob die Au­gen zur De­cke em­por, lausch­te noch­mals und sag­te dann sei­ne ge­wöhn­li­che Mie­ne wie­der an­neh­mend: »Be­ru­hi­gen Sie sich; es geht al­les gut.«

Man ver­stand ihn zu­erst nicht; aber dann fing al­les an zu la­chen.

Nach ei­ner hal­b­en Stun­de wie­der­hol­te er den­sel­ben Witz und so mehr­mals noch im Ver­lau­fe des Abends. Er tat als ob er je­mand im obe­ren Stock an­rie­fe, ihm zwei­deu­ti­ge gute Ratschlä­ge gebe, wie sie in sei­nem Wein­rei­sen­den-Ge­hirn ent­stan­den. Zu­wei­len mur­mel­te er auch ein »Ar­mes Mäd­chen!« zwi­schen den Zäh­nen, oder er rief: »In­fa­mer Preus­se, pack Dich.« Hin und wie­der, wenn nie­mand dar­an dach­te, rief er mit zit­tern­der Stim­me: »Ge­nug, ge­nug!« und füg­te wie im Selbst­ge­spräch hin­zu: »Hof­fent­lich se­hen wir sie noch wie­der; wenn er sie nur nicht um­bringt, der Elen­de!«

Ob­schon die­se Scher­ze wahr­haf­tig recht ge­schmack­los wa­ren, so amü­sier­te sich doch al­les und kei­ner nahm sie ihm übel. Denn die Ent­rüs­tung rich­tet sich un­will­kür­lich nach der Um­ge­bung, und bei je­nen war die Luft all­mäh­lich mit zwei­deu­ti­ger Vor­stel­lun­gen ge­la­den.

Beim Des­sert fin­gen so­gar die Da­men an geist­rei­che pi­kan­te An­spie­lun­gen zu ma­chen, ihre Au­gen glänz­ten nach dem reich­li­chen Wein­ge­nus­se. Der Graf, der selbst bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten sein wür­de­vol­les Be­neh­men zu wah­ren wuss­te, brach­te einen geist­rei­chen Ver­gleich über das Ende ei­nes Win­ter­auf­ent­hal­tes am Nord­pol und die Freu­de der Schiff­brü­chi­gen, wel­che den Weg nach dem Sü­den wie­der of­fen sa­hen.

»Ich trin­ke auf un­se­re Be­frei­ung,« rief Loi­seau et­was an­ge­trun­ken sein Glas er­he­bend. Alle spran­gen auf und sties­sen an. Selbst die bei­den Or­dens­schwes­tern lies­sen sich durch die Hei­ter­keit der an­de­ren Da­men ver­lei­ten, von dem Cham­pa­gner zu kos­ten, den sie noch nie ge­trun­ken hat­ten. Sie mein­ten, er schme­cke wie Brau­se­li­mo­na­de, nur viel fei­ner.

»Scha­de, dass kein Kla­vier vor­han­den ist«; mein­te Loi­seau, »sonst könn­ten wir eine Qua­dril­le tan­zen.«

Cor­nu­det hat­te fast kein Wort ge­spro­chen und kaum eine Mie­ne ver­zo­gen. Er schi­en viel­mehr in erns­te Ge­dan­ken ver­sun­ken und zerr­te zu­wei­len mit grim­mi­ger Mie­ne an sei­nem großen Bar­te, als woll­te er ihn noch län­ger zie­hen. Als man end­lich um Mit­ter­nacht auf­brach, patsch­te ihm Loi­seau, der et­was tur­ke­lig war, auf den Bauch und sag­te lal­lend: »Sie sind heu­te nicht bei Lau­ne, Bür­ger; »Sie spre­chen ja kein Wort.« Cor­nu­det dreh­te sich un­wil­lig her­um, mass die Ge­sell­schaft mit ei­nem zor­ni­gen wil­den Blick und sag­te: »Ich er­klä­re Ih­nen of­fen, dass Sie eine große Ge­mein­heit be­gan­gen ha­ben.« Er stand auf, und ging hin­aus fort­wäh­rend »eine große Ge­mein­heit!« mur­melnd.

Im ers­ten Au­gen­blick war man ver­blüfft. Selbst Loi­seau stier­te mit dum­men Au­gen vor sich hin. Aber dann ge­wann er sei­ne mun­te­re Stim­mung wie­der und sag­te plötz­lich la­chend: »Sie sind zu sau­er, ja, zu sau­er.« Als man ihn nicht ver­stand, er­zähl­te er »die Ge­heim­nis­se des Gan­ges«, wo­bei er sich vor La­chen aus­schüt­ten woll­te. Auch die Da­men amü­sier­ten sich köst­lich. Der Graf und Frau Carré-La­ma­don lach­ten Trä­nen. Sie fan­den es un­glaub­lich.

»Wie? Sie wis­sen ge­wiss? Er woll­te …«

»Ich sage Ih­nen ja, dass ich es ge­se­hen habe.«

»Und sie hat sich ge­wei­gert?«

»Weil der Preus­se im Zim­mer ne­ben­an wohnt.«

»Un­mög­lich!«

»Mein Wort dar­auf.«

Der Graf er­stick­te fast; der Fa­bri­kant hielt sich den Bauch mit bei­den Hän­den.

»Und des­halb, wis­sen Sie«, fuhr Loi­seau fort, »ist er heu­te Abend nicht zu­frie­den mit ihr, durch­aus nicht zu­frie­den.«

Alle drei bra­chen auf, sie wa­ren krank vor La­chen und glaub­ten nicht mehr wei­ter zu kön­nen.

Oben trenn­te man sich. Beim Zu­bett­ge­hen mach­te Ma­da­me Loi­seau ih­ren Mann dar­auf auf­merk­sam, dass die­ses »Kücken,« wie Sie die klei­ne Ma­da­me Carré-La­ma­don nann­te, den gan­zen Abend vor Neid ver­gan­gen sei. »Du weißt, dass die Frau­en, die es nun ein­mal mit der Uni­form hal­ten, es eben so gern sich vom Preus­sen wie Fran­zo­sen ge­fal­len las­sen. Gro­ßer Gott! Ist das nicht eine Schan­de?«

Und die gan­ze Nacht durch hör­te man auf dem Gan­ge al­ler­hand leich­te, kaum wahr­nehm­ba­re Geräusche, wie Seuf­zer, wie das Tap­pen von blos­sen Füs­sen, wie ein lei­ses Knacken. Je­den­falls schi­en die Ge­sell­schaft spät ein­zu­schla­fen, denn noch lan­ge schim­mer­te Licht un­ter den Tür­rit­zen her. Der Cham­pa­gner hat so sei­ne Ei­gen­tüm­lich­kei­ten. Er soll einen un­ru­hi­gen Schlaf ver­ur­sa­chen.

Am an­de­ren Mor­gen strahl­te die Son­ne hell über die glän­zen­de Schnee­de­cke. Der Om­ni­bus stand nun end­lich be­spannt vor der Türe. Eine Schar wei­ßer Tau­ben, die dich­ten Fe­dern auf­wärts sträu­bend, mit ro­tem, in der Mit­te schwarz punk­tier­tem Auge, wan­del­te gra­vi­tä­tisch zwi­schen den Bei­nen der sechs Pfer­de um­her und such­te ihre Nah­rung in dem rau­chen­den Dün­ger der­sel­ben.

Der Kut­scher in dich­tem Schafs­pelz rauch­te auf dem Bock sein Pfeif­chen, und die Rei­sen­den wa­ren be­schäf­tigt, ihre Vor­rä­te für den Rest des We­ges un­ter­zu­brin­gen.

Man war­te­te nur noch auf Fett-Kloss. End­lich er­schi­en sie.

Sie war et­was ängst­lich und ver­le­gen; schüch­tern nä­her­te sie sich ih­ren Rei­se­ge­fähr­ten, wel­che sich alle gleich­zei­tig um­wand­ten, als hät­ten sie sie nicht be­merkt. Der Graf nahm wür­de­voll den Arm sei­ner Gat­tin und führ­te sie hin­weg, wie um sie vor ei­ner un­rei­nen Berüh­rung zu be­wah­ren.

Über­rascht blieb Fett-Kloss ste­hen. Dann nä­her­te sie sich, all’ ih­ren Mut zu­sam­men­neh­mend, mit ei­nem lei­se ge­mur­mel­ten »Gu­ten Mor­gen, Ma­da­me!« der Frau des Fa­bri­kan­ten. Die an­de­re nick­te hoch­mü­tig ein we­nig mit dem Kop­fe und be­glei­te­te die­sen Gruss mit ei­nem Blick be­lei­dig­ter Tu­gend. Alle Welt schi­en be­schäf­tigt und hielt sich von ihr fern, als trü­ge sie in ih­ren Klei­dern einen An­ste­ckungs­stoff mit sich her­um. Dann stürz­te man sich auf den Wa­gen, wo sie al­lein als letz­te an­kam und still­schwei­gend ih­ren al­ten Platz wie­der ein­nahm.

Man schi­en sie nicht zu ken­nen; aber Frau Loi­seau, die sie mit Ent­rüs­tung von wei­tem be­trach­te­te, sag­te zu ih­rem Gat­ten: »Glück­li­cher­wei­se sit­ze ich nicht ne­ben ihr.«

Der große Kas­ten setz­te sich in Be­we­gung und die Rei­se be­gann aufs Neue.

An­fangs stock­te das Ge­spräch. Fett-Kloss wag­te nicht die Au­gen auf­zu­schla­gen. Sie fühl­te sich eben­so ent­rüs­tet über das Be­neh­men ih­rer Rei­se­ge­fähr­ten, wie er­nied­rigt durch den Ge­dan­ken sich hin­ge­ge­ben zu ha­ben, be­schmutzt zu sein durch die Küs­se die­ses Preus­sen, in des­sen Arme man sie ge­walt­sam ge­führt hat­te.

»Sie ken­nen, glau­be ich, Ma­da­me d’Étrel­les?« un­ter­brach die Grä­fin zu Frau Carré-La­ma­don ge­wen­det plötz­lich das all­ge­mei­ne Schwei­gen.

»Ja­wohl; es ist eine Freun­din von mir.«

»Welch’ aus­ge­zeich­ne­te Frau!«

»Be­zau­bernd. Wirk­lich eine sel­te­ne Er­schei­nung, sehr ge­bil­det üb­ri­gens und Künst­le­rin bis auf die Fin­ger­spit­zen. Sie singt bril­lant und zeich­net wun­der­hübsch.«

Der Fa­bri­kant plau­der­te mit dem Gra­fen und zwi­schen dem Klir­ren der Fens­ter­schei­ben hör­te man zu­wei­len die Wor­te: »Ku­pon – Wech­sel – auf Ziel – Prä­mie.«

Loi­seau, der das alte, im Lau­fe von fünf Jah­ren schwarz ge­wor­de­ne Kar­ten­spiel aus dem Ho­tel mit­ge­nom­men hat­te, be­gann mit sei­ner Frau eine Par­tie Be­sigue.

Die bei­den Schwes­tern be­te­ten wie­der ih­ren Ro­sen­kranz, mach­ten zu­sam­men das Kreuz­zei­chen, und plötz­lich be­gan­nen ihre Lip­pen sich ra­scher zu be­we­gen; sie be­eil­ten sich ihr Ge­bet zu be­en­den. Von Zeit zu Zeit küss­ten sie eine Me­dail­le, be­kreu­zig­ten sich aufs Neue, und be­gan­nen dann aber­mals ihr un­aus­ge­setz­tes schnel­les Ge­flüs­ter.

Cor­nu­det träum­te still vor sich hin.

Nach Ver­lauf von drei Stun­den räum­te Loi­seau die Kar­ten zu­sam­men. »Ich wer­de hung­rig«, sag­te er.

Sei­ne Frau hol­te ein zu­sam­men­ge­schnür­tes Packet her­vor, dem sie ein Stück Kalbs­bra­ten ent­nahm. Sie schnitt fei­ne Scheib­chen da­von her­un­ter und alle bei­de be­gan­nen zu es­sen.

»Ich däch­te, wir mach­ten es auch so,« sag­te die Grä­fin. Man stimm­te ihr bei, und sie pack­te die Le­bens­mit­tel für die bei­den an­de­ren Fa­mi­li­en aus. Es kam ei­nes je­ner lan­gen Ge­fäs­se zum Vor­schein, auf de­ren Por­zel­lan­de­ckel ein Hase ab­ge­bil­det ist zum Zei­chen, dass sich eine Ha­sen-Pas­te­te dar­un­ter be­fin­det, ein le­cke­res Ge­richt, wo wei­ße Fett­strei­fen die brau­nen, mit fein­ge­hack­tem an­de­ren Fleisch ver­misch­ten Stücke des Wild­prets durch­zie­hen. Dann kam noch ein hüb­sches Stück Schwei­zer­kä­se, in ein Jour­nal ein­ge­wi­ckelt, von dem die Über­schrift »Ver­misch­tes« an der feuch­ten Krus­te haf­ten ge­blie­ben war.

Die bei­den Schwes­tern pack­ten ein Stück Schlack­wurst aus, das stark nach Knob­lauch roch. Cor­nu­det, der mit bei­den Hän­den gleich­zei­tig in sei­ne Rock­ta­schen lang­te, zog aus der einen vier har­te Eier und aus der an­de­ren ein Stück Brot her­vor. Er lös­te die Scha­le, warf sie vor sei­nen Füs­sen ins Stroh und biss wäh­rend­dem in ein Ei, wo­bei gel­be Krüm­chen in sei­nen großen Bart fie­len und dort wie Ster­ne haf­ten blie­ben.

Fett-Kloss hat­te bei der Hast, mit der sie ihr Früh­stück ver­zehrt hat­te, an nichts den­ken kön­nen. Vor Zorn keu­chend, be­trach­te­te sie jetzt alle die Men­schen, die so be­hag­lich as­sen. An­fangs er­griff sie ein wü­ten­der Är­ger und sie öff­ne­te schon den Mund, um ih­nen un­ter ei­nem Strom von Schmä­hun­gen ihre Ge­mein­heit vor­zu­wer­fen, aber der Zorn er­stick­te sie, so­dass sie nicht spre­chen konn­te.

Nie­mand sah sie an, nie­mand küm­mer­te sich um sie. Sie sah sich mit Ver­ach­tung von die­sen ehr­ba­ren To­ren be­han­delt, die sie erst ge­op­fert hat­ten und sie nun wie et­was un­sau­be­res un­nüt­zi­ges bei Sei­te war­fen. Sie dach­te an ih­ren großen Korb mit Lecker­bis­sen, die sie alle hau­fen­wei­se ver­schlun­gen hat­ten, an ihre bei­den ge­lee­glän­zen­den Hüh­ner, an ihre Pas­te­ten, ihre Bir­nen, ihre vier Fla­schen Bor­deaux. End­lich riss ihr der Ge­dulds­fa­den und sie fühl­te, wie ihr die Trä­nen in die Au­gen ka­men. Sie mach­te furcht­ba­re An­stren­gun­gen, ge­brauch­te ihr Schnupf­tuch, schluck­te wie Kin­der die Trä­nen her­un­ter; aber sie ka­men im­mer wie­der, füll­ten ihre Au­gen, und bald roll­ten zwei große Trop­fen über ihre Wan­gen. Im­mer wei­te­re folg­ten und ran­nen wie Was­ser­trop­fen, die durch das Ge­stein si­ckern, auf die hoch­ge­wölb­te Brust her­ab. Sie blieb mit star­rem Blick, blei­chen Ant­lit­zes ge­ra­de sit­zen, in der Hoff­nung, dass man sie nicht an­schau­en wür­de.

Aber die Grä­fin hat­te es be­merkt, und mach­te ih­rem Man­ne ein Zei­chen. Er zuck­te die Ach­seln, als wenn er sa­gen woll­te: »Was willst Du; ich kann nichts da­für. Ma­da­me Loi­seau hat­te ein stil­les tri­um­phie­ren­des Lä­cheln.

»Sie weint über ihre Schan­de,« mur­mel­te sie.

Die bei­den Schwes­tern hat­ten ihr Ge­bet wie­der auf­ge­nom­men, nach­dem sie den Rest der Schlack­wurst wie­der ein­ge­wi­ckelt hat­ten.

Cor­nu­det, der sei­ne Eier ver­dau­te, streck­te sei­ne lan­gen Bei­ne bis un­ter die Bank auf der an­de­ren Sei­te, leg­te sich zu­rück, kreuz­te die Arme, lä­chel­te wie je­mand, dem plötz­lich ein gu­ter Witz ein­fällt und summ­te die »Mar­seil­lai­se« vor sich hin.

Alle Ge­sich­ter ver­fins­ter­ten sich. Die­ses Volks­lied ge­fiel sei­nen Nach­barn ent­schie­den nicht. Sie wur­den ner­vös, reiz­bar und sa­hen aus, als ob sie heu­len woll­ten wie die Hun­de bei den Tö­nen ei­nes Lei­er­kas­tens. Er be­merk­te es; aber nun hör­te er erst recht nicht auf. Zu­wei­len ließ er ganz laut die Wor­te er­klin­gen:

Hei­li­ge Lie­be des Va­ter­lan­des

Füh­re, stüt­ze un­sern Rä­cher­arm,

Frei­heit, teu­re Frei­heit,

Kämpf mit Dei­ner Strei­ter Schwarm!

Da der Schnee hart ge­wor­den war, fuhr man viel schnel­ler. Bis Diep­pe, wäh­rend der lan­gen trü­ben Fahrt, zwi­schen den Stös­sen des Wa­gens, beim An­bruch des Abends bis in der tiefs­ten Fins­ter­nis, setz­te er sein ein­för­mi­ges Ra­che­lied in wil­dem Ei­gen­sin­ne fort. Er zwang sie förm­lich, mit ih­rem mü­den Geis­te sei­nem Ge­san­ge von An­fang bis zu Ende zu fol­gen, sich je­des ein­zel­ne der bis zum Über­druss ge­hör­ten Wor­te ein­zu­prä­gen.

Fett-Kloss wein­te im­mer wei­ter. Zu­wei­len er­tön­te zwi­schen den ein­zel­nen Stro­phen in der Fins­ter­nis ein lau­tes Auf­schluch­zen, das sie nicht hat­te zu­rück­hal­ten kön­nen.

*

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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