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Fett-Kloss
ОглавлениеMehrere Tage hintereinander waren die Überreste der geschlagenen Armee durch die Stadt gezogen. Eine Truppe konnte man das schon nicht mehr nennen, sondern höchstens eine zügellose Horde. Den Bart lang und schmutzig, die Uniform zerfetzt, ohne Fahnen, ohne Ordnung zogen die Leute in lässiger Haltung dahin. Alle schienen von der Überanstrengung ermattet, keines Gedankens, keiner Entschliessung fähig, nur noch aus Gewohnheit weiter zu marschieren; sobald Halt gemacht wurde, sanken sie vor Ermüdung um. Sie bestanden in der Hauptsache aus Mobilgarden, friedlichen Leuten, harmlosen Spiessbürgern, die unter der Last des Gewehres zusammenknickten, kleinen muntren Schwätzern, zum Bramarbasieren und jeder Art von Begeisterung gern geneigt, ebenso bereit zum Angriff wie zur Flucht. Darunter bemerkte man dann hin und wieder einige Rothosen, die Trümmer einer in der Hauptschlacht aufgeriebenen Division, die dunklen Uniformen der Artilleristen, in Reih und Glied mit der Infanterie; und ganz zuweilen den blanken Helm eines Dragoners der mit schweren Tritt nur mühsam dem Tempo der leichten Truppen folgte.
Mehrere Franktireurs-Legionen mit pomphaften Bezeichnungen, wie »Rächer der Schmach« – »Bürger des Grabes« – »Genossen des Todes« folgten jetzt; es waren die reinen Banditengesichter.
Ihre Führer, ehemalige Tuch- oder Getreidehändler, Kerzen- und Seifen-Krämer, die der Zufall zu Kriegern gestempelt hatte und die ihres Geldes oder ihrer langen Schnurrbärte wegen zu Offizieren gewählt wurden, plauderten, waffenstrotzend mit Tressen und Borten überladen, mit weithinschallender Stimme, erörterten ihre Feldzugspläne und taten, als ob sie mit ihrem großen Maule ganz allein das unglückliche Vaterland retten könnten. Vor ihren eigenen Leuten, richtigem Galgengesindel, ebenso aufgelegt zum Kampf, wie zum Rauben und Plündern, schienen sie jedoch einen gewissen Respekt zu haben.
Die Preussen würden, wie es hiess, demnächst in Rouen einziehen.
Die Nationalgarde, die seit zwei Monaten mit großer Vorsicht die umliegenden Wälder durchstreifte und dabei zuweilen ihre eigenen Posten niederschoss, die sich sofort gefechtsbereit machte, wenn nur ein Kaninchen durchs Gebüsch huschte, war heimgekehrt. Ihre Waffen, ihre Uniformen, ihr ganzer Aufputz mit dem sie sonst auf drei Meilen in der Runde die Strassengräben verzierte, waren plötzlich verschwunden.
Die letzten französischen Soldaten überschritten endlich die Seine um über Saint-Sever und Bourg-Achard sich nach Pont-Audemer zu wenden. Ihnen folgte der verzweifelte General, der mit diesen gelockerten Verbänden nichts mehr anfangen konnte und selbst von dem Zusammenbruche eines Volkes mit fortgerissen wurde, das, gewohnt zu siegen, trotz seiner sprichwörtlichen Tapferkeit schmählich geschlagen war. Er ging zu Fuss zwischen zwei Ordonnanz-Offizieren.
Dann verbreitete sich tiefe Ruhe, eine furchtsame, schweigende Erwartung in der Stadt. Ängstlich harrten die besorgten Bürger auf die Ankunft der Sieger; sie zitterten bei dem Gedanken, dass man ihren Bratspiess oder ihr großes Küchenmesser für eine Waffe ansehen könnte.
Alles Leben schien zu stocken, die Läden waren geschlossen, stumm lagen die Strassen da. Hin und wieder schlich ein Bürger, bedrückt von der schwülen Stille hastig längs der Häuser.
Diese Erwartung war so beängstigend, dass man die Ankunft des Feindes fast herbeisehnte.
Am Nachmittage des Tages, der dem Abmarsch der Franzosen folgte, tauchten plötzlich einige Ulanen auf und ritten im schnellsten Tempo durch die Strassen der Stadt. Dann stieg etwas später eine dunkle Masse vom St. Katharinenberge herunter, während auf den Strassen von Darnetal und Boisguillaume zwei weitere Abteilungen in die Stadt eindrangen. Die Avantgarden dreier Korps vereinigten sich gleichzeitig auf dem Platz vor dem Rathause. Auf allen angrenzenden Strassen kamen die deutschen Truppen heran, und das Pflaster erdröhnte unter dem festen gleichmässigen Tritt der Bataillone.
Längs der Häuser, die verlassen und wie ausgestorben dalagen, ertönten in tiefen Kehllauten fremdartige Kommandorufe. Hinter den geschlossenen Läden betrachteten ängstliche Augen die Sieger, die nun durch »Kriegsrecht« Herren der Stadt, Herren von Eigentum und Leben geworden waren. Die Einwohner hatten in ihren dunklen Zimmern einen ähnlichen peinlichen Eindruck, wie ihn ein Erdbeben, eine furchtbare Erschütterung des Hauses hervorruft, der gegenüber alle Vorsichtsmassregeln und alle menschlichen Kräfte wirkungslos sind. Dasselbe Gefühl ergreift uns stets, wenn wir sehen, dass alle Ordnung gestört ist, dass jede Sicherheit schwindet, und dass alles was sonst menschliche und natürliche Gesetze beschützen, sich in Händen einer unbekannten rohen Gewalt befindet. Ein Erdbeben, das eine ganze Einwohnerschaft unter den Trümmern der Häuser begräbt, ein Fluss, der aus seinen Ufern tritt und mit seinen Wogen die Leichname ertrunkener Landleute, die Kadaver von Rindvieh und Balken-Trümmer dahinwälzt, oder eine siegreiche Armee endlich, welche die Verteidiger niedermetzelt, die friedfertigen Bürger als Gefangene fortschleppt, welche im Namen des Schwertes raubt und Gott mit dem Donner der Kanonen feiert, sind alles schreckliche Prüfungen, die jeden Glauben an die ewige Gerechtigkeit vernichten, jede Hoffnung zerstören, die man uns auf den Schutz des Himmels und die Klugheit der Menschen einzuflössen sucht.
Bald klopften an jeder Haustüre kleine Abteilungen, die dann im Innern verschwanden. Es war die Einquartierung, die der Besitznahme folgte. Den Besiegten erwuchs jetzt die Pflicht, sich den Siegern gefällig zu zeigen.
Nach einiger Zeit, als der erste Schrecken einmal überwunden war, trat aufs Neue eine gewisse Beruhigung ein. In vielen Familien ass der preussische Offizier mit bei Tische. Häufig zeigte er sich als wohlerzogener Mann, der aus Höfligkeit Frankreichs Lob sang und sein Bedauern aussprach, gegen dasselbe kämpfen zu müssen. Man war ihm dankbar für sein Zartgefühl; und zudem konnte man nicht wissen, ob man nicht demnächst seiner Fürsprache bedurfte. Wenn man sich gut mit ihm stellte, würde man vielleicht weniger Einquartierung erhalten. Und warum überhaupt jemanden beleidigen, von dem man gänzlich abhängig war? Das wäre eher vermessen als kühn gewesen. – Schliesslich sagte man sich auch, – indem die bekannte französische Gastfreundlichkeit zum Grunde dienen musste, – dass es wohl gestattet sei, im Inneren des eigenen Hauses gegen den fremden Krieger höflich zu sein, vorausgesetzt dass man sich öffentlich vor jeder Vertraulichkeit hütete. Draussen freilich kannte man sich nicht, während man zu Hause gerne plauderte, sodass der Deutsche jeden Abend ein Stündchen länger blieb, um sich am Familienleben zu beteiligen.
Die Stadt selbst nahm allmählich ihr gewöhnliches Aussehen wieder an. Die Franzosen gingen zwar selbst noch nicht aus, aber die preussischen Soldaten schwärmten durch die Gassen. Im Übrigen schienen auch die Offiziere der blauen Husaren, welche mit einer gewissen Anmassung ihre Säbel auf dem Trottoir schleppen liessen, nicht mein Verachtung gegen die einfachen Bürger zu hegen, als die Offiziere der Chasseurs die das Jahr vorher in demselben Café gezecht hatten.
Immerhin lag etwas in der Luft, etwas eigentümlich Fremdes; etwas seltsam unerträgliches, wie ein Dunst, der sich verbreitet; der Dunst der Invasion. Er erfüllte die Wohnungen und öffentliche Plätze, gab den Speisen seinen Beigeschmack und machte einem den Eindruck, als sei man auf Reisen fern bei einem gefährlichen Wilden-Stamm.
Die Sieger verlangten Geld, sehr viel Geld. Die Einwohner zahlten stets; sie waren ja wohlhabend. Aber je reicher ein normannischer Kaufmann ist, umso schwerer wird ihm jedes Opfer, das er bringen soll, desto schmerzlicher trennt er sich von jedem Geldstückchen, das er in andere Hände wandern sieht.
Unterdessen fischten zwei oder drei Meilen unterhalb der Stadt bei Croisset, Dieppedale oder Biessart die Fischer und Bootsleute hin und wieder den Leichnam eines Deutschen auf, der durch einen Dolchstich, durch einen Steinhieb den Hinterkopf, durch einen Sturz von der Brücke sein Leben eingebüsst hatte. Der Schlamm des Flusses bedeckte diese Opfer einer furchtbaren aber gerechten Rache, eines stummen Heldenmuts, eines stillen Überfalls, gefährlicher als die offene Schlacht und ohne den verdienten Lohn des Ruhmes.
Der Hass gegen den fremden Eindringling drückt eben manchem Furchtlosen, der bereit ist für eine Idee zu sterben, die Waffe in die Hand.
Da übrigens die Eindringlinge schliesslich, wenngleich sie unbedingten Gehorsam gegen alle ihre Befehle verlangten, in keiner Weise die schrecklichen Gerüchte bestätigten, welche ihrem Siegesmarsche vorausgelaufen waren, so fasste man wieder Mut, und der Geschäftssinn begann sich allmählich wieder im Herzen der einheimischen Kaufleute zu regen. Einige von ihnen hatten wichtige Angelegenheiten in Havre abzuwickeln, welches die französische Armee noch besetzt hielt. Sie hofften diesen Hafen zu erreichen, indem sie sich auf dem Landwege nach Dieppe begaben, um sich dort einzuschiffen.
Durch Vermittlung der deutschen Offiziere, deren Bekanntschaft sie gemacht hatten, erlangten sie vom kommandierenden General die Erlaubnis zur Abreise.
So wurde denn ein großer vierspänniger Omnibus für diese Reise genommen, an der sich zehn Personen beteiligten. Die Abfahrt sollte an einem Dienstag Morgen noch vor Tagesanbruch stattfinden, um jedes Aufsehen zu vermeiden.
Um halb fünf trafen sich die Reisenden im Hofe des Hôtel de Normandie, wo der Wagen bereitstand. Sie waren noch schlaftrunken und zitterten unter ihrer Umhüllung vor Kälte. Anfangs war ein Erkennen in der Dunkelheit schwer möglich; die zusammengerafften dichten Winterkleider liessen alle die Leute wie behäbige Pfarrer in langen Sutanen aussehen. Zwei Herren erkannten sich indessen und ein dritter trat auf sie zu. »Ich bringe meine Frau fort« sagte der eine. »Ich ebenfalls.« »Und ich auch.« »Wir werden nicht nach Rouen zurückkehren; und wenn die Preussen sich Havre nähern sollten, gehen wir nach England,« fügte der erste hinzu. Alle hatten dieselbe Absicht, die ihrer gleichartigen Gemütsbeschaffenheit entsprach.
Der Wagen war noch nicht angespannt. Zuweilen tauchte eine kleine Laterne, die ein Stallknecht trug, aus einer finsteren Türe auf, um gleich darauf in einer anderen wieder zu verschwinden. Man hörte Pferdegetrampel und lautes Fluchen aus dem Innern des Stallgebäudes. Leichtes Schellengeklingel bewies, dass man das Geschirr auflegte. Bald wurde dieses Geklingel zu einem deutlichen fortgesetzten Läuten, welches je nach der Bewegung des Tieres zuweilen ganz aufhörte, um dann plötzlich umso lauter wieder zu beginnen, während der Boden unter dem Hufeisen wiederhallte.
Plötzlich wurde die Türe zugemacht; jedes Geräusch verschwand. Auch die fröstelnden Bürger schwiegen; starr und unbeweglich standen sie umher.
Der Schnee fiel in dichten Flocken unablässig nieder; er hüllte alle Gestalten, alle Gegenstände mit seiner eisigen Masse ein. Bei der tiefen Grabesstille, in der die Stadt noch ruhte, hörte man nur dieses unbestimmte einförmige Geriesel des Schnees. Es war mehr eine Empfindung wie ein Geräusch, dieses Erzittern leichter Atome, die den ganzen Luftraum erfüllten und langsam die Erde bedeckten.
Der Mann mit der Laterne erschien abermals und zog am Zügel ein verdrossen dahinschreitendes Pferd hinter sich her. Er stellte es an die Deichsel und legte die Stränge an, wobei er sich mehrfach versicherte, dass am Geschirr alles in Ordnung sei. Da er in der einen Hand die Laterne halten musste, so brauchte er ziemlich viel Zeit zu dieser Beschäftigung. Als er sich endlich umwandte, um das zweite Pferd zu holen, bemerkte er die regungslos dastehenden schon ganz in Schnee gehüllten Reisenden.
»Warum steigen Sie nicht ein? Sie sind doch im Wagen wenigstens geschützt,« fragte er erstaunt.
In der Tat, daran hatte noch keiner gedacht; und nun stürzte alles auf den Wagen zu. Die drei Herren von vorhin liessen zuerst ihre Frauen Platz nehmen und folgten dann. Dann nahmen die übrigen bis zur Unkenntlichkeit eingemummten Gestalten schweigend ihre Sitze ein.
Der Boden war zum Schutz der Füsse mit Stroh bedeckt. Die Damen im Hintergrunde hatten sich kleine kupferne Wärmapparate mitgebracht und zündeten jetzt die präparierte Kohle derselben an, wobei sie sich mit leiser Stimme von den längst bekannten Vorteilen derselben unterhielten.
Endlich war der Omnibus bespannt; des schlechten Weges halber hatte man sechs Pferde statt der ursprünglich bestimmten vier genommen. »Ist alles eingestiegen?« fragte eine Stimme draussen. »Jawohl« ertönte es von innen, und der Wagen setzte sich in Bewegung.
Es ging langsam, sehr langsam, in gemächlichem Schritt vorwärts. Die Räder versanken im Schnee; der ganze Kasten ächzte und krachte. Die Pferde rutschten, schnaubten und dampften. Die lange Peitsche des Kutschers knallte ohne Unterlass. Sie flog bald hier bald dorthin, ihre Schnur rollte sich zusammen wie eine Schlange, um dann plötzlich auf der Kruppe eines Pferdes wieder niederzusausen, das nun mit einem merkbaren Ruck aufs neue anzog.
Unmerklich brach der lichte Tag an. Die leichten Flocken, welche ein Reisender, ein echtes Rouener Kind, mit einem Watteregen verglichen hatte, fielen nicht mehr. Zwischen dunklen trüben Wolken zeigte sich eine matte Helle, welche die Schneefläche nur umso deutlicher hervortreten ließ, von der sich bald eine Reihe reifbedeckter Bäume, bald ein einzelnes schneebeladenes Strohdach abhob.
Beim trüben Dämmerlicht des anbrechenden morgens begann man sich im Wagen gegenseitig neugierig zu betrachten.
Ganz im Hintergrunde auf den letzten Plätzen schlummerten einander gegenüber Herr und Frau Loiseau, Weingroßhändler aus der Strasse Grand-Pont. Als sein Prinzipal seiner Zeit Bankerott machte, hatte Loiseau das Geschäft übernommen und sein Glück dabei gefunden. Er verkaufte seinen sehr schlechten Wein sehr billig an die kleinen Kneipwirte auf dem Lande und galt bei seinen Freunden und Bekannten für einen schlauen Fuchs; er war ein echter Normanne, aus List und Gutmütigkeit zusammengesetzt.
Nebenbei war Loiseau berühmt durch seine vielseitigen guten und schlechten Witze. Man hörte in der Tat nie von ihm reden, ohne dass nicht dazu gesagt wurde: »Er ist wirklich unbezahlbar dieser Loiseau.«
Sein Äusseres machte den Eindruck eines Ballons, auf dem oben auf ein rötliches, von zwei ins Graue spielenden Koteletten umrahmtes, Gesicht sass. Seine Frau, groß und stark von Wuchs, sehr energisch, mit hoher Stimme und schneller Entscheidungsgabe, war das lebendige Lager und Kassenbuch des Geschäfts, welches sie durch ihre unermüdliche Tätigkeit belebte.
Neben ihnen sass in würdiger Haltung ein Mann, der schon um eine Klasse höher galt, Herr Carré-Lamadon; ein angesehener Wollhändler, der drei Spinnereien besass. Er war Offizier der Ehrenlegion und Mitglied des Generalrats. Er war während der ganzen Zeit des Kaiserreichs Führer einer wohlwollenden Opposition gewesen, lediglich um sich wegen seiner anständigen Kampfesweise seine Nachgiebigkeit, wie er selbst sagte, umso teurer bezahlen zu lassen. Madame Carré-Lamadon, bedeutend jünger als ihr Gatte, war der Liebling der Offiziere aus guter Familie, die zu Rouen in Garnison standen. Sie sass ihrem Manne gegenüber ganz in ihr Pelzwerk gehüllt, sehr niedlich, sehr hübsch, sehr zart, und schaute betrübt in dem ungemütlichen Kasten umher.
Ihre Nachbarn, der Graf und die Gräfin Hubert de Bréville gehörten einem der vornehmsten und ältesten Geschlechter der Normandie an. Der Graf, ein alter Edelmann von stattlichem Äussern, suchte durch allerhand Toilettekünste seine natürliche Ähnlichkeit mit Heinrich den IV. noch mehr hervorzuheben. Einer Sage nach, auf welche die Familie sich sehr viel einbildete, hatte dieser König mit einer Bréville ein Kind gehabt, deren Mann dann Graf und Gouverneur der Provinz geworden war.
Graf Hubert vertrat im Generalrat, wo er mit Herrn Carré-Lamadon zusammensass, die orleanistische Partei seines Departements. Die Geschichte seiner Vermählung mit der Tochter eines kleinen Rheders zu Nantes war stets etwas dunkel geblieben. Aber da die Gräfin sehr gute Manieren besass, ein brillantes Haus machte und man sogar behauptete, einer der Söhne Louis Philippes habe ihr längere Zeit zu Füssen gelegen, so stand sie beim ganzen Adel in hohem Ansehen und ihr Salon galt als der vornehmste des Landes: als der einzige, wo man noch die alte Galanterie bewahrte und zu dem man sehr schwer Zutritt erhielt.
Die Brévilles hatten, wie man sich erzählte, fünfmalhunderttausend Livres Rente.
Diese sechs Personen nahmen, wie gesagt, den Fonds des Wagens ein; sie repräsentierten die wohlhabende bessere Gesellschaft, in der Religion und Grundsätze herrschen.
Fast sämtliche weibliche Reisende hatten zufällig die eine Bank inne. Die Gräfin hatte neben sich noch zwei Ordensschwestern, die an langen Rosenkränzen ihr »Pater noster« und ihr »Aves« herunterbeteten. Die ältere von beiden hatte ein blatternarbiges Gesicht, als wenn sie aus nächster Nähe eine volle Kartätschenladung bekommen hätte. Die jüngere, hübschere, machte einen schwächlichen kränklichen Eindruck. Ihre Brust war eingefallen und auf ihren hektischen Wangen schimmerte ein verräterisches Rot.
Ein Mann und eine Frau, die den beiden Schwestern gegenüber sassen, zogen bald die Blicke aller Reisenden auf sich.
Der Mann war der wohlbekannte Demokrat Cornudet, der Schrecken aller anständigen Leute. Seit zwanzig Jahren trieb er sich mit seinem großen roten Bart in allen demokratischen Kneipen und Zirkeln herum. Mit seinen Freunden und Brüdern hatte er ein hübsches Vermögen durchgebracht, das ihm sein Vater, ein ehemaliger Zuckerbäcker, hinterliess. Jetzt wartete er sehnsüchtig auf die Republik, die ihm endlich den verdienten Lohn für seine revolutionäre Agitation bringen sollte. Am 4. September hatte er, durch einen schlechten Witz getäuscht, sich bereits zum Präfekt ernannt geglaubt. Als er aber seine Stellung antreten wollte, verweigerten ihm die Copisten auf dem Büro, die allein noch am Platze geblieben waren, ihre Anerkennung, und so sah er sich zum Rückzug gezwungen. Von Herzen gutmütig und gefällig hatte er sich mit anerkennenswertem Eifer um die Verteidigung der Stadt bemüht. Er hatte ringsum auf allen Wiesen tiefe Löcher eingraben und mittels der jungen Bäume aus den benachbarten Wäldern überall Verhaue herstellen lassen. Auf allen Strassen legte er Wolfsgraben an, und als dann der Feind sich näherte, zog er, befriedigt von seiner Tätigkeit sich so schnell wie möglich in die Stadt zurück. Er gedachte, sich jetzt in Havre, wo es an ausreichenden Verschanzungen fehlen sollte, noch weiter nützlich zu machen.
Die Frau war eine sogenannte Allerweltsdame und ihrer hervorragenden Leibesfülle wegen berühmt, die ihr den Beinamen Fett-Kloss eingetragen hatte. Sie war klein, durchaus rund, speckig, und ihre aufgedunsenen, an den Gliedern eingekerbten Finger machten den Eindruck von aneinander hängenden Würstchen. Mit ihrer glänzenden straff gespannten Haut und einer mächtigen wogenden Brust blieb sie doch immer noch begehrenswert und appetitlich, weil der Anblick ihrer Frische einen sympathisch berührte. Ihr Gesicht glich einem roten Apfel, einer knospenden Pfingstrose, die im Begriff ist, aufzublühen. Aber da drinnen unter der Stirn leuchteten zwei prächtige Augen, von dichten schwarzen Wimpern umschattet, die das Dunkel noch vermehrten. Und weiter unten zeigte sich ein reizender kleiner Mund, zum Küssen wie geschaffen und mit zierlichen Perlzähnchen ausgerüstet.
Im Übrigen besass sie, wie man sagte, mehrere ganz unschätzbare Eigenschaften.
Sobald man sie erkannt hatte, entstand unter den ehrbaren Damen ein Geflüster und Worte wie »Prostituierte,« »öffentlicher Skandal« wurde so vernehmlich gewispert, dass sie aufschaute. Sie warf ihrer Umgebung einen so trotzigen herausfordernden Blick zu, dass sofort tiefe Stille eintrat, und jeder vor sich hinschaute. Nur Loiseau betrachtete sie mit lebhafter Miene.
Aber bald begann die Unterhaltung zwischen den drei Damen, welche sich durch die Gegenwart dieser Person unwillkürlich näher zu einander hingezogen fühlten, wieder lebhafter zu werden. Es schien ihnen, als müssten sie ihre Würde als Gattinnen miteinander vereinigen gegenüber dieser Dirne, die sich ohne Wahl an jeden verkaufte. Die legale Liebe sieht nun einmal stets mit Verachtung auf ihre freie Schwester herab.
Auch die drei Herrn, die dem Demokraten Cornudet gegenüber sich in einem gewissen konservativen Instinkt enger aneinander schlossen, sprachen über Geldsachen mit einer Art von Verachtung für die Armen. Graf Hubert erzählte von den Verwüstungen, welche die Preussen bei ihm angerichtet, von den Verlusten, die sie ihm an seinem Viehbestand zugefügt hätten und von der verlorenen Ernte mit dem Selbstbewusstsein eines zehnfachen Millionärs, der nach einem Jahr schon nicht mehr an dergleichen denken wird. Herr Carré-Lamadon, der große Woll-Industrielle, hatte die Vorsicht gehabt, sechsmal hunderttausend Francs nach England zu schicken, ein Tropfen für den Durst, den er sich für alle Fälle sichern wollte. Was Herrn Loiseau anbetraf, so hatte er es fertig gebracht, der französischen Intendantur den ganzen Rest seiner gewöhnlichen Weine, den er noch in seinen Kellereien hatte, zu verkaufen, sodass die Regierung ihm ein hübsches Sümmchen schuldete, das er jetzt in Havre zu erheben hoffte.
Alle drei warfen sich bei diesem Gespräch öfters vertrauliche Blicke zu. Wenn auch verschieden an Lebensstellung fühlten sie sich doch durch den Geldpunkt verbunden, der sozusagen die Freimaurer-Loge aller Besitzenden, aller derer ist, denen das Gold in der Tasche klingt, sobald sie darauf klopfen.
Der Wagen fuhr so langsam, dass man gegen zehn Uhr morgens noch kaum vier Meilen zurückgelegt hatte. Die Herren stiegen dreimal aus, um bergan zu Fuss zu gehen. Man begann unruhig zu werden, denn man wollte in Tôtes frühstücken und es war jetzt sehr zweifelhaft, ob man vor Abend noch dahin gelangen würde. Man sah sich gerade vergeblich nach einem Wirtshaus an der Strasse um. als der Omnibus in einem Schneehaufen stecken blieb. Es brauchte volle zwei Stunden, um ihn wieder flott zu machen.
Der Appetit wuchs und machte sich unangenehm bemerkbar. Und kein Wirtshaus zeigte sich, keine Weinschänke stand offen, da infolge des Anmarsches der Preussen und des Durchzuges der ausgehungerten französischen Truppen alle derartige Geschäfte geschlossen waren.
Die Herren liefen um irgendwelche Nahrungsmittel in die Gehöfte an der Strasse, aber es war nicht einmal Brot dort zu erlangen. Denn die misstrauischen Landleute hatten ihre Vorräte aus Furcht vor den plündernden Soldaten verborgen, die in ihrem Hunger alles, was sie entdecken konnten, gewaltsam an sich nahmen.
Gegen ein Uhr Mittags erklärte Loiseau, dass er entschieden einen ganz abscheulichen Magenschmerz verspüre. Allen übrigen ging es nicht besser, und der heftige Essensdrang hatte schliesslich jede Unterhaltung zum Schweigen gebracht.
Von Zeit zu Zeit fing einer an zu gähnen, und ein anderer folgte ihm darin sofort. Und der Reihe nach öffnete jeder, je nach Charakter, Lebensart und sozialer Stellung entweder geräuschvoll oder leise den Mund, um dann schnell mit der Hand die Öffnung zu bedecken, aus der ein warmer Hauch entströmte.
Fett-Kloss hatte sich mehrmals vorgebeugt, als sehe sie nach irgendetwas unter ihren Röcken. Sie zauderte einen Augenblick, blickte ihre Nachbarin an, und richtete sich dann ruhig wieder auf. Die Gesichter der Reisenden waren bleich und verzerrt Loiseau schwor, dass er tausend Francs für ein Schinkenbrötchen geben würde. Seine Frau machte eine Gebärde, als wollte sie etwas einwenden; aber sie beruhigte sich wieder. Sie litt immer darunter, wenn sie von Geldverschleuderung reden hörte; selbst ein Scherz über diesen Gegenstand war ihr verhasst. »Ich fühle mich tatsächlich unwohl; wie konnte ich nur vergessen mir was zum Frühstücken mitzunehmen?« diesen Vorwurf machte sich jeder einzelne im Wagen.
Cornudet hatte allerdings eine Feldflasche voll Rum bei sich. Er bot dieselbe herum, aber man dankte ihm kühler Zurückhaltung. Nur Loiseau nahm einen Schluck. »Das tut auf alle Fälle gut«; sagte er die Flasche mit Dank zurückgebend »es wärmt und vertreibt den Hunger.« Der Alkohol machte ihn guter Laune und er schlug vor, es zu machen wie die Schiffbrüchigen und den wohlgenährtesten Passagier aufzuessen. Diese deutliche Anspielung auf Fett-Kloss missfiel den wohlerzogenen Leuten, und es antwortete ihm niemand; nur Cornudet lächelte. Die beiden Ordensschwestern hatten mit dem Rosenkranz-Gebet aufgehört. Sie sassen regungslos, die Hände in ihren weiten Ärmeln vergraben und der Blick hartnäckig zur Erde gesenkt. Ohne Zweifel opferten sie dem Himmel ihr Leid auf.
Endlich gegen drei Uhr, als der Wagen durch eine endlose Ebene fuhr, auf der weit und breit kein Haus zu entdecken war, bückte sich Fett-Kloss hastig und zog unter der Bank einen umfangreichen Korb hervor, der mit einer Serviette bedeckt war.
Sie entnahm demselben zunächst einen Porzellanteller, einen zierlichen silbernen Becher, dann eine große Terrine, in welcher zwei ganze in Gelee eingemachte Hühner waren. Ausserdem bemerkte man in der Tiefe des Korbes noch allerlei leckere Sachen verpackt, Pasteten, Früchte und Eingemachtes; kurz es war ein Reisevorrat für reichlich drei Tage, ohne eine Wirtshausküche in Anspruch nehmen zu müssen. Sie holte sich ein Hühnerflügelchen heraus und begann dasselbe zu einem jener Brödchen, die man in der Normandie »Regence’s« nennt, zierlich zu verspeisen.
Aller Blicke waren auf sie gerichtet. Der leckere Duft verbreitete sich mehr und mehr und kitzelte den Geruchssinn der Mitreisenden, deren Mund unwillkürlich wässerig wurde, während die Kinnladen sich schmerzhaft zusammenzogen. Der Abscheu der Damen gegen diese Dirne steigerte sich zur völligen Wut; man hätte sie am liebsten umgebracht oder sie samt ihrem Becher, ihrem Korb und ihren Esswaren zum Wagen hinaus in den Schnee geworfen.
Loiseau verzehrte indessen die Hühner-Terrine mit seinen Blicken. »Madame sind vorsichtiger gewesen, als wir übrigen,« sagte er. »Es gibt eben Damen, die an alles denken.« Sie sah zu ihm auf. »Wenn Sie Lust haben, mein Herr«; sagte sie »es ist fatal, wenn man von früh morgens an nichts zu essen hat.« Er verbeugte sich. »Meiner Treu, wenn ich offen sein soll, so nehme ich dankend an; ich kann mir nicht mehr helfen. Im Kriege muss man wie im Kriege leben, nicht wahr, Madame?« Dann blickte er um sich. »In solchen Augenblicken ist man froh, so zum Danke verpflichtet zu sein.« Er breitete eine Zeitung auf dem Schosse aus, um seine Beinkleider nicht zu beflecken und entnahm mit der Spitze seines Taschenmessers ein ganz in Gelee gehülltes Stück, zerriss es mit den Zähnen und kaute es mit solchem Wohlgefallen, dass seine Reisegefährten ihn mit Abscheu betrachteten.
Jetzt bot Fett-Kloss mit freundlicher Miene den beiden Schwestern an, von ihrem Frühstück zu nehmen. Sie sträubten sich keinen Augenblick und begannen ohne den Blick zu erheben hastig zu essen, nachdem sie einige Dankesworte gestammelt hatten. Cornudet weigerte sich selbstredend nicht, das Anerbieten seiner Nachbarin auszuschlagen und man bildete mit den Ordensfrauen zusammen eine Art Tisch, indem man Zeitungen auf dem Schoss ausbreitete.
Man öffnete und schloss den Mund abwechselnd, schob ein Stück hinein, kaute und schluckte hastig. Loiseau war in seiner Ecke emsig bei der Arbeit; und redete leise seiner Frau zu, seinem Beispiele zu folgen. Sie wollte anfangs nicht recht daran, aber als ein Krampf ihr Inneres zusammenzog, gab sie nach. Ihr Ehemann bat die »liebenswürdige Reisegefährtin,« ob er nicht auch für seine Gattin ein Stückchen haben könnte. »Aber natürlich, gewiss mein Herr,« sagte sie, ihm mit liebenswürdigem Lächeln die Terrine reichend.
Eine kleine Verlegenheit entstand, als man die erste Flasche Bordeaux entkorkt hatte: Es gab nur einen Becher. Man wischte ihn eben vor dem Trinken aus. Nur Cornudet setzte ihn dort an den Mund, wo er noch feucht von den Lippen seiner Nachbarin war; zweifelsohne ein Akt der Höflichkeit gegen dieselbe.
Der Graf und die Gräfin Bréville, umgeben von essenden Menschen und den Geruch von Speisen fortwährend in der Nase, litten unterdessen ebenso wie Herr und Frau Carré-Lamadon wahre Tantalusqualen. Plötzlich stiess die junge Frau des Fabrikbesitzers einen Seufzer aus, sodass sich alles nach ihr umsah. Sie war bleich wie der Schnee draussen, ihre Augen waren geschlossen, der Kopf hing vornüber; sie hatte das Bewusstsein verloren. Ganz ausser sich bat ihr Gatte alle Welt um Hilfe. Man hatte völlig den Kopf verloren, als endlich die ältere von den beiden Ordensschwestern, die das Haupt der Ohnmächtigen stützte, den Becher von Fett-Kloss jener an die Lippen setzte und ihr einige Tropfen Wein einflösste. Die hübsche junge Frau erwachte, schlug die Augen auf, lächelte und erklärte mit leiser Stimme, dass sie sich jetzt wohler fühle. Aber um einen Rückfall zu vermeiden, nötigte ihr die Schwester ein volles Glas Bordeaux auf und fügte hinzu: »das macht nur der Hunger; weiter nichts.«
»Mein Himmel!« sagte jetzt Fett-Kloss, indem sie rot und verlegen die vier ausgehungerten Reisenden ansah, »vielleicht darf ich den Herren und Damen etwas anbieten.« … Dann schwieg sie, eine Ablehnung befürchtend. »Na, wahrhaftig,« ergriff jetzt Loiseau das Wort »in solchen Fällen gibt es keinen Unterschied und man muss sich gegenseitig helfen. Vorwärts, meine Damen, genieren Sie sich nicht; greifen Sie munter zu. Sie wissen nicht, ob wir überhaupt noch eine Nachtherberge finden. In diesem Tempo kommen wir vor Mitternacht nicht nach Tôtes.«
Man zögerte immer noch; niemand wollte zuerst »Ja« sagen. Endlich machte der Graf ein Ende. »Wir nehmen dankend an, Madame,« sagte er mit der ganzen Würde eines Edelmannes zu der schüchternen dicken Reisegefährtin.
Jetzt war der erste Schritt getan. Nachdem man nun einmal den Rubikon hinter sich hatte, verkehrte man ungezwungener. Der Reisekorb wurde geleert. Er enthielt noch eine Gänseleber- und eine Lerchen-Pastete, ein Stück geräucherte Zunge, Birnen von Crassanc, eine Torte von Pont-Levêque, allerlei kleines Gebäck und ein Glas mit Mixed-Pikles; Fett-Kloss liebte, wie alle ihresgleichen, das Pikante.
Man konnte doch unmöglich etwas von dieser Person annehmen, ohne auch mit ihr zu sprechen. So begann denn eine Unterhaltung; anfangs mit Reserve. Als sie sich aber ganz anständig benahm, ließ man sich schon mehr gehen. Die Damen Bréville und Carré-Lamadon benahmen sich mit zurückhaltender Liebenswürdigkeit, wie das bei ihrer guten Lebensart nicht anders zu erwarten war. Besonders die Gräfin zeigte jene liebenswürdige Herablassung aller vornehmen Damen, denen niemals eine Perle aus der Krone fallen kann. Nur die dicke Frau Loiseau, welche sich selbst etwas zu vergeben fürchtete, hielt sich zurück, sprach wenig und ass desto mehr.
Die Rede kam natürlich auf den Krieg. Man erzählte sich schreckliche Geschichten von den Preussen und wunderbare Heldentaten von den Franzosen. Bald berührte man auch persönliche Verhältnisse und Fett-Kloss erzählte mit aufrichtiger Erregung, mit jenen warmen Worten, die ihresgleichen zuweilen eigen sind, um ihre Gefühle auszudrücken, wie sie dazu kam, Rouen zu verlassen. »Ich glaubte anfangs, dass ich dort bleiben könnte. Ich hatte das Haus voll Lebensmittel und hätte lieber einige Soldaten verpflegt, als mich Gott weiß wohin begeben. Als ich aber sie gesehen habe, diese Preussen, da waren meine Gefühle stärker wie ich. Das Blut kochte mir vor Zorn in den Adern, und ich habe den ganzen Tag vor Scham geweint. Ach, wenn ich ein Mann wäre, wahrhaftig! Ich sah sie von meinem Fenster aus, diese großen Bestien mit ihren Pickelhauben. Mein Mädchen hat mich zurückhalten müssen, dass ich ihnen nicht mein Mobiliar auf den Kopf warf. Dann kam die Einquartierung, und ich bin gleich dem ersten an die Kehle gesprungen. Sie sind nicht schwerer zu erdrosseln, wie andere. Ich hätte es wahrhaftig fertig gebracht, wenn man mich nicht an den Haaren zurückgerissen hätte. Daraufhin musste ich mich verstecken, bis ich schliesslich die Gelegenheit hier fand, mich davon zu machen.«
Man beglückwünschte sie lebhaft. Sie wuchs entschieden im Ansehen bei ihren Reisegefährten, die sich nicht so mutig gezeigt hatten. Cornudet hörte ihr mit dem zustimmenden beifälligen Lächeln eines Apostels zu; denn die langbärtigen Demokraten bilden sich ein, ein Monopol auf den Patriotismus zu besitzen. Er sprach nun seinerseits in belehrendem Tone und kramte alle Weisheit aus, die er aus den täglichen Maueranschlägen geschöpft hatte und schloss mit einer großartigen Redewendung, indem er den Sturz dieser »Kanaille von Bonaparte« pries.
Aber Fett-Kloss wurde sofort ärgerlich, denn sie war Bonapartistin. »Ich hätte Sie wahrhaftig an seiner Stelle sehen mögen«; stammelte sie rot wie eine Kirsche, »Sie und die andren alle. Das müsste hübsch gewesen sein, wahrhaftig. Sie sind es, die diesen Mann verraten haben. Es bliebe einem weiter nichts übrig, als Frankreich zu verlassen, wenn es von solchen Leuten, wie Sie regiert würde.«
Cornudet verharrte in überlegenem verächtlichen Lächeln; aber man hatte das Gefühl, dass es noch zu gröberen Worten kommen würde. Deshalb legte sich der Graf ins Mittel. Nicht ohne Mühe beruhigte er das zornige Mädchen indem er hoheitsvoll erklärte, dass man die ehrliche Überzeugung eines jeden achten müsse. Die Gräfin und die Fabrikantensgattin, welche den blinden Hass aller vornehmen Leute gegen die Republik und die instinktive Vorliebe aller Frauen für eine pomphafte und despotische Regierungsform teilten, fühlten sich indessen unwillkürlich zu dieser Prostituierten hingezogen, deren Anschauungen den ihrigen so nahe standen.
Der Korb war nun leer; zu Zehnen war das allerdings kein großes Kunststück und man bedauerte, dass es nicht mehr gewesen war. Das Geplauder setzte sich noch eine Weile fort, wenn auch nicht mehr so lebhaft, als während des Essens.
Der Abend brach herein, die Dunkelheit nahm immer mehr zu und Fett-Kloss fühlte sich infolge der Kälte, die während der Verdauung immer fühlbarer ist, trotz ihrer Wohlbeleibtheit erschauern. Da bot ihr Madame de Bréville ihren Wärmapparat an, dessen Kohle im Laufe des Tages mehrfach erneuert waren; sie nahm ihn gern an, denn ihre Füsse waren eiskalt. Die Damen Carré-Lamadon und Loiseau gaben die ihrigen den beiden Ordensschwestern.
Der Kutscher hatte seine Laternen angezündet. Ihr helles Licht brach sich an einer Dampfwolke die über den Kruppen der schweißtriefenden Pferde schwebte und beleuchtete zu beiden Seiten des Wagens den Schnee, der bei den lebhaften Reflexen sich aufzurollen schien. Im Wagen konnte man schon nichts mehr unterscheiden; aber plötzlich entstand eine Bewegung zwischen Fett-Kloss und Cornudet. Loiseau glaubte in der Dämmerung zu bemerken, dass der Mann mit dem großen Barte sich etwas plötzlich zur Seite beugte, als habe er ohne viel Geräusch einen gutsitzenden Schlag erhalten.
Vorn auf der Strasse zeigten sich einzelne Lichter; es war Tôtes. Wenn man zu den elf Stunden Fahrt noch die drei Stunden Rast rechnete, die man den Pferden zu ihrem Futter gegönnt hatte, so waren die Reisenden vierzehn Stunden unterwegs gewesen. Endlich fuhr man durch das Stadttor und hielt vor dem Hôtel de Commerce an.
Die Türe wurde aufgerissen und ein wohlbekanntes Geräusch ließ alle Reisenden erzittern; eine Säbelscheide klirrte auf dem Boden. Man hörte einige deutsche Worte rufen.
Obschon am Haltepunkt angekommen, stieg keiner von den Reisenden aus; als ob sie erwartet hätten, da draussen sofort niedergesäbelt zu werden. Da erschien der Kutscher und leuchtete mit einer Laterne bis in den hintersten Eck des Wagens. Ihr Schein fiel auf zwei Reihen furchtstarrender Gesichter mit offenem Munde und ängstlich dreinschauender Augen.
Beim vollen Licht der Laterne sah man neben dem Kutscher einen deutschen Offizier, einen hochgewachsenen auffallend schlanken blonden jungen Mann, der in seiner Uniform wie in ein Korset eingezwängt war. Auf dem Kopfe trug er eine flache runde Mütze wie ein Laufbursche in den englischen Hôtels. Sein langer kerzengrader Schnurrbart wurde zum Schluss zu immer dünner, bis er fast nur noch aus einem blonden Haar bestand, dessen Ende man nicht mehr unterscheiden konnte. Er schien auf seiner Oberlippe aufgeklebt zu sein und drohte bei jeder Bewegung der Backenmuskel herunter zu fallen.
»Bitte auszusteigen, meine Herren und Damen,« forderte der Offizier in schlechtem Elsässer Französisch brüsk die Reisenden auf.
Die beiden Ordenschwestern folgten zuerst mit jener sanften Ergebenheit, die gottgeweihte Jungfrauen in allen Lebenslagen zeigen. Dann kamen der Graf und die Gräfin, gefolgt von dem Fabrikanten und seiner Frau, hierauf Loiseau mit seiner besseren Hälfte. »Guten Abend, mein Herr,« sagte der Weinhändler, mehr der Klugheit als der Höflichkeit folgend zu dem Offizier, während er den Fuss auf den Boden setzte. Jener, anmassend wie alle, in deren Händen die Gewalt liegt, sah ihn an, ohne ihn einer Antwort zu würdigen.
Fett-Kloss und Cornudet, obwohl der Tür zunächst, stiegen doch als die letzten aus; sie trugen Angesichts des Feindes eine ernste hochfahrende Miene zur Schau. Die wohlbeleibte Donna suchte sich zu beherrschen und ruhig zu bleiben. Der Demokrat strich in theatralischer Weise mit etwas zitternder Hand seinen roten Schnurrbart. Sie suchten ihre Würde zu wahren, weil sie sich bewusst waren, dass bei solchen Begnügungen jeder einzelne das ganze Vaterland vertritt. Zudem ärgerte sie das höfliche Benehmen ihrer Reisegefährten. Fett-Kloss suchte daher stolzer aufzutreten als die vornehmen ehrbaren Damen, während in Cornudets Haltung sich der ganze Widerstands-Geist ausprägte, der mit der Aufwühlung der Strassen vor Rouen begonnen hatte.
Man trat in den geräumigen Flur des Hôtels und der Offizier ließ sich den Erlaubnisschein des kommandierenden Generals zeigen, auf dem der Name, der Stand und die Personalbeschreibung jedes einzelnen genau verzeichnet war. Nachdem er alle Anwesenden genau gemustert und ihr Äusseres mit der Beschreibung verglichen hatte sagte er kurz: »Es ist gut,« worauf er verschwand.
Man atmete erleichtert auf. Da der Hunger sich aufs neue geltend machte, so wurde noch ein Abendessen bestellt. Eine halbe Stunde musste man jedoch noch warten und die Reisenden musterten inzwischen die für sie bestimmten Zimmer. Sie lagen alle nebeneinander auf einem langen Gange an dessen Ende sich eine Glastüre mit einer allgemein bekannten Ziffer befand.
Als man sich endlich zu Tische setzte, erschien der Wirt selber, ein alter Pferdehändler, ein dicker kurzatmiger Mann, aus dessen Kehle fortgesetzt ein rasselnder zischender verschleimter Ton erklang. Sein Name war Follenvie.
»Ist Fräulein Eliesabeth Rousset hier?« fragte er.
»Das bin ich,« wandte sich Fett-Kloss erschreckt um.
»Der preussische Offizier möchte Sie sogleich sprechen, Fräulein.«
»Mich?«
»Jawohl, wenn Sie wirklich Fräulein Rousset sind.«
Einen Augenblick dachte sie unschlüssig nach, dann erklärte sie entschieden:
»Möglich, dass er mich sprechen will, aber ich werde nicht kommen.«
Es entstand eine Bewegung an der Tafel; man sprach über diesen Befehl und suchte seine Ursache zu ergründen. Der Graf näherte sich ihr.
»Sie tuen Unrecht Madame. Ihre Weigerung könnte fatale Schwierigkeiten hervorrufen, nicht nur für Sie, sondern für uns alle. Man muss dem Stärkeren immer nachgeben. Dieser Schritt kann keineswegs gefährlich sein. Es handelt sich jedenfalls um eine Formalität, die vergessen wurde.«
Alle übrigen vereinigten sich mit ihm, um sie zu bitten und sie zu drängen; schliesslich gelang es ihrer gemeinschaftlichen Überredung, sie zu überzeugen. Alle fürchteten die Verwicklungen, die aus ihrer Hartnäckigkeit entspringen könnten.
»Wenn ich es tue, so geschieht es sicherlich nur um Ihretwillen,« sagte sie endlich.
»Und wir danken Ihnen dafür,« entgegnete die Gräfin ihr die Hand reichend.
Sie ging hinaus und man wartete mit dem Essen auf sie. Ein jeder bedauerte im Herzen, nicht selbst statt dieses zornmütigen heftigen Mädchens herausgerufen zu sein und überlegte sich allerlei Liebenswürdigkeiten für den Fall, dass die Reihe an ihn käme.
Nach zehn Minuten kam sie wieder, keuchend, ganz ausser sich, rot zum Ersticken. »Ah, diese Kanaille! diese Kanaille!« stammelte sie.
Man überstürzte sich mit Fragen; aber sie sagte nichts. Als der Graf in sie drang, sagte sie mit großer Würde: »Nein, das kann Sie nicht kümmern; ich kann es nicht sagen.«
Nun versammelte man sich um die große Suppenschüssel, aus der ein kräftiger Duft von Kohl emporstieg. Trotz der Eile, mit der es angerichtet war, war das Essen vorzüglich. Der Cider, den das Ehepaar Loiseau und die Schwestern aus Sparsamkeits-Rücksichten bestellt hatten, mundete vortrefflich. Die übrigen hatten Wein, Cornudet dagegen Bier bestellt. Letzterer hatte eine eigene Art die Flasche zu entkorken, einzuschenken und die schäumende Flüssigkeit zu betrachten, indem er das Glas etwas schräg hielt, und es alsdann zwischen sich und das Lampenlicht brachte, um die Farbe des Stoffes zu prüfen. Sein gleichfarbiger großer Bart schien beim Trinken vor Vergnügen zu zittern, seine Augen schielten, um den Anblick des Schoppens nicht zu verlieren, und man merkte, dass dies die eigentliche Beschäftigung sei, für die er geboren war. Man bemerkte, dass in seinem Innern eine Annäherung, eine Art geistiger Verbindung zwischen den beiden großen Leidenschaften stattfand, die ihn beseelten: dem Pale Ale und der Republik. Sicherlich konnte er das eine nicht kosten ohne an die andere zu denken.
Herr und Frau Follenvie assen am oberen Ende der Tafel mit. Er, mit seinem ewig rasselnden Kehlkopf hatte zu viel Brustklemmung, um während des Essens reden zu können; aber seine Frau machte dies reichlich wieder gut. Sie schilderte alle ihre Eindrücke bei der Ankunft der Preussen, was sie trieben, was sie sagten; sie verwünschte dieselben einmal, weil sie ihr viel Geld kosteten, sodann, weil sie zwei Söhne bei der Armee hatte. Ihre Anrede galt vor allem der Gräfin, weil es ihr sehr schmeichelte mit einer vornehmen Dame sich zu unterhalten.
Dann senkte sie etwas die Stimme, um von delikateren Sachen zu sprechen, während ihr Mann sie zuweilen mit den Worten unterbrach; »Sprich lieber nicht davon, Madame Follenvie.« Aber sie achtete nicht auf ihn und fuhr fort:
»Ja, Madame, diese Leute essen nichts, wie Kartoffeln mit Schweinebraten und dann wieder Schweinebraten mit Kartoffeln. Man muss nur nicht denken, dass sie reinlich seien. Oh nein. Überall machen sie ihren Schmutz hin, mit Erlaubnis zu sagen. Und wenn Sie erst mal ihre Übung ansehen würden den ganzen lieben Tag lang; sie sind da in einem Lager – vorwärts, rückwärts marschieren, rechts – um, links – um! Wenn sie wenigstens noch das Land bebauten, oder die Strassen verbesserten. Aber nein, Madame; diese Soldaten nützen zu gar nichts. Das arme Volk muss sie nur ernähren, damit sie das Abschlachten richtig lernen. – Ich bin nur eine alte einfache Frau, das muss ich sagen; aber wenn ich sie so ansehe, wie sie so den ganzen Tag mit den Beinen strampeln, so spreche ich oft zu mir selbst: Wie es Leute gibt, die so viele Erfindungen machen zum Wohle der Menschheit, so gibt es auch solche die zum Schaden derselben auf Böses sinnen. Ist es denn wirklich nicht ein Gräuel, dass sich die Leute gegenseitig umbringen, bloß weil sie Preussen, Engländer, Polen oder Franzosen sind? Wenn man sich an Jemandem für ein Unrecht zu rächen sucht, so ist das böse und wird verdammt; aber wenn man unsre jungen Burschen wie die Hasen niederknallt, so ist das gut und man zeichnet den aus, der das Meiste darin leistet. Nein, sehen Sie, das werde ich nie verstehen.«
»Der Krieg« warf Cornudet laut ein »ist eine Barbarei, sobald man den friedlichen Nachbar angreift; aber er ist eine heilige Pflicht, sobald es sich um die Verteidigung des Vaterlandes handelt.«
Die alte Frau senkte den Kopf.
»Jawohl, wenn man sich verteidigt, das ist etwas anderes. Aber müsste man dann nicht alle Könige umbringen, die so etwas nur zum Vergnügen treiben?«
»Bravo, Bürgerin!« rief Cornudet flammenden Auges. Herr Carré-Lamadon war in tiefes Nachdenken versunken. Obschon er für den Kriegsruhm schwärmte, so stellte er sich doch nach den Worten dieser einfachen Frau den Wohlstand vor, den so viele tausende, jetzt arbeitslose und deshalb kostspielige Hände dem Lande bringen müssten; wie viele Kraft, die man jetzt ungenützt erhalten müsste liesse sich da zu industriellen Zwecken verwenden, deren Bewältigung jetzt Jahrzehnte erforderte.
Loiseau hatte unterdessen seinen Platz verlassen und sich zu dem Wirt gesetzt. Der dicke Mann lachte, hustete und spuckte abwechselnd; sein dicker Bauch wackelte vor Vergnügen bei den Witzen seines Nachbarn. Er kaufte ihm sechs Fass Bordeaux ab zum nächsten Frühjahr, wenn die Preussen wieder abgezogen wären.
Das Souper war kaum zu Ende, als alle, von Müdigkeit überwältigt, ihre Zimmer aufsuchten.
Loiseau, der auf alles ein Auge hatte, ließ indessen seine Frau zu Bett gehen, während er selbst bald sein Auge bald sein Ohr an’s Schlüsselloch brachte, um »die Geheimnisse des Ganges,« wie er sie nannte, zu erforschen.
Nach Verlauf einer Stunde hörte er ein Geräusch, blickte schnell hindurch und gewahrte Fett-Kloss, die in einem spitzenbesetzten Schlafrock aus blauem Kaschmir noch unförmlicher aussah. Sie trug ein Nachtlicht und ging auf die Tür mit der bekannten Nummer am Ende des Ganges zu. Als sie nach einigen Minuten von dort zurück kam, öffnete sich seitwärts eine andere Türe. Cornudet nur im Hemd und Beinkleid kam hinter ihr her. Sie sprachen leise miteinander und blieben endlich stehen. Fett-Kloss schien ihm energisch den Eintritt in ihr Zimmer zu verwehren. Leider konnte Loiseau nicht alles verstehen; er fing nur einige Worte auf, als sie schliesslich doch lauter wurde. Cornudet drängte lebhaft.
»Gehen Sie doch!« sagte er, »seien sie nicht närrisch; was macht das Ihnen denn?«
»Nein, nein, Wertester«, sagte sie mit entrüsteter Miene, »es gibt Augenblicke, wo man so was nicht macht. Und dann, hier an diesem Orte wäre es geradezu eine Schmach.«
Er verstand sie entschieden nicht und fragte um den Grund.
»Warum?« sagte sie, mit noch erhobenerer Stimme. »Sie begreifen nicht, warum? Weil Preussen hier im Hause sind, vielleicht gleich im Zimmer nebenan.«
Er schwieg. Diese patriotische Scham einer Prostituierten, die unter den Augen des Feindes sozusagen, sich nicht preisgeben wollte, mochte doch in seinem Herzen noch einen Rest von Schamgefühl erwecken; denn er küsste sie nur und ging dann mit Katzentritten wieder auf sein Zimmer.
Loiseau war sehr erregt. Er verliess das Schlüsselloch, rannte im Zimmer hin und her, zog sein Nachthemd an, und lüftete die Decke, unter der seine Ehehälfte ruhte. »Hast Du mich lieb, Schatz?« fragte er sie mit einem Kusse weckend.
Dann wurde es still in ganzem Hause. Aber bald erhob sich irgendwo, aus einer unbestimmten Richtung, entweder aus dem Keller oder aus dem Söller kommend, ein mächtiges einförmiges gleichmässiges Schnarchen. Es wechselte mit kurzen und langen Tönen ab, wie ein unter Druck erzitternder Dampfkessel. Herr Follenvie schlief.
Da man beschlossen hatte, am anderen Morgen um 8 Uhr abzureisen, so fand sich früh alles pünktlich im Gastzimmer ein; aber der Wagen, dessen Dach mit Schnee bedeckt war, stand einsam, ohne Kutscher und Pferde im Hofe. Vergeblich suchte man ersteren in den Ställen, im Futterraum, in den Remisen. Da beschloss man etwas spazieren zu gehen, um sich den Ort anzusehen. Sie befanden sich auf dem Platze, in dessen Hintergrunde die Kirche lag mit niedrigen Häusern auf beiden Seiten, in denen man preussische Soldaten bemerkte. Der erste, den sie sahen, klaubte Kartoffeln aus; der zweite reinigte den Laden eines Barbiers. Ein dritter, bärtig bis unter die Augen, küsste ein weinendes Baby und schaukelte es auf den Knien, um es zu beruhigen. Dicke Bäuerinnen, deren Männer bei der »mobilen Armee« waren, zeigten den gutwilligen Siegern durch Gebärden, was sie zu tun hätten. Da gab es Holz zu spalten, Suppe zu kochen, Kaffee zu mahlen; ja einer wusch sogar das Leinenzeug seiner Hauswirtin, einer ganz hilflosen Alten.
Erstaunt fragte der Graf den Küster, der gerade aus der Sakristei kam. »Ja, diese da,« sagte die alte Kirchenratte, »sind wackere Kerle. Es sind keine Preussen was man so sagt. Sie sind von weiter her, ich weiß nicht wo. Sie haben alle Frauen und Kinder daheim, und der Krieg macht ihnen wahrhaftig kein Vergnügen. Bei ihnen zu Hause wird man sicher auch nach den Männern jammern, und die Ihrigen werden nicht besser dran sein, wie bei uns. Hier ist man übrigens augenblicklich ganz zufrieden. Sie betragen sich gut und arbeiten so gut wie bei sich zu Hause. Sehen Sie, mein Herr, arme Leute müssen sich gegenseitig helfen … Die Großen sind es nur, die den Krieg führen …«
Cornudet, sehr entrüstet über dieses freundschaftliche Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten, ging heim; er zog es vor im Hôtel zu bleiben. »Sie bevölkern wieder,« sagte Loiseau scherzend. »Sie machen manches wieder gut,« entgegnete Herr Carré-Lamadon erregt. Der Kutscher war nirgends zu finden. Schliesslich entdeckte man ihn in einer Kaffeeschenke, wo er sich mit dem Burschen des Offiziers freundschaftlich zusammen niedergelassen hatte.
»Hat man Ihnen denn nicht befohlen, um 8 Uhr anzuspannen?« fragte ihn der Graf.
»Ganz recht; aber nachher hat man anders befohlen.«
»Was?«
»Überhaupt nicht anzuspannen?«
»Wer hat das verboten?«
»Nun, der preussische Offizier.«
»Warum denn?«
»Ich weiß von nichts. Fragen Sie ihn. Man verbietet mir anzuspannen; nun so spann ich eben nicht an … Selbstredend.«
»Hat er Ihnen selbst das gesagt?«
»Nein, mein Herr; der Wirt hat mir seinen Befehl überbracht.«
»Wann denn?
»Gestern Abend, als ich schlafen ging.«
Die drei Herren gingen sehr beunruhigt heim. Man fragte nach Herrn Follenvie, aber das Mädchen erklärte, dass der Herr wegen seines Asthma’s nie vor zehn Uhr aufstände. Er hatte sogar ausdrücklich verboten ihn früher zu wecken; ausser im Falle eines Brandes.
Man wünschte den Offizier zu sprechen; aber das war absolut unmöglich, obschon er im Hôtel wohnte. Er verhandelte in Zivil-Angelegenheiten nur mit Herrn Follenvie. So musste man denn warten. Die Damen begaben sich wieder auf ihre Zimmer und suchten sich die Zeit zu vertreiben, so gut es ging.
Cornudet setzte sich an den Herd in der Küche, wo ein mächtiges Feuer brannte. Er ließ sich dort einen kleinen Kaffeetisch und eine Flasche Bier hinbringen; dann zog er seine Pfeife hervor die bei den Demokraten beinahe ebenso in Ansehen stand, wie er selbst; als ob sie dem Vaterlande diente, weil Cornudet sie im Gebrauch hatte. Es war eine prächtige Meerschaumpfeife, herrlich angeraucht, ebenso schwarz wie die Zähne ihres Herrn, wohlriechend, gekrümmelt, glänzend, handlich und ganz zu seinem Gesicht passend. So sass er still vor sich hin, die Augen bald auf das Herdfeuer bald auf den Schaum in seinem Glase geheftet. Jedes Mal wenn er getrunken hatte, fuhr er sich mit seinen langen hageren Fingern befriedigt durch das lange fettige Haar, und wischte sich dann den Schaum aus dem Schnurrbart.
Loiseau begab sich unter dem Vorwand, sich Bewegung zu machen hinaus und versuchte bei den Kneipwirten des Ortes seinen Wein anzubringen. Der Graf und der Fabrikant unterhielten sich über Politik; ihr Gespräch drehte sich um die Zukunft Frankreichs. Der eine baute seine Hoffnungen auf die Orleans der andere auf irgend einen unbekannten Retter, einen Held, der ihnen im letzten Augenblick der Verzweiflung entstehen würde: Einen du Guesclin, eine Jeanne d’Arc etwa, oder einen zweiten Napoleon. Ja, wenn der kaiserliche Prinz nicht noch so jung wäre. Cornudet hörte ihnen mit dem Lächeln eines Mannes zu, der weiter in die Zukunft blickt. Der Dampf seiner Pfeife hüllte die Küche ein.
Als es zehn Uhr schlug, erschien Follenvie. Man bestürmte ihn mit Fragen; aber er wiederholte drei bis viermal genau dieselbe Geschichte. »Herr Follenvie,« hat der Offizier zu mir gesagt. »Sie werden verbieten, dass man morgen den Wagen dieser Reisenden anspannt. Ich will nicht, dass sie ohne meine Erlaubnis abreisen; verstehen Sie? Gut also.«
Nun wollte man den Offizier aufsuchen. Der Graf schickte ihm seine Karte, auf der auch Herr Carré-Lamadon seinen Namen samt allen Titeln und Würden vermerkte. Der Preusse ließ zurücksagen, dass er den beiden Herrn gestatten würde, ihn nach seinem Frühstück, d. h. um ein Uhr aufzusuchen.
Die Damen erschienen wieder und trotz der allgemeinen Misstimmung nahm man etwas zu sich. Fett-Kloss schien krank und sichtlich sehr verwirrt.
Als man mit dem Kaffee fertig war, erschien eine Ordonanz, um die Herrn zu holen, denen sich Loiseau als dritter anschloss. Cornudet dagegen, den man um der Sache mehr Feierlichkeit zu geben, ebenfalls zur Beteiligung aufforderte, erklärte entschieden, dass er keine Beziehungen mit den Preussen zu haben wünsche. Er zog sich wieder an seinen Kamin zurück und bestellte eine neue Flasche.
Die drei Herrn gingen hinauf und wurden in das schönste Zimmer des Gasthofs geführt, wo sie der Offizier, auf einem Sessel ruhend, die Füsse am Kamin ausgestreckt und eine lange Porzellanpfeife im Munde, empfing. Ein greller Zimmerrock, ohne Zweifel aus der verlassenen Wohnung irgend eines Spiessbürgers geraubt, dessen schlechter Geschmack sich an ihm bekundete, umgab ihn statt der Uniform. Er erhob sich weder, noch begrüsste er sonst die Herrn; er würdigte sie nicht einmal eines Blickes. Es schien als wollte er ihnen mal eine Probe von der den siegreichen Soldaten eigenen Roheit geben.
»Was wünschen Sie?« fragte er nach einiger Zeit endlich.
»Wir möchten abreisen, mein Herr,« nahm der Graf das Wort.
»Nein.«
»Darf ich nach der Ursache der Verweigerung fragen?«
»Weil ich nicht will.«
»Ich möchte Ihnen, mein Herr, aber ergebenst bemerken, dass Ihr kommandierender General uns die Erlaubnis zur Reise nach Dieppe bewilligt hat; wir hätten, dächte ich, nichts begangen, um dieselbe zu verwirken.«
»Ich will aber nicht … Damit gut … Sie können gehn.«
Die drei Herrn entfernten sich unter einer Verbeugung.
Der Nachmittag verlief sehr traurig. Man konnte den Einfall des Deutschen nicht begreifen, und kam auf die sonderbarsten Ideen. Alle Welt hielt sich jetzt in der Küche auf und man besprach sich fortgesetzt unter den unglaublichsten Vermutungen. Wollte man sie vielleicht als Geiseln zurückhalten? – aber zu welchem Zweck? Oder sie als Gefangene fortschleppen? – Wohin? Oder wollte man eine gehörige Brandschatzung bei ihnen vornehmen? Bei diesem Gedanken erstarrte ihnen das Blut. Die Reichsten waren die Furchtsamsten. Sie sahen sich schon im Geiste Haufen von Gold in die Hände dieser zügellosen Soldateska legen, um nur ihr Leben zu retten. Sie zerbrachen sich den Kopf um nur eine glaubhafte Lüge zu ersinnen, ihren Reichtum zu verheimlichen und für arm, ganz arm zu gelten. Loiseau nestelte seine Uhrkette los und verbarg sie in der Tasche. Die einbrechende Nacht vermehrte noch ihre Furcht. Die Lampe wurde angezündet und Madame Loiseau schlug eine Partie Einunddreissig vor, da es noch zwei Stunden bis zum Diner war. Das wäre doch wenigstens eine Zerstreuung. Der Vorschlag wurde angenommen. Sogar Cornudet, der aus Höflichkeit seine Pfeife hatte ausgehen lassen, beteiligte sich.
Der Graf schlug die Karten – gab – und Fett-Kloss hatte auf den ersten Anhieb Einunddreissig. Bald verscheuchte das Interesse am Spiel die Furcht, die sie beseelt hatte. Cornudet bemerkte sogar, dass das Ehepaar Loiseau mogelte.
Als man sich zu Tische setzen wollte, erschien Herr Follenvie wieder.
»Der preussische Offizier lässt Fräulein Elisabeth Rousset fragen, ob sie ihre Ansicht noch nicht geändert habe,« sagte er mit seiner heiseren Stimme.
Fett-Kloss blieb ganz bleich stehen. Dann wurde sie plötzlich knallrot und so von Zorn erstickt, dass sie anfangs nicht sprechen konnte.
»Sie werden dieser Kanaille, diesem Schmutzfinken, diesem Lumpen von Preussen sagen, dass ich niemals wollen werde. Verstehen Sie wohl, nie, nie, niemals!«
Der dicke Wirt ging hinaus. Nun wurde Fett-Kloss von allen Seiten umringt, mit Fragen bestürmt, und energisch aufgefordert endlich das Geheimnis zu lüften, das über ihrer ersten Besprechung mit dem Offizier schwebte. Anfangs sträubte sie sich noch, aber der Ärger riss sie schliesslich mit fort. »Was er will? … Was er möchte? … Er will mit mir schlafen,« schrie sie auf. Niemand nahm an den Worten Anstoss, so groß war die Erregung über den Offizier. Cornudet stiess seinen Schoppen so heftig zurück, dass er vom Tisch fiel und klirrend zersprang. Das war ein Geschimpf über diesen elenden Schmutzian, ein zorniges Gemurmel, eine einstimmige Aufforderung zur Standhaftigkeit, als ob von jedem Einzelnen ein Teil dieses Opfers verlangt worden wäre. Der Graf erklärte mit Abscheu, dass diese Leute da schlimmer hausten, wie die Barbaren, Die Frauen namentlich bezeugten Fett-Kloss eine warme wohltuende Teilnahme. Die Ordensschwestern, die nur zu den Mahlzeiten unten erschienen, hatten den Kopf gesenkt und sagten nichts.
Als der erste Zorn verraucht war, setzte man sich nichtsdestoweniger zu Tische; aber alle waren einsilbig und nachdenklich.
Die Damen zogen sich frühzeitig zurück. Die Herrn, die nun sämtlich rauchten, arrangierten eine Partie Ecarté, zu der auch Herr Follenvie aufgefordert war. Man gedachte bei dieser Gelegenheit ihn geschickt über die Mittel auszufragen, wie man den Eigensinn des Offiziers brechen könnte. Aber er war nur auf sein Spiel bedacht und gab zerstreute Antworten. »An’s Spiel, meine Herrn; an’s Spiel!« wiederholte er stets. Seine Aufmerksamkeit war so gefesselt, dass er sogar das Ausspucken vergass, obgleich sich wahre Orgeltöne in seiner Brust entwickelten. Seine keuchende Kehle gab die ganze Skala des Asthma’s, von den höchsten bis zu den niedrigsten Noten wieder.
Sogar als seine Frau, die vor Müdigkeit umfiel, ihn holen wollte, weigerte er sich mit heraufzugehen. Da ging sie allein, denn sie pflegte früh als die erste mit der Sonne aufzustehen, während ihr Mann ein Nachtvogel war, der bis zur spätesten Stunde gern mit Bekannten aufzubleiben pflegte. »Leg’ mir mein Federbett an den Ofen,« rief er ihr nach und wandte sich dann wieder den Karten zu. Als man endlich einsah, dass aus ihm nichts herauszukriegen war, erklärte man, es sei Zeit zum Schlafengehen; und jeder suchte sein Bett auf.
Am anderen Morgen war alles bei Zeiten auf; man hegte eine unbestimmte Hoffnung, ein noch grösseres Verlangen nach der Abreise, einen Schrecken vor einem zweiten langweiligen Tage in dieser kleinen Herberge.
Aber ach! die Pferde blieben im Stalle, der Kutscher war nirgends zu sehen. Müssig umstand alles den Wagen.
Das Frühstück verlief sehr traurig. Gegen Fett-Kloss war eine gewisse Erkältung eingetreten; denn in der Nacht, die so manchen Ratschluss birgt, hatte man seine Ansicht etwas gemässigt. Man war jetzt fast ärgerlich gegen dieses Mädchen, weil sie es nicht verstanden hatte, heimlich dem Preussen zu Willen zu sein. Welch angenehme Überraschung wäre das am Morgen für ihre Reisegefährten gewesen. Was konnte es einfacheres geben? Wer hätte übrigens etwas davon erfahren? Warum konnte sie nicht den Schein wahren, und dem Offizier sagen, dass sie nur der Not weichend sich ihm ergebe? Übrigens für sie war das doch überhaupt nur nebensächlich.
Aber noch sprach niemand seine Gedanken offen aus.
Am Nachmittage, als man sich zum Sterben langweilte, schlug der Graf einen Spaziergang in der Umgegend vor. Jeder hüllte sich sorgfältig ein und die kleine Gesellschaft trat ihren Weg an, ausser Cornudet; der den Platz am Feuer vorzog, und den beiden Schwestern, die ihre Zeit in der Kirche oder der Pfarrwohnung zubrachten.
Die Kälte, die von Tag zu Tag intensiver wurde, prickelte ihnen empfindlich in Nase und Augen; jeder Schritt wurde ihren kalten Füssen zur Plage. Als sie nun draussen das weite Feld vor sich sahen, erschien ihnen die unbegrenzte weiße Fläche so öde und traurig, dass man sofort wieder den Rückweg einschlug.
Die vier Damen gingen voraus, während die drei Herren in einiger Entfernung folgten.
Loiseau, der die Lage erfasst hatte, fragte plötzlich, ob »dieses Mädchen da« sie noch lange in dieser Patsche sitzen lassen wollte. Der Graf, stets ritterlich, erklärte, man könne von einem Weibe ein solches Opfer nicht verlangen, es müsse von ihr selbst ausgehen. Herr Carré-Lamadon meinte, dass wenn die Franzosen, wie verlautete, einen Offensiv-Rückstoss von Dieppe aus machen würden, so könne das Treffen entschieden nur bei Tôtes stattfinden. Diese Ansicht machte die anderen bedenklich. »Ob man sich nicht zu Fuss davon machen wollte?« meinte Loiseau wieder. Der Graf zuckte die Achseln. »Woran denken Sie bei dem Schnee? Mit unseren Frauen? Und dann würde man sofort die Verfolgung aufnehmen, uns einholen, und als Gefangene der Gnade und Ungnade der Soldateska überliefern.« Das war richtig und man schwieg.
Die Damen sprachen von Toilette; aber ein gewisser Zwang schien auf ihnen zu lasten.
Plötzlich an der Strassenecke erschien der Offizier. Sein hoher schlanker Wuchs hob sich bei dem lichten Schnee noch deutlicher ab; er ging mit gebogenen Knien mit jener eigentümlichen Haltung der Soldaten, die ihre sorgfältig gewichsten Stiefel nicht beschmutzen wollen.
Er grüsste flüchtig die Damen und sah hochmütig auf die Herrn, welche übrigens noch Selbstgefühl genug besassen, den Hut nicht zu lüften, wenngleich Loiseau schon mit der Hand nach dem Kopfe fuhr.
Fett-Kloss war bis über die Ohren rot geworden; den drei Frauen war es ein peinliches Gefühl, von dem Offizier so in Gesellschaft dieser Prostituierten getroffen zu werden, gegen die er sich so unritterlich benommen hatte.
Das Gespräch drehte sich jetzt natürlich um ihn, um seine Haltung, sein Gesicht. Madame Carré-Lamadon, die ja viel mit Offizieren verkehrte und sie als Kennerin beurteilte, fand ihn durchaus nicht übel. Sie bedauerte sogar, dass er kein Franzose sei. Er würde jedenfalls einen hübschen Husaren abgegeben haben, in der alle Damen sich vernarrt hätten.
Zu Hause angekommen wusste man wieder nicht, was beginnen. Scharfe Worte fielen sogar wegen ganz nebensächlicher Dinge. Das Diner verlief rasch und fast schweigsam. Jeder ging bald zu Bett, in der Hoffnung die Zeit mit Schlafen totzuschlagen.
Am anderen Morgen erschien alles mit abgespannten Mienen und in verdriesslicher Stimmung. Die Damen sprachen kaum noch mit Fett-Kloss.
Eine Glocke läutete; in der Kirche fand eine Taufe statt. Fett-Kloss hatte ein Kind, das bei Landleuten in Yvetot aufgezogen wurde. Sie sah es das ganze Jahr nicht und dachte kaum daran; aber der Gedanke an die stattfindende Taufe erweckte plötzlich in ihr ein heftiges zärtliches Verlangen nach demselben. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen bei der Taufe zugegen zu sein.
Sobald sie fortgegangen war, sahen sich alle an: man steckte die Köpfe zusammen, denn man fühlte unwillkürlich, dass jetzt endlich eine Entscheidung eintreten müsse. Loiseau hatte einen Einfall: Man sollte dem Offizier vorschlagen, Fett-Kloss allein da zu behalten und die übrigen abreisen zu lassen.
Herr Follenvie übernahm diesen Auftrag, aber er war im Handumdrehen wieder da. Der Deutsche, der sichtlich Menschenkenner war, hatte ihn einfach an die Luft gesetzt. Es blieb dabei, allen die Abreise zu versagen, wenn sein Wunsch nicht erfüllt würde.
Da brach die pöbelhafte Gesinnung der Madame Loiseau sich endlich Bahn. »Wir können hier doch nicht bis zu unserem Ende bleiben. Da dieses Mädchen nun einmal ein Geschäft daraus macht, mit aller Welt zu gehn, so finde ich es sehr lächerlich, wenn sie sich jetzt ziert. In Rouen nahm sie alles mit, was kam, und wenn es ein Kutscher war! Allerdings, Madame, z. B. den Kutscher von der Präfektur! Ich weiß es genau; er kaufte seinen Wein bei uns. Und heute, wo es sich darum handelt, uns aus der Verlegenheit zu reissen, spielt sie die Spröde, diese Rotznase …! Ich finde meinerseits, dass dieser Offizier sich sehr anständig benimmt. Er hat jedenfalls längere Zeit schon fasten müssen; und da wären wir drei Frauen ihm doch jedenfalls noch lieber gewesen. Aber nein; er begnügt sich mit diesem Allerwelts-Mädchen. Er hat Rücksicht gegen die verheirateten Damen. Bedenken Sie nur, dass er der Herr ist. Er braucht nur zu sagen: »Ich will,« und seine Soldaten schleppen uns mit Gewalt zu ihm hin.«
Ein Schauder durchrieselte die beiden anderen Damen. Die Augen der hübschen Madame Carré-Lamadon glänzten und sie war ordentlich blass geworden, als befände sie sich schon in der Gewalt des Offiziers.
Die Herren, welche sich etwas abseits besprochen hatten, kamen näher heran. Loiseau, ganz ausser sich, wollte diese »Elende« an Händen und Füssen gebunden, dem Feinde ausliefern. Aber der Graf, der eine angeborene Diplomaten-Natur besass, denn seine Vorfahren waren durch drei Generationen bei der Gesandtschaft gewesen, liebte nicht die Gewalt. »Sie muss selbst die Entscheidung treffen« sagte er.
Nun schmiedete man einen Plan.
Die Damen drängten sich zusammen, ihre Stimmen wurden leise, und jeder gab in der allgemeinen Beratung seine Ansicht kund. Es war übrigens sehr amüsant. Diese Damen fanden die sonderbarsten Redewendungen, die zartesten Ausdrücke, um die schmutzigsten Dinge zu sagen. Ein Uneingeweihter würde nichts verstanden haben; so vorsichtig deutete man alles an. Aber da die leichte Schamhülle, welche jede Frau von Welt besitzt, nur die äussere Oberfläche bedeckt, so gefielen sie sich eigentlich in diesem närrischen Abenteuer; es machte ihnen im Grunde des Herzens riesigen Spaß. Sie plauderten von Liebessachen, mit den schnalzenden Lippen eines Koches, der ein leckeres Souper bereitet.
Ihre Munterkeit kehrte von selbst zurück, so scherzhaft erschien ihnen schliesslich die ganze Geschichte. Der Graf fand sogar den Mut zu einigen riskanten Witzen, die aber so fein gegeben waren, dass alles lächelte.
Loiseau fand schon etwas derbere Ausdrücke, aber man war ihm nicht böse darob. Und der Gedanke, den seine Frau so rücksichtslos ausgesprochen hatte: »Wenn es das Geschäft dieses Mädchens nun einmal ist, warum macht sie hier eine Ausnahme?« beherrschte sie alle. Die reizende Madame Carré-Lamadon schien sogar heimlich zu denken, dass sie an jener ihrer Stelle hier am wenigsten eine Ausnahme machen würde.
Man durchdachte sorgfältig den Angriffsplan, wie bei einer belagerten Festung. Jeder prägte sich die Rolle ein, die er zu spielen hatte, die Beweise, die er vorbringen wollte, die Kunstgriffe, die er anwenden musste. Man ordnete den Angriff, die Kampfesmittel und den Sturm, um diese lebende Feste zu zwingen, den Feind aufzunehmen.
Nur Cornudet hielt sich abseits; er stand dieser Sache ganz fremd gegenüber.
Man war so in der Verteilung der Rollen vertieft, dass man Anfang nicht bemerkte, wie Fett-Kloss aus der Kirche zurückkam. Aber ein leises »Pst« des Grafen warnte sie noch rechtzeitig. Bei ihrem Erscheinen schwieg plötzlich alles still und eine gewisse Verlegenheit hielt anfangs jeden ab, sie anzureden. »War es hübsch bei der Taufe?« fragte endlich die Gräfin, welche durch ihre Erziehung mehr an die Doppelzüngigkeit des Salons gewöhnt war.
Fett-Kloss, noch ganz bewegt, schilderte alles, sowohl die Gesichter als die Haltung der Einzelnen; sogar das Innere der Kirche. »Es tut einem zuweilen so gut, zu beten,« fügte sie hinzu.
Bis zum Frühstück bemühten sich die Damen liebenswürdig gegen sie zu sein, um sie vertrauensseliger und für ihre Vorschläge zugänglicher zu machen.
Bei Tisch begann man sofort die Annäherungsversuche. Zunächst führte man ein allgemeines Gespräch über den Opfermut. Man führte Beispiele aus alter Zeit an: Judith und Holofernes, dann, ohne rechte Veranlassung Lucrecia und Sextus; Kleopatra, die ihre zahlreichen Feinde einen nach dem anderen in ihrem Bett zu ihren Sklaven umwandelte. Dann tischte man eine Geschichte auf, so fantastisch, wie sie nur im Gehirn dieser unwissenden Millionäre entstehen konnte, wonach nämlich die Römerinnen bei Kapua den Hannibal und mit ihm seine Lieutenants und die Scharen seiner Söldner in ihren Armen eingeschläfert hätten. Man führte der Reihe nach alle Frauen an, die einen Eroberer auf seiner Siegeslaufbahn abhielten, ihren Leib zum Schlachtfeld machten, ihn als Waffe, als Mittel der Herrschaft verwendeten und durch ihre heroischen Liebesopfer die Welt von einem verhassten schändlichen Wesen befreiten; die ihre Keuschheit der Rache und der Pflicht opferten.
Man sprach sogar mit verschleierten Ausdrücken von jener vornehmen Engländerin, die sich eine furchtbare ansteckende Krankheit einimpfen ließ um sie auf Bonaparte zu übertragen, der nur durch ein Wunder der Ansteckung entging, indem ihm zur Stunde des gefährlichen Rendezvous plötzlich die Manneskraft fehlte.
Alles dieses erzählte man in ganz leichter und zufälliger Weise; nur zuweilen brach man absichtlich in lauten Beifall aus, um zur Nacheiferung anzuspornen. Man hätte schliesslich glauben sollen, dass die einzige Aufgabe der Frau hier auf Erden, ein ewiges Opfer ihrer Person, eine beständige Hingabe an die Launen der Soldateska sei.
Die beiden Ordensschwestern schienen nichts zu verstehen; sie waren in tiefe Gedanken versunken. Fett-Kloss sagte nichts.
Man ließ ihr den Nachmittag über Zeit zum Nachdenken. Aber statt sie, wie bisher »Madame« zu nennen, sagte man jetzt »mein Fräulein« zu ihr, ohne dass man sich selbst über den Grund dazu Rechenschaft gab. Aber es war, als hätte man die Achtung vor ihr um einen Grad heruntersetzen, ihr das Gefühl ihrer Schande näher legen wollen.
In dem Augenblick, wo die Suppe aufgetragen wurde, erschien Herr Follenvie. »Der preussische Offizier lässt Fräulein Elisabeth Rousset fragen, ob sie ihre Ansicht noch nicht geändert hat?« wiederholte er seine stehende Phrase.
»Nein, mein Herr,« antwortete Fett-Kloss trocken. Aber beim Essen fiel die Gesellschaft aus der Rolle. Loiseau brachte einige schlechtgewählte Redensarten vor. Jeder klopfte sich an die Stirn und suchte nach irgendwelchen neuen Beispielen, als die Gräfin, ohne Überlegung vielleicht, in dem unbestimmten Bedürfnisse Trost in der Religion zu suchen, die ältere der Ordensschwestern nach den großen Taten aus dem Leben der Heiligen fragte. Da hatten freilich manche von ihnen Dinge begangen, die nach unseren Begriffen ein Verbrechen gewesen wären. Aber die Kirche billigte zweifelsohne solche Dinge, wenn sie zur Ehre Gottes oder zum Heile des Nächsten vollbracht waren. Das war ein kräftiges Argument, von dem die Gräfin ihren Nutzen zog. Jedenfalls brachte ihr die Schwester einen ganz unverhofften mächtigen Beistand, mochte sie nun beabsichtigt haben ihr zu helfen, oder mochte sie rein ohne das geringste Verständnis für die Sachlage ihre Meinung aussprechen. Was sie da sagte war über jeden Zweifel erhaben; ihr Glaube war unerschütterlich wie ein Fels; ohne Zögern, ohne Gewissensbisse gab sie ihre Opferwilligkeit zu erkennen. Sie begriff das Opfer Abrahams, wie sie sagte, vollständig; denn sie würde unbedingt Vater und Mutter töten, wenn sie den Befehl des Himmels dazu erhielte. Ihrer Meinung nach könne Gott nichts missfallen, was zu einem löblichen Zwecke geschehe. Die Gräfin hatte ihren Vorteil wahrgenommen, und sie, ohne dass sie es merkte, eine erbauliche Umschreibung des alten Grundsatzes »der Zweck heiligt die Mittel« ausführen lassen.
»Sie denken also Schwester,« fragte sie »dass Gott jedes Opfer annimmt, und die Tat verzeiht, wenn der Beweggrund ein reiner ist?«
»Wer wollte das bezweifeln, Madame? Eine an sich tadelnswerte Handlung wird durch die Absicht, die uns leitet, verdienstlich.«
So fuhren sie noch lange fort, den Willen Gottes auseinanderzusetzen, seine Entscheidungen gewissermassen vorweg zu nehmen; sie schrieben ihm schliesslich ein Interesse an Dingen zu, die ihn in der Tat gar nichts angingen.
Alles dieses war natürlich geschickt verschleiert; aber jedes Wort der ehrwürdigen Schwester legte eine Bresche in die Widerstandskraft der Prostituierten. Dann lenkte die Unterhaltung sich auf das Ordenshaus, die Oberin, die Schwester selbst und ihre kleine Nachbarin, die Schwester Nicephora. Man hatte sie nach Havre berufen, um dort im Lazareth die Pflege der Blatternkranken zu übernehmen. Sie beschrieb das Aussehen dieser armen Soldaten und schilderte alle Einzelnheiten der Krankheit. Und während sie nun durch die Laune dieses Preussen zurückgehalten würden, stürbe vielleicht eine ganze Anzahl Franzosen, die durch ihre Pflege hätten gerettet werden können. Die Pflege kranker Soldaten sei ihre Spezialität. Sie wäre in der Krim, in Italien, in Österreich mitgewesen. Während sie so ihren Reisegefährten erzählte, entpuppte sie sich vor deren Augen plötzlich als eine jener wackren mutigen Ordensfrauen, die dafür geschaffen zu sein scheinen, im Kampfgewühl die Verwundeten aufzuheben und mit einem Wort die rohesten Schmierfinken zum Gehorsam zu bringen. Sie war eine echte Schwester Ra-ta-plan, deren gefurchtes mit zahllosen Löchern bedecktes Gesicht selbst ein Bild der Verwüstung des Krieges bot.
Als sie geendet hatte, sprach keiner ein Wort; so ausgezeichnet schienen ihre Ausführungen gewirkt zu haben.
Sofort nach dem Essen begab man sich schnell hinauf und erst ziemlich spät am anderen Morgen kamen die Reisenden wieder zusammen.
Das Frühstück verlief ruhig. Man wollte das Samenkorn, das die alte Schwester ausgestreut hatte, erst aufgehen lassen, um dann die Frucht umso besser einzuheimsen.
Die Gräfin schlug Nachmittags einen Spaziergang vor. Wie verabredet, nahm der Graf den Arm von Fett-Kloss und blieb mit ihr etwas hinter den anderen zurück.
Er sprach mit ihr in vertraulichem, väterlichem etwas herablassendem Tone, wie ihn gesetzte Herren bei solchen Mädchen gern anwenden. Er nannte sie »mein Kind,« behandelte sie zugleich aber ein wenig von oben herab, sich mit seiner unbestreitbaren Ehrenhaftigkeit brüstend.
»Sie ziehen also vor,« sagte er direkt auf sein Ziel lossteuernd, »uns mit Ihnen zugleich all den Gewalttätigkeiten auszusetzen, die eine Schlappe der preussischen Truppen zur Folge haben muss, statt in eine jener kleinen Gefälligkeiten einzuwilligen, die Sie doch sonst im Leben so oft gewährt haben?«
Fett-Kloss antwortete nichts.
Jetzt fasste er sie bei ihrer Gutherzigkeit, bei ihrer Vernunft, bei ihrem weichen Gemüt an. Er selbst wisse recht gut, stets der »Herr Graf« zu bleiben und doch dabei höflich, entgegenkommend und liebenswürdig zu sein, wenn es erforderlich wäre. Er pries den Dienst, den sie ihnen leisten würde, und sprach von ihrer Erkenntlichkeit. »Und dann weißt Du, mein Kind,« fuhr er sie plötzlich duzend fort, »er dürfte sich rühmen, ein Mädchen besessen zu haben, wie er sie bei sich zu Hause wohl selten finden wird.«
Fett-Kloss antwortete wieder nichts und eilte der Gesellschaft nach.
Sobald sie wieder zu Hause kamen, flüchtete sie auf ihr Zimmer und kam nicht wieder zum Vorschein. Unten war man in der höchsten Aufregung«. Was würde sie beginnen? Welch ein Missgeschick, wenn sie sich endgültig weigern würde.
Zu Diner-Stunde erwartete man sie vergeblich. Herr Follenvie erschien und verkündete, dass Fräulein Rousset sich unwohl fühle und man sich nur zu Tische setzen möchte. Alles spitzte die Ohren. »Ist es so weit?« fragte der Graf den Wirt ganz leise. »Jawohl.« Er hütete sich seinen Gefährten laut etwas zu sagen; aber er machte ihnen ein leichtes Zeichen mit dem Kopfe. Ein Seufzer der Erleichterung entstieg jeder Brust; alle Gesichter hellten sich auf. »Sapperlot!« schrie Loiseau »ich gebe Sekt, wenn es hier welchen gibt,« Madame Loiseau fiel vor Schreck fast auf den Rücken, als gleich darauf der Wirt mit vier Flaschen unterm Arm zurückkam. Jeder war jetzt lustig und mitteilsam geworden; eine ausgelassene Freude bewegte aller Herzen. Dem Grafen erschien jetzt plötzlich Frau Carré-Lamadon reizend und der Fabrikant sagte der Gräfin allerlei Artigkeiten. Die Unterhaltung wurde lebhaft und mit allerlei Scherzen gewürzt.
»Still!« rief plötzlich Loiseau mit ängstlicher Miene die Hände aufhebend. Alles schwieg überrascht, beinahe erschreckt. Dann spitzte er die Ohren machte »Pst« mit beiden Händen, hob die Augen zur Decke empor, lauschte nochmals und sagte dann seine gewöhnliche Miene wieder annehmend: »Beruhigen Sie sich; es geht alles gut.«
Man verstand ihn zuerst nicht; aber dann fing alles an zu lachen.
Nach einer halben Stunde wiederholte er denselben Witz und so mehrmals noch im Verlaufe des Abends. Er tat als ob er jemand im oberen Stock anriefe, ihm zweideutige gute Ratschläge gebe, wie sie in seinem Weinreisenden-Gehirn entstanden. Zuweilen murmelte er auch ein »Armes Mädchen!« zwischen den Zähnen, oder er rief: »Infamer Preusse, pack Dich.« Hin und wieder, wenn niemand daran dachte, rief er mit zitternder Stimme: »Genug, genug!« und fügte wie im Selbstgespräch hinzu: »Hoffentlich sehen wir sie noch wieder; wenn er sie nur nicht umbringt, der Elende!«
Obschon diese Scherze wahrhaftig recht geschmacklos waren, so amüsierte sich doch alles und keiner nahm sie ihm übel. Denn die Entrüstung richtet sich unwillkürlich nach der Umgebung, und bei jenen war die Luft allmählich mit zweideutiger Vorstellungen geladen.
Beim Dessert fingen sogar die Damen an geistreiche pikante Anspielungen zu machen, ihre Augen glänzten nach dem reichlichen Weingenusse. Der Graf, der selbst bei solchen Gelegenheiten sein würdevolles Benehmen zu wahren wusste, brachte einen geistreichen Vergleich über das Ende eines Winteraufenthaltes am Nordpol und die Freude der Schiffbrüchigen, welche den Weg nach dem Süden wieder offen sahen.
»Ich trinke auf unsere Befreiung,« rief Loiseau etwas angetrunken sein Glas erhebend. Alle sprangen auf und stiessen an. Selbst die beiden Ordensschwestern liessen sich durch die Heiterkeit der anderen Damen verleiten, von dem Champagner zu kosten, den sie noch nie getrunken hatten. Sie meinten, er schmecke wie Brauselimonade, nur viel feiner.
»Schade, dass kein Klavier vorhanden ist«; meinte Loiseau, »sonst könnten wir eine Quadrille tanzen.«
Cornudet hatte fast kein Wort gesprochen und kaum eine Miene verzogen. Er schien vielmehr in ernste Gedanken versunken und zerrte zuweilen mit grimmiger Miene an seinem großen Barte, als wollte er ihn noch länger ziehen. Als man endlich um Mitternacht aufbrach, patschte ihm Loiseau, der etwas turkelig war, auf den Bauch und sagte lallend: »Sie sind heute nicht bei Laune, Bürger; »Sie sprechen ja kein Wort.« Cornudet drehte sich unwillig herum, mass die Gesellschaft mit einem zornigen wilden Blick und sagte: »Ich erkläre Ihnen offen, dass Sie eine große Gemeinheit begangen haben.« Er stand auf, und ging hinaus fortwährend »eine große Gemeinheit!« murmelnd.
Im ersten Augenblick war man verblüfft. Selbst Loiseau stierte mit dummen Augen vor sich hin. Aber dann gewann er seine muntere Stimmung wieder und sagte plötzlich lachend: »Sie sind zu sauer, ja, zu sauer.« Als man ihn nicht verstand, erzählte er »die Geheimnisse des Ganges«, wobei er sich vor Lachen ausschütten wollte. Auch die Damen amüsierten sich köstlich. Der Graf und Frau Carré-Lamadon lachten Tränen. Sie fanden es unglaublich.
»Wie? Sie wissen gewiss? Er wollte …«
»Ich sage Ihnen ja, dass ich es gesehen habe.«
»Und sie hat sich geweigert?«
»Weil der Preusse im Zimmer nebenan wohnt.«
»Unmöglich!«
»Mein Wort darauf.«
Der Graf erstickte fast; der Fabrikant hielt sich den Bauch mit beiden Händen.
»Und deshalb, wissen Sie«, fuhr Loiseau fort, »ist er heute Abend nicht zufrieden mit ihr, durchaus nicht zufrieden.«
Alle drei brachen auf, sie waren krank vor Lachen und glaubten nicht mehr weiter zu können.
Oben trennte man sich. Beim Zubettgehen machte Madame Loiseau ihren Mann darauf aufmerksam, dass dieses »Kücken,« wie Sie die kleine Madame Carré-Lamadon nannte, den ganzen Abend vor Neid vergangen sei. »Du weißt, dass die Frauen, die es nun einmal mit der Uniform halten, es eben so gern sich vom Preussen wie Franzosen gefallen lassen. Großer Gott! Ist das nicht eine Schande?«
Und die ganze Nacht durch hörte man auf dem Gange allerhand leichte, kaum wahrnehmbare Geräusche, wie Seufzer, wie das Tappen von blossen Füssen, wie ein leises Knacken. Jedenfalls schien die Gesellschaft spät einzuschlafen, denn noch lange schimmerte Licht unter den Türritzen her. Der Champagner hat so seine Eigentümlichkeiten. Er soll einen unruhigen Schlaf verursachen.
Am anderen Morgen strahlte die Sonne hell über die glänzende Schneedecke. Der Omnibus stand nun endlich bespannt vor der Türe. Eine Schar weißer Tauben, die dichten Federn aufwärts sträubend, mit rotem, in der Mitte schwarz punktiertem Auge, wandelte gravitätisch zwischen den Beinen der sechs Pferde umher und suchte ihre Nahrung in dem rauchenden Dünger derselben.
Der Kutscher in dichtem Schafspelz rauchte auf dem Bock sein Pfeifchen, und die Reisenden waren beschäftigt, ihre Vorräte für den Rest des Weges unterzubringen.
Man wartete nur noch auf Fett-Kloss. Endlich erschien sie.
Sie war etwas ängstlich und verlegen; schüchtern näherte sie sich ihren Reisegefährten, welche sich alle gleichzeitig umwandten, als hätten sie sie nicht bemerkt. Der Graf nahm würdevoll den Arm seiner Gattin und führte sie hinweg, wie um sie vor einer unreinen Berührung zu bewahren.
Überrascht blieb Fett-Kloss stehen. Dann näherte sie sich, all’ ihren Mut zusammennehmend, mit einem leise gemurmelten »Guten Morgen, Madame!« der Frau des Fabrikanten. Die andere nickte hochmütig ein wenig mit dem Kopfe und begleitete diesen Gruss mit einem Blick beleidigter Tugend. Alle Welt schien beschäftigt und hielt sich von ihr fern, als trüge sie in ihren Kleidern einen Ansteckungsstoff mit sich herum. Dann stürzte man sich auf den Wagen, wo sie allein als letzte ankam und stillschweigend ihren alten Platz wieder einnahm.
Man schien sie nicht zu kennen; aber Frau Loiseau, die sie mit Entrüstung von weitem betrachtete, sagte zu ihrem Gatten: »Glücklicherweise sitze ich nicht neben ihr.«
Der große Kasten setzte sich in Bewegung und die Reise begann aufs Neue.
Anfangs stockte das Gespräch. Fett-Kloss wagte nicht die Augen aufzuschlagen. Sie fühlte sich ebenso entrüstet über das Benehmen ihrer Reisegefährten, wie erniedrigt durch den Gedanken sich hingegeben zu haben, beschmutzt zu sein durch die Küsse dieses Preussen, in dessen Arme man sie gewaltsam geführt hatte.
»Sie kennen, glaube ich, Madame d’Étrelles?« unterbrach die Gräfin zu Frau Carré-Lamadon gewendet plötzlich das allgemeine Schweigen.
»Jawohl; es ist eine Freundin von mir.«
»Welch’ ausgezeichnete Frau!«
»Bezaubernd. Wirklich eine seltene Erscheinung, sehr gebildet übrigens und Künstlerin bis auf die Fingerspitzen. Sie singt brillant und zeichnet wunderhübsch.«
Der Fabrikant plauderte mit dem Grafen und zwischen dem Klirren der Fensterscheiben hörte man zuweilen die Worte: »Kupon – Wechsel – auf Ziel – Prämie.«
Loiseau, der das alte, im Laufe von fünf Jahren schwarz gewordene Kartenspiel aus dem Hotel mitgenommen hatte, begann mit seiner Frau eine Partie Besigue.
Die beiden Schwestern beteten wieder ihren Rosenkranz, machten zusammen das Kreuzzeichen, und plötzlich begannen ihre Lippen sich rascher zu bewegen; sie beeilten sich ihr Gebet zu beenden. Von Zeit zu Zeit küssten sie eine Medaille, bekreuzigten sich aufs Neue, und begannen dann abermals ihr unausgesetztes schnelles Geflüster.
Cornudet träumte still vor sich hin.
Nach Verlauf von drei Stunden räumte Loiseau die Karten zusammen. »Ich werde hungrig«, sagte er.
Seine Frau holte ein zusammengeschnürtes Packet hervor, dem sie ein Stück Kalbsbraten entnahm. Sie schnitt feine Scheibchen davon herunter und alle beide begannen zu essen.
»Ich dächte, wir machten es auch so,« sagte die Gräfin. Man stimmte ihr bei, und sie packte die Lebensmittel für die beiden anderen Familien aus. Es kam eines jener langen Gefässe zum Vorschein, auf deren Porzellandeckel ein Hase abgebildet ist zum Zeichen, dass sich eine Hasen-Pastete darunter befindet, ein leckeres Gericht, wo weiße Fettstreifen die braunen, mit feingehacktem anderen Fleisch vermischten Stücke des Wildprets durchziehen. Dann kam noch ein hübsches Stück Schweizerkäse, in ein Journal eingewickelt, von dem die Überschrift »Vermischtes« an der feuchten Kruste haften geblieben war.
Die beiden Schwestern packten ein Stück Schlackwurst aus, das stark nach Knoblauch roch. Cornudet, der mit beiden Händen gleichzeitig in seine Rocktaschen langte, zog aus der einen vier harte Eier und aus der anderen ein Stück Brot hervor. Er löste die Schale, warf sie vor seinen Füssen ins Stroh und biss währenddem in ein Ei, wobei gelbe Krümchen in seinen großen Bart fielen und dort wie Sterne haften blieben.
Fett-Kloss hatte bei der Hast, mit der sie ihr Frühstück verzehrt hatte, an nichts denken können. Vor Zorn keuchend, betrachtete sie jetzt alle die Menschen, die so behaglich assen. Anfangs ergriff sie ein wütender Ärger und sie öffnete schon den Mund, um ihnen unter einem Strom von Schmähungen ihre Gemeinheit vorzuwerfen, aber der Zorn erstickte sie, sodass sie nicht sprechen konnte.
Niemand sah sie an, niemand kümmerte sich um sie. Sie sah sich mit Verachtung von diesen ehrbaren Toren behandelt, die sie erst geopfert hatten und sie nun wie etwas unsauberes unnütziges bei Seite warfen. Sie dachte an ihren großen Korb mit Leckerbissen, die sie alle haufenweise verschlungen hatten, an ihre beiden geleeglänzenden Hühner, an ihre Pasteten, ihre Birnen, ihre vier Flaschen Bordeaux. Endlich riss ihr der Geduldsfaden und sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen kamen. Sie machte furchtbare Anstrengungen, gebrauchte ihr Schnupftuch, schluckte wie Kinder die Tränen herunter; aber sie kamen immer wieder, füllten ihre Augen, und bald rollten zwei große Tropfen über ihre Wangen. Immer weitere folgten und rannen wie Wassertropfen, die durch das Gestein sickern, auf die hochgewölbte Brust herab. Sie blieb mit starrem Blick, bleichen Antlitzes gerade sitzen, in der Hoffnung, dass man sie nicht anschauen würde.
Aber die Gräfin hatte es bemerkt, und machte ihrem Manne ein Zeichen. Er zuckte die Achseln, als wenn er sagen wollte: »Was willst Du; ich kann nichts dafür. Madame Loiseau hatte ein stilles triumphierendes Lächeln.
»Sie weint über ihre Schande,« murmelte sie.
Die beiden Schwestern hatten ihr Gebet wieder aufgenommen, nachdem sie den Rest der Schlackwurst wieder eingewickelt hatten.
Cornudet, der seine Eier verdaute, streckte seine langen Beine bis unter die Bank auf der anderen Seite, legte sich zurück, kreuzte die Arme, lächelte wie jemand, dem plötzlich ein guter Witz einfällt und summte die »Marseillaise« vor sich hin.
Alle Gesichter verfinsterten sich. Dieses Volkslied gefiel seinen Nachbarn entschieden nicht. Sie wurden nervös, reizbar und sahen aus, als ob sie heulen wollten wie die Hunde bei den Tönen eines Leierkastens. Er bemerkte es; aber nun hörte er erst recht nicht auf. Zuweilen ließ er ganz laut die Worte erklingen:
Heilige Liebe des Vaterlandes
Führe, stütze unsern Rächerarm,
Freiheit, teure Freiheit,
Kämpf mit Deiner Streiter Schwarm!
Da der Schnee hart geworden war, fuhr man viel schneller. Bis Dieppe, während der langen trüben Fahrt, zwischen den Stössen des Wagens, beim Anbruch des Abends bis in der tiefsten Finsternis, setzte er sein einförmiges Rachelied in wildem Eigensinne fort. Er zwang sie förmlich, mit ihrem müden Geiste seinem Gesange von Anfang bis zu Ende zu folgen, sich jedes einzelne der bis zum Überdruss gehörten Worte einzuprägen.
Fett-Kloss weinte immer weiter. Zuweilen ertönte zwischen den einzelnen Strophen in der Finsternis ein lautes Aufschluchzen, das sie nicht hatte zurückhalten können.
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